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Ein Brief aus der Vergangenheit

Ein Gemälde, gerade mal so groß wie eine Postkarte. Sein Geheimnis so bedeutsam, dass es bis in die Gegenwart reicht. Mónica Subietas' bewegender Roman »Waldinneres« erzählt von Liebe, Freundschaft und Verrat, von finsteren Zeiten und glücklichen Tagen. Ein Brief, ursprünglich als Epilog des Romans gedacht, führt uns in die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs und mitten ins Herz des Romans.

Mónica Subietas lehnt auf einem Stapel Bücher und schaut freundlich in die Kamera
© Luis Lumbreras

Gottfried Messmer ist noch völlig verschlafen, als er den Anruf aus einer Bank bekommt: Sein längst verstorbener Vater hat ein Bankschließfach hinterlassen, von dem niemand