Iris Gavric und Matthias Renger: Shitmoves

Shitmoves

Bestseller

Wie wir Manipulation erkennen und Menschen ehrlich für uns gewinnen

Shitmoves sind manipulative Techniken, die im Gespräch anstelle von sachlichen Argumenten zum Einsatz kommen, mit einem einzigen Zweck: gewinnen um jeden Preis. Und seien wir mal ehrlich: Wir alle haben schon mal den einen oder anderen Shitmove eingesetzt, sind Opfer oder Zeugen davon geworden. In der Beziehung, im Job, in Talkshows, im Supermarkt. Und wem das stinkt, für den ist dieses Buch goldrichtig.

Fast alle Probleme der Welt entstehen durch Kommunikation und lassen sich durch Kommunikation lösen. Einzige Voraussetzung: Wir dürfen nicht den Konflikt gewinnen wollen, sondern den Menschen. Sonst greifen wir früher oder später zu Shitmoves. Aber wie erkennt man die? Und wie reagiert man darauf? Solche und noch viel fragwürdigere Fragen zum Thema Manipulation beantwortet dieses Buch. Es sollte also besser nicht in die falschen Hände geraten.

Vom Erfolgs-Duo des Podcasts »Couple Of«

»Die beiden finden zwischen Ernsthaftigkeit und Humor immer die treffendsten Worte, bringen einen zum Nachdenken, zum Schmunzeln, zum Recherchieren, zum Weitererzählen.« Kristin Braband, Politik und Kultur

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Leseprobe

Kapitel 1: Warum Shitmoves?

SHITMOVES
[ʃɪtmu:vz]

(Subst. Plural) Manipulative Techniken, die im Gespräch anstelle von sachlichen Argumenten zum Einsatz kommen, mit einem einzigen Zweck: Gewinnen um jeden Preis.

1. Was ist überhaupt ein Shitmove? 

Eigentlich kennst du bereits die Antwort. Du hast nämlich selbst schon den einen oder anderen Shitmove abgezogen. Garantiert! Selbst wenn du in deiner Freizeit Friedensdemos organisieren oder gewaltfreie Kommunikation unterrichten solltest – in dem Fall wahrscheinlich sogar erst recht. Komm, gib’s ruhig zu, kein Mensch ist heilig.

Na, fühlt sich das leicht manipulativ an? Ist es auch. Du kennst dieses unangenehme Gefühl von Shitmoves, wenn du schon mal an einem Streit oder auch nur an einer etwas lebhafteren Diskussion beteiligt warst. Wenn du plötzlich in die Verlegenheit kommst, dich für etwas zu rechtfertigen, das du gar nicht so gesagt oder gemeint hast. Wenn deine Argumente, die in ihrer Klarheit doch total überzeugen müssten, offenbar wirkungslos verpuffen. Wenn es immer schwieriger wird, beim Thema zu bleiben, weil alte Konflikte neu aufgewärmt werden. Wenn du all das, was sich gerade unfair anfühlt, noch nicht exakt fassen und benennen kannst, aber du kannst es bereits riechen. Weil es nach Shitmoves müffelt. Also, was genau ist das denn jetzt?

Ein Shitmove ist ein rhetorischer Trick. Ein verbales Foul Play. Wie beim Fußball ist das Ziel, ein Tor des Gegners zu verhindern. Ohne erwischt zu werden. Oder durch eine Schwalbe dem Gegner ein Foul zu unterstellen, um dann selbst leichter punkten zu können. Es geht also immer ums Punkten, ums Siegen. Shitmoves kommen ins Spiel, wenn wir das Falsche gewinnen wollen. Nämlich den Konflikt, nicht den Menschen. Und genau diese Erkenntnis liefert uns eine Art Kompass fürs Manipulieren und fürs Manipuliertwerden. Einen Leitgedanken, an dem wir uns für den Umgang mit Shitmoves in jeder Situation orientieren können: Das Ziel ist immer, den Menschen zu gewinnen, statt nur die Auseinandersetzung.

