Interviews

Lize Spit zu ihrem Roman »Der ehrliche Finder«

Eine Freundschaft ist etwas, das bleibt. Sagen wir, und schauen manch einer Freundschaft dabei zu, wie sie vergeht. Eine Freundschaft bringt Glück, denken wir. Und vergehen manchmal vor Unglück über unsere besten Freunde. »Der ehrliche Finder« ist der dritte Roman von Lize Spit, in dem sie von diesen zwei Seiten erzählt, die eine Freundschaft mindestens hat: Glück und Unglück, Euphorie und Angst, Konstanz und Vergänglichkeit. Wir haben sie gefragt, was sie von der Freundschaft hält und welche Objekte für ihre Freundschaften stehen; wie sie zu der Geschichte und den Figuren ihres Romans gekommen ist und ob ihre Worte die Stille zwischen ihnen füllen können. Und sie hat geantwortet mit Fotos, großem Herz und unvergleichlicher Offenheit.

Magazin Lize Spit Teaser 114

Wie ist Der ehrliche Finder zu Dir gekommen – wie bist Du auf diese Geschichte gestoßen?

Mitte der 90er Jahre gab es in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, eine große Scheune, die als Lager diente. Im Dorf war sie als »Klein-Kosovo« bekannt, weil in dem Haus daneben lange Zeit eine Familie lebte, die aus dem Kosovo geflüchtet war. Eine der Töchter war meine beste Freundin, und wir schlichen uns oft in die Scheune. Es fühlte sich an, als würden wir durch die Phantasie eines anderen Menschen laufen, so vollgestellt war die Scheune mit ebenso absurden wie alltäglichen Objekten, die von Kochgeräten über einen Sarg zu Kartons voller Büromaterial reichte.

Die geflüchtete Familie, die im Krieg ihren ganzen Besitz verloren hatte, lebte nun gleich neben einer Scheune voll überflüssigen Gerempels. Das ist so bezeichnend, dass ich es als Autorin nicht ignorieren konnte. An diesen Ort zurückzukehren, in die Atmosphäre der 90er Jahre, meine Vorstellungskraft auf die Scheune loszulassen – das hat mir großen Spaß gemacht.

Mit meiner kosovarischen Freundin hat mich eine enge, zu Beginn beinahe sprachlose Freundschaft verbunden. Aber weil ihre Familie einen Asylantrag stellen musste, war nie klar, ob und wie lange sie bleiben durfte. Darüber wollte ich schreiben: Die Zerbrechlichkeit einer tiefgreifenden Freundschaft, die jederzeit auseinandergerissen werden kann. Was das den Kindern antut, und wie weit man bereit ist zu gehen, um sich nicht von jemandem verabschieden zu müssen.

 

Jimmy und Tristan verbindet eine besondere Freundschaft: Sie ist eng genug, um lebensverändernde Pläne zu machen, und doch fühlt es sich an, als könnte sie jederzeit zerbrechen. Wie kommt es zu so einer Freundschaft?

Das so schöne (und verdammt schwierige) an Freundschaft ist, dass sie nicht so eindeutig gekennzeichnet ist. Es gibt in der Freundschaft kein Pendant zum ersten Kuss. So ist sie ungeregelter, quecksilbriger – und zugleich kein bisschen weniger verbindlich.

Ich glaube, dass nur solche Freundschaften möglich sind, in denen man sich verändern darf und manchmal auch abwesend sein kann. Es gibt Freunde, die uns eine Weile begleiten, weil wir ihrer Anregungen bedürfen oder das gleiche Ziel haben. Und es gibt Freunde, an die uns eine innigere Bande knüpft, mit denen das Ziel darin besteht, immer gemeinsam auf dem Weg zu sein.

Jimmy und Tristan haben unterschiedliche Vorstellungen von ihrer Freundschaft. Tristan versteht Jimmys Anwesenheit immer schon als temporär, und sei es nur weil sein eigenes Kriegstrauma ihm dabei im Weg steht, sich vollständig in eine andere Person zu investieren. Er musste alles zurücklassen, auch seine Familie und seine Freunde, und so haben die Dinge ein anderes Gewicht, die Zeit eine andere Flüchtigkeit.

Jimmy wiederum hängt an Tristan so sehr, dass er ihre Freundschaft anfällig macht. Er ist derjenige, der am einsamsten ist, der alles zu verlieren hat, aber er verhält sich stets so, als sei Tristan derjenige, der ihn unbedingt braucht. Jimmy lebt die Freundschaft fanatisch aus, versteht sie als eine Sammlung, die er vervollständigen muss.