Wer sich also an der einen oder anderen Stelle fragt, wo wir denn nun stehen, weil uns so mancher Shitmove durchaus auch beeindruckt oder begeistert, kann sich immer wieder diese Grundidee ins Gedächtnis rufen. Sie ist der rote Faden, der sich durch dieses Buch zieht, für das wir jede Menge private und berufliche Shitmove-Expertise mitbringen. Denn bei uns dreht sich alles um Kommunikation: Iris hat jahrelange Erfahrung in der Werbung gesammelt, die ja bekanntlich aus reiner Manipulation besteht. Und Matthias hat in derselben Zeit als Schauspieler die feinen Nuancen der Rhetorik in Theorie und Praxis erforscht – ebenfalls eine Welt voller menschlicher Schattenseiten, denn ohne Konflikt gibt’s keine Spannung. Selbst romantische Momente hatten für uns von Anfang an immer auch mit unserer gemeinsamen Faszination für das Verwegene zu tun. Eines unserer ersten Dates war zum Beispiel ein Strafprozess gegen einen IS-Terroristen. Später gründeten wir eine Kreativagentur namens Arouse und starteten einen wöchentlich erscheinenden Comedy-Podcast namens »Couple Of«, der ebenfalls gerne den Fokus auf Unverschämtheiten in allen Varianten setzt. Kurz, unsere Vita verlangt geradezu ein Buch über Shitmoves von uns.

Und als Privatmenschen? Sind wir selbst mächtige Shitmover? Das möchten wir zwar vehement abstreiten, aber das würde der schlimmste Shitmover genauso machen. Also, beschreiben wir es mal so: Wir beide sind zum Zeitpunkt, da wir das hier schreiben, seit über sieben Jahren zusammen. Dabei sind wir nicht immer in allem einer Meinung. Wir streiten auch. Manchmal sogar – immer seltener – heftig. Und es ist unmöglich, heftig zu streiten, ohne dabei Shitmoves einzusetzen! So weit ist das normal in Beziehungen. Aber da wir uns beide seit Jahren rund um die Uhr mit Kommunikation beschäftigen, fühlt sich für uns Streiten allmählich an wie Levels in einem Videospiel. Es wird immer schwieriger, mit den gängigen Shitmoves durchzukommen, denn wir entlarven sie in Echtzeit beieinander. Dadurch wird Streit zwar nicht unbedingt angenehmer. Eher abstruser. Aber auf jeden Fall etwas, woran wir wachsen. Vielleicht hilft dieses Buch auch in anderen Beziehungen, in Talkshows oder sogar in den von Shitmoves dominierten Onlinediskussionen, hier und da mal ein Level aufzusteigen. Hoffentlich.

Fast alle Probleme der Welt entstehen durch Kommunikation und lassen sich durch Kommunikation lösen. Nicht weniger möchten wir hiermit anbieten. Wir wären naiv zu glauben, dass ein Buch die Welt retten kann. In der bisherigen Geschichte der Menschheit ist ein solcher Anspruch noch jedes einzelne Mal nicht nur schief-, sondern sogar gewaltvoll nach hinten losgegangen. Andererseits wäre es zynisch, überhaupt keine Hoffnung auf Verbesserung zu setzen. Es ist aber weder ein Buch über Hoffnung noch über Fatalismus, sondern über Aufrichtigkeit. Nicht als fromme Pose, sondern als souveräne Antwort auf beschissene Kommunikation. Wir sehen darin nämlich viel mehr als lieb gemeinte Rhetoriktipps. Für uns spielen Shitmoves eine so zentrale Rolle im Leben, dass dieses Buch einen Wendepunkt markiert, weil wir heute Worte für unsere jeweiligen Erfahrungen und deren gemeinsame Nenner finden.

  1. The King’s Gambit

Der allerschlimmste Satz, den Iris jemals zu einem Menschen gesagt hat, lautete: »Entschuldigung, weißt du, wo hier die Tiefkühlpizzen sind?« Der Mann im Geschäft, den sie das fragte, brüllte sie dafür minutenlang dermaßen heftig zusammen, dass Iris die Tränen kamen und sie sich nie wieder traute, in dieses Geschäft zu gehen, aus Angst, dass der Mann wieder da sein könnte. Was hatte sie falsch gemacht? Sie hat ihn geduzt, obwohl die beiden sich gar nicht kannten.

Wenn du wie dieser Mann bist, dann liest du das hier vermutlich eh nicht mehr, weil du schon beim ersten Satz einen Wutanfall hattest. Aber es wäre einfach deplatziert, unsere Geschichten »Ihnen« zu erzählen. Denn wir werden uns jetzt über Stunden hinweg gemeinsam amüsieren, wundern und empören. Wir setzen uns zusammen mit dir in ein Wechselbad der Gefühle, und darin sprechen wir dich dann nicht als Herr Doktor Klöbner oder Herr Müller-Lüdenscheid an, sondern bieten dir das vertrauensvolle Du an. Als Iris und Matthias erzählen wir dir alles mit einer gemeinsamen Stimme – nur jetzt, im folgenden Teil, fragen wir uns zum Einstieg einmal gegenseitig, wie die Shit­moves eigentlich in unser Leben kamen. Los geht’s.

Matthias, nach einer Auseinandersetzung denkst du noch wochenlang an die Diskussion. Du gehst sie Wort für Wort durch, suchst nach unbemerkten Shitmoves und überlegst dir im Nachgang, welche Antwort noch besser gewesen wäre. Manchmal beobachte ich dich dabei, wie obsessiv du in deinen Gedanken das Gesagte sezierst und wie die Emotionen noch mal in dir hochkochen. Man könnte jetzt meinen, ich rede nur von Auseinandersetzungen mit mir oder anderen dir nahestehenden Menschen. Aber oft ist es einfach nur irgendein Fahrkartenkontrolleur, von dem du dich ungerecht behandelt fühlst. »NUR IRGENDEIN FAHRKARTENKONTROLLEUR?«, würdest du jetzt wohl dazu sagen. Denn was der in dir auslöst, gleicht diesen Szenen aus The Queen’s Gambit, wenn Beth die ganze Nacht hellwach im Bett liegt und wie im Wahn an die Decke starrt, wo sie ein gigantisches Schachbrett sieht, auf dem sie ununterbrochen tausend Varianten durchspielt. Genau so liegst du abends im Bett, starrst an die Decke, projizierst diesen Kontrolleur dorthin und schiebst Worte wie Schachfiguren hin und her, bis du ihn irgendwann rhetorisch besiegt hast. Und ich liege dann neben dir, starre dich an und frage mich: Warum zur Hölle bist du so?

NUR IRGENDEIN FAHRKARTENKONTROLLEUR? Iris, den würde ich in einem Film als Stasi-Paragraphenreiter besetzen! Dass du ihn hier überhaupt als Beispiel bringst, ist schon ein Shitmove, jetzt muss ich mich erst mal rechtfertigen: Ich bin mal in Berlin spontan zwei Stationen mit der Tram gefahren. Ich hätte auch zu Fuß laufen können, aber es war arschkalt, und die Tram hielt gerade so praktisch neben mir, also war ich halt kurz bequem. Obwohl es nur so eine superkurze Fahrt war, hab ich Depp mir am Automaten in der Tram ein Kurzstreckenticket gezogen. Kaum hatte ich’s, musste ich auch schon wieder aussteigen. Nur einen Schritt weiter wartete ein Mülleimer, in den ich mein gerade erst gekauftes Ticket warf.

Und was fällt mir nach zwei Sekunden in der Kälte auf? Dass ich meine Handschuhe in der Tram auf dem Automaten vergessen hab! Zum Bedienen des Displays und zum Bezahlen hatte ich sie kurz ausgezogen. Noch steht die Tram da, also springe ich sofort noch mal rein, dränge mich an den Zugestiegenen vorbei, packe meine Handschuhe, will wieder raus, aber da schließen sich vor meiner Nase die Türen, und die Tram fährt los. Ich rüttele noch frustriert an der Tür, drücke ein paarmal den Stopp-Knopf wie so ein Spielautomatensüchtiger in Las Vegas und bemerke erschrocken, dass ausgerechnet in dieser Situation dieses elende »Juten Tag, Fahrscheine bitte!« ertönt. Ich will sofort wieder zum Automaten, aber der verdammte Kontrolleur hat mich längst im Blick und deutet mein Verhalten ganz klar als Fluchtversuch.