So stehen zwischen einem zehn- und einem zwölfjährigen mehr als zwei Jahre Altersunterschied.

 

Jimmy scheint selbst gegenüber Tristan, seinem besten Freund, kaum über sich selbst reden zu können, über seine Gefühle und seine Ängste. Füllen deine Worte, Lize, diese Stille?

Jimmy hat Angst vor der Erfahrung, dass Tristan einen besseren Freund als ihn selbst verdient. Deswegen macht Jimmy sich unsichtbar: So kann er Tristan zumindest nicht enttäuschen. Das Schöne an der Literatur ist, dass sie introvertierte Figuren so wunderbar ins Licht rücken, die Dinge, die sie riechen, die Assoziationen, die sie haben, erhellen kann. Ich versuche, beim Schreiben nicht zu psychologisieren, sondern die Umgebung in Jimmy zu versetzen. Wenn er Angst hat, nimmt er sein Umfeld anders war, als wenn er euphorisch ist.

Brief an den König

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Lize Spit
 

In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gab es eine Familie, die aus dem Kosovo geflüchtet war. Ich hatte eine enge Beziehung zu ihnen, als sie plötzlich abgeschoben werden sollten. Nur ihr jüngster, nach dem König benannter Sohn Albert durfte bleiben, weil er in Belgien geboren worden war. Die Dorfgemeinschaft stemmte sich gegen die Abschiebung, es gab eine Petition, abendliche Protestzüge. Ohne Erfolg. Schließlich schrieb ich einen Brief an die in meinen Augen mächtigste Person, die ich damals kannte: den König. „An den König in seinem Palast in Brüssel“, gab ich auf dem Umschlag als Adresse an. Der Brief wurde zugestellt, und ich bekam eine Antwort. Am Ende durfte die Familie in Belgien bleiben – und insgeheim glaubte ich, dass der Brief dazu beigetragen hatte.

Flippos

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Lize Spit
 

Flippos zu sammeln war in den 90ern ein riesiger Hype. Mein Bruder war ein begeisterter Flippo-Sammler, aber weil wir zuhause zu viert waren und es nur sonntags eine Packung Chips gab, in denen die Flippos waren, hätte ich als Sammlerin keine Chance gehabt. Ich sammelte also etwas anderes: Briefmarken.

Briefmarkensammlung

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Lize Spit
 

Sie thematisch zu sortieren – alle Vögel beieinander, alle Gebäude zusammen –, hat mich ermutigt und beruhigt: Mit zehn Jahren konnte die Welt größer und gemeiner sein, als man es sich ausgemalt hatte. Aber immerhin würde meine Sammlung bald komplett gewesen sein. Ein Kind kann seine Sammlung mit großer Ernsthaftigkeit betreiben, als ob es zum ersten Mal vom Erwachsensein schmeckt. Mit diesem Ernst habe ich meine Briefmarkensammlung regelmäßig auf dem Wohnzimmertisch abgestaubt und ausgestellt. Ich hatte eine Pinzette, ein Album, und sogar eine Reihe japanischer Briefmarken, und so kam ich mir sehr professionell vor. Meine seltensten Exemplare präsentierte ich in einer ausstaffierten Schmuckschatulle, als ob sie Millionen wert wären.

Schatzkiste

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Lize Spit
 

Seit der Grundschule habe ich mit meinen Freunden Briefe geschrieben. Zuhause habe ich eine große verzierte Schachtel, in der ich all diese Briefe aufhebe. Zusammen zeigen sie, wie wir aufgewachsen sind, was uns beschäftigt hat. In der Schachtel sind auch einige Freundschaftsbänder und Halsketten, die wir für einander gemacht haben.

Für Freundschaft stehen aber für mich nicht so sehr solche Objekte, sondern Versprechen ihrer Beständigkeit, wie etwa die Existenz meiner Patenkinder. Drei meiner engsten Freunde haben mich gefragt, die Patentante ihrer jüngsten Kinder zu sein. Dass sie mich so eng an ihr Leben binden wollen, ist für mich ein Zeichen, wie tiefgreifend unsere Freundschaft ist. Und nun kann ich einer kleinen Version meiner Freunde beim Aufwachsen zuschauen.

 

 

Lize Spit wurde 1988 geboren, wuchs in einem kleinen Dorf in Flandern auf und lebt heute in Brüssel. Sie schreibt Romane, Drehbücher und Kurzgeschichten. Ihr erster Roman »Und es schmilzt« stand nach Erscheinen ein Jahr lang auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste, gewann zahlreiche Literaturpreise und wurde in 15 Sprachen ...

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