Das finde ich übrigens völlig nachvollziehbar, wenn ich mein Verhalten der letzten zehn Sekunden durch seine Augen Revue passieren lasse. Also gehe ich einfach direkt zu ihm hin und erkläre ihm freundlich und aufrichtig den Sachverhalt. Halte ihm meine Handschuhe hin, als wären sie ein Beweis. Mir fällt ein, dass mich doch andere Fahrgäste gesehen haben müssen, wie ich noch vorhin am Automaten bezahlt hab und eigentlich schon ausgestiegen bin. »Fragen Sie die Leute, das war wirklich so«, bitte ich ihn, aber an seinem Blick erkenne ich schon, dass er längst weiß, wie er mit der Sache umgehen will.

Und hier kommt der Grund, warum mich die Ungerechtigkeit dieser Geschichte auch später noch beschäftigt hat. Man sollte doch annehmen, dass er nach meiner Erklärung vor der einfachen Wahl steht, mir entweder zu glauben und mich gehen zu lassen oder aber mir das nicht abzukaufen. Aber dieser Sack antwortet: »Gloob ick Ihnen ja allet! Aba ’ne Fahrkarte ham wa jetz nich, wa? Also Ausweis bitte.« Ein Trotzmove! Und ich muss 60 Euro Strafe zahlen für ein paar dumme Zufälle, die jedem passieren könnten! Was soll ich denn da noch sagen, wenn er mir den Verlauf sowieso schon glaubt? Ist es nicht ganz normal, sich darüber auch später noch zu ärgern? Wenn du recht hättest, dass ich auf solche Erlebnisse zu obsessiv reagiere, würden meine Emotionen darüber ja heute immer noch hochkochen.

Ach Scheiße, sie tun es! Du hast recht, Schachmatt.

Ich suche mal in meiner Kindheit nach der Antwort auf deine Frage, warum ich so bin. Wenn ich an meinen Vater denke, erinnere ich mich an ein paar typische Ausrufe von ihm. So wie Homer Simpson »D’OH!« schreit und zu Bart »Na warte, du …« sagt, bevor er ihn würgt, hatte auch mein Vater Catch Phrases. Seine waren: »Weil ich das sage. Basta« und »Drrrt! Keine Widerrede!«, mit extrastreng gerolltem R und drohend aufgerissenen Augen. Das war sein Versuch, mir zu erklären, warum ich dieses nicht darf und jenes muss.

Meine Mutter war das komplette Gegenteil. Sie begründete alles argumentativ. Mir fällt keine einzige erzieherische Äußerung oder Handlung von ihr ein, deren Erklärung nicht ein eigenes Kapitel in einem Buch füllen könnte.

Und da ich dieses Kontrastprogramm schon spüren durfte, noch bevor ich denken konnte, hatte ich ein hocheffektives Paket aus positiver und negativer Bestärkung, die gemeinsam in dieselbe Richtung zielten: Argumente = super!Shitmoves = Scheiße!

Wenn etwas durchdacht und klug verargumentiert wird, fühlt es sich gut und richtig an, diesen Argumenten entsprechend zu handeln. Dann ist das im Grunde keine vorgegebene Regel mehr, sondern zumindest teilweise mein eigener Wille. Auf jeden Fall findet das Gespräch darüber dann auf Augenhöhe statt.

Dagegen machen mich unbegründete Autoritätsansprüche immer zuverlässig wütend. Im Prinzip sind Shitmoves ja nichts anderes. Sie müssen nicht immer so durchschaubar und angreifbar klingen wie »Weil ich das sage. Basta«. Das ist übrigens Nummer 11, der Quellen-Shitmove. Aber im Grunde wollen sie ja alle dasselbe: die Kompensation fehlender Argumente. Und weil es oft nicht einfach ist, das zu durchschauen und sich dagegen zu wehren, liege ich nachts wach und denke noch mal über vergangene Schlachten nach.

In dieser Geschichte fehlt nun aber noch ein wichtiger Wendepunkt. Und der bist du, Iris. Denn wenn ich ehrlich bin, dachte ich bisher meistens über vergangene Schlachten nach, um nächstes Mal besser gewinnen zu können. Jetzt schreiben wir hier zusammen dieses Buch und erklären, dass es eigentlich nicht ums Gewinnen der Auseinandersetzung gehen sollte, sondern ums Gewinnen des Gegenübers. Diese Erkenntnis habe ich erst durch dich gewonnen. Mit dir war Streiten plötzlich etwas anderes. Hinterher stehen wir einander jedes Mal gegenüber und sagen beide denselben Satz: »Ich verstehe jetzt, was in dir vorgegangen ist!«

Wer hat denn gewonnen oder verloren, wenn wir beide verstehen, was im jeweils anderen vorging? Ich glaube, jeder Mensch kennt diesen verzweifelten Versuch, im Streit mit Familie oder Partner auf wiederkehrende Shitmoves hinzuweisen, um sich zu wehren: »Da machst du’s schon wieder! Das machst du jedes Mal! Es geht mir so auf den Sack!« Mit dir kann ich in so einem Moment sagen: »Hey, das ist jetzt genau diese Sache, bei der du mich doch letztes Mal verstehen konntest. Gehen wir diesmal anders damit um.«

Und deshalb frage ich dich zum Schluss zurück: Du hast diesen Wendepunkt in mein Leben gebracht, weil deine Empathie größer ist als dein Ego – wie bist du zu diesem Menschen geworden?

Durch Schläge. Es ist 1990, und Another Day in Paradise von Phil Collins trendet auf Platz eins der Charts. Ich stehe mit einem blutigen Bein vor meiner Mutter in ihrem Kiosk, als dieser Song im Radio läuft. Sie ist völlig entsetzt und fragt: »Was ist passiert? Warum bist du hier?« Ich bin noch völlig aus der Puste und den Tränen nahe. Zu diesem Zeitpunkt bin ich vier Jahre alt und gerade aus dem katholischen Kindergarten von – nennen wir sie – Schwester Violenta weggerannt. Ich habe ein Puzzle nicht richtig fertig gepuzzelt und daraufhin die Hand Gottes in aller Härte zu spüren bekommen. Das geschieht oft, und ich bin auch nicht das einzige Kind im Kindergarten, dem das widerfährt. Nur dieses Mal war es anders als sonst, die Schläge waren brutaler, und ich wurde gegen einen Pfosten geschleudert, woraufhin ich weggerannt bin.

Erst jetzt, da ich vor meiner Mutter stehe, merke ich, dass mein Bein blutet. Ich sehe, wie ihre Lippen vor Wut zittern. Ohne nachzudenken, schließt sie den Kiosk ab und stürmt direkt zu Schwester Violenta.

Im Kindergarten angekommen, konfrontiert meine Mutter sie: »Was hast du meiner Tochter angetan?«

Schwester Violenta ist nervös und murmelt improvisierte Ausreden: »Iris ist hingefallen und einfach abgehauen!«

Meine Mutter durchschaut sie augenblicklich und packt die Schwester an ihrem Gewand, zerrt sie über den Tisch, blickt ihr fest in die Augen und droht: »Du wirst Gott niemals mehr so nahe sein wie jetzt!«

Schwester Violenta hat danach nie wieder ein Kind geschlagen, und der Kindergarten musste einige Monate später schließen, da weitere Beschwerden über Fälle von Kindesmisshandlung laut geworden waren.

Zugegeben, das ist jetzt kein gelungenes Beispiel für einen souveränen Umgang mit Shitmoves, da es hier noch nicht einmal zu einem Austausch von Argumenten gekommen ist. Aber ich war schon früh mit diesem »Hier stimmt doch was nicht«-Gefühl vertraut. Wenn du als Kind »in Gottes Namen« verprügelt wirst. Wenn sich jemand wie so eine Schwester Violenta die offensichtlichste Ungerechtigkeit erlaubt, aber keine Verantwortung dafür tragen will. Und wenn du spürst, dass dir das passiert, weil du ein leichtes Opfer bist. Als Kind ja sowieso, in meinem Fall kam aber noch hinzu, dass meine Mutter im Kiosk arbeitete und mein Vater erst kürzlich verstorben war.

Im Kiosk finde ich übrigens weitere Antworten auf deine Frage, was mein heutiges Streitverhalten am stärksten geprägt hat. Der Laden hatte 365 Tage im Jahr offen, und das gesamte Leben unserer winzigen Familie, bestehend aus meiner Mutter, meinem älteren Bruder und mir, fand zwischen Naschtüten, Zigarettenschachteln und Eiskonfekt statt. Und dadurch, dass wir nie in den Urlaub fahren konnten, waren wir über Jahrzehnte hinweg eine Konstante im Leben einiger Menschen aus Hanau. Von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr abends kamen die Leute, teilweise mehrmals am Tag. Und zwar selten nur, um irgendetwas zu kaufen. Den meisten ging es auch darum, jemanden zum Reden zu haben. Der Kiosk war mehr als nur ein Umschlagplatz für die ungesündesten Waren, die man auf legalem Weg bekommen konnte, er war eine Begegnungsstätte.

Jeden Tag tauchten Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Milieus auf und diskutierten über die aktuelle Bild-Schlagzeile. Diese Diskussionen waren natürlich nicht so intellektuell wie in einer Polit-Talkshow – wie gesagt, es ging ja auch um die Bild-Schlagzeile. Aber oft passierte etwas, das mich bis heute zutiefst prägt: Am Ende gab es so etwas wie Konsens. Es war, als ob zwischen Zeitschriften, Pfläumchen und Kaugummis alle ihren gesellschaftlichen Status ablegten. Im Kiosk zählten die eigenen Prägungen als Argumente für Ansichten. Meine Mutter lehrte mich schon früh, wie wichtig es ist, andere zu verstehen, und dass Zusammenhalt in einer Gesellschaft nur dann funktioniert, wenn wir offen miteinander reden. In TV-Talkshows sah ich Menschen dabei zu, wie sie versuchten zu gewinnen; im ­Kiosk beobachtete ich dagegen meine Mutter, wie sie Menschen für sich gewann.

Bis heute konzentriere ich mich bei Menschen nicht auf ihren Status, sondern auf ihren Umgang mit anderen, besonders mit denen, die vermeintlich unter ihnen stehen. Und das bringt mich dann auch auf den Grund, warum ich dieses Buch mit dir schreiben möchte: Ich denke, wenn wir einander sehen und verstehen, warum wir alle manchmal Shitmover sind – und vor allem, wie wir damit aufhören können –, dann wertet das unsere Gesellschaft auf. Denn dann werden wir uns nicht mehr als wehrlose Opfer empfinden, sondern uns selbst im anderen wiedererkennen und zwischenmenschliche Bindungen auf ganz andere Level bringen.

Erst durch dich habe ich verstanden, dass es Shitmoves gibt. Vorher habe ich das Problem immer nur als ein »ungutes Gefühl« bei gewissen Personen empfunden. Auch wenn ich es reflektieren und benennen konnte, was mich störte, lag mein Fokus dabei aber nur auf der Persönlichkeit des anderen. Mein Blick war gröber. Du hast mir dann konkrete Techniken und Scheinargumente erklärt und das durchaus auch mal in dem einen oder anderen Streit zwischen uns beiden demonstriert. Ich werde nie vergessen, wie du mir bei einem schlimmen Streit gesagt hast: »Hol dir jetzt keine imaginären Zeugen zu deiner Argumentation!« Ich dachte, du willst mich komplett verarschen. Was für imaginäre Zeugen? Ich hatte doch recht! Aber man kann eben recht haben und trotzdem Shitmoves einsetzen, das schließt sich nicht gegenseitig aus. Und genau das muss ich rückblickend für diesen einen Fall zugeben. Ich hab damals das eingesetzt, was wir heute als Team-Shitmove bezeichnen, und du hast es durchschaut.

Dieser Blick auf Argumentationstechniken hat mir eine neue Welt offenbart. Ich achte jetzt nicht mehr nur darauf, was jemand sagt, sondern auch auf die Formulierung, aufs Timing und ganz besonders auf die versteckte Absicht dahinter.

  1. Für wen ist dieses Buch?
     

Für Menschen, die mit Spielzeug sterben. Das klingt bizarr, aber hier kommt die Erklärung: Jedes Jahr erscheint eine Liste der 400 reichsten Menschen in den USA. Malcolm Forbes hat das gleichnamige Magazin von seinem Vater geerbt und 1982 die berühmte Forbes-Liste eingeführt. Und diesem Mann, Malcolm Forbes, wird ein Zitat zugeschrieben, das perfekt zu dieser Mentalität passt, die man für eine Rangliste des Superreichtums braucht. Es lautet: »He who dies with the most toys wins.« Wer mit dem meisten Spielzeug stirbt, gewinnt. Das ist mit Blick auf die Forbes-Liste zwar zunächst materiell zu verstehen, aber lesen wir diesen Spruch doch mal als Metapher für Macht und Streit: Wer sich im Leben am dominantesten durchsetzt, der gewinnt.

Wenn dir bei dieser Weltanschauung dezent übel wird, freut es dich vielleicht, dass du damit in anständiger Gesellschaft bist. Denn schon das Originalzitat hat offenbar vielen Menschen mit feinerem Wertekompass zu sehr nach Shitmoves gestunken, und es wurde abgewandelt in: »He who dies with the most toys still dies.« Wer mit dem meisten Spielzeug stirbt, stirbt trotzdem. Oder auf Macht und Streit bezogen: Wer sich im Leben am dominantesten durchsetzt, stirbt ebenso wie alle anderen.

Eine ziemlich existenzielle Antwort auf die harmlose Frage, für wen dieses Buch ist. Aber dieser Satz in seinen zwei Varianten bringt es so treffend auf den Punkt. Du kannst dich aus zwei verschiedenen Perspektiven mit Shitmoves beschäftigen: He who dies with the most toys wins.

Gefällt dir diese Version, dann kannst du dir hier frische Inspiration holen! Wenn du selbst gern mit Shitmoves arbeitest, ist dieses Buch dein Dojo. Wir geben eigene, beobachtete und fiktive Beispiele, suchen nach bewährten, verbreiteten, beeindruckenden und überraschenden Shitmoves, die selbst klar unterlegenen Standpunkten noch eine Chance auf ein vermeintliches Unentschieden oder sogar auf Triumph versprechen. Vor allem aber versprechen sie Spaß: Wenn wir eine Comicfigur namens »Der Shitmover« zeichnen würden, bekäme sie sicher von den meisten ein gemeines Grinsen verpasst. In Niedertracht steckt auch immer wenigstens eine Spur von Schadenfreude – sonst könnten wir ja einfach klasse miteinander umgehen, was aber für einen Fan dieser Version des Zitats halt ein Zeichen von Schwäche wäre. Ganz im Gegensatz zur zweiten, abgewandelten Formulierung: He who dies with the most toys still dies.

Ziehst du diese Version des Zitats vor, kann dieses Buch dir dabei helfen, die Shitmoves deines Gegenübers zu erkennen und dich dagegen zu wehren. Für die Verteidigung gegen Shitmoves gilt die Faustregel: Name it and tame it – Blicken und Knicken. Wörtlich: Benenne und zähme es! Das englische Name it and tame it klingt, ebenso wie Shitmoves, natürlich viel griffiger. Aber unter »Scheißbewegungen« würde man sich vermutlich eher ein Buch über Schließmuskeltraining oder Nationalismus vorstellen. Und »Blicken und Knicken« ist ein kläglicher Versuch, Bedeutung und Charakter ins Deutsche zu hieven – aber eigentlich ist ja viel wichtiger, welches Prinzip dahintersteckt: Wer eine miese Taktik benennt, hat höhere Chancen, sie dadurch zu entkräften, um dann vom Gegenüber zu fordern, den eigenen Standpunkt mit aufrichtigen Argumenten zu verteidigen. Theoretisch. Praktisch ist das meistens nicht ganz so einfach. Wir werden im Folgenden bei jedem einzelnen Shitmove versuchen, über diese Faustregel hinaus geeignete Gegenstrategien zu finden und sie praktisch anwendbar zu formulieren.

 

Erscheint am 27.09.2023

© 2023 Iris Gavric und Matthias Renger

© 2023 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Über das Autoren-Duo

Autorenbild Iris Gavric und Matthias Renger
www.arouse.de

Iris Gavric und Matthias Renger betreiben zusammen den Erfolgs-Podcast »Couple Of« und haben eine gemeinsame Kreativagentur. Wenn sie nicht gerade entspannt streiten, nehmen sie TikToks auf – manchmal machen sie auch beides. Wöchentlich bringen sie Hunderttausende zum Lachen und Nachdenken. Auf TikTok sind sie unter @matthiasrenger und @irisgavric zu finden. Die beiden leben zusammen in Berlin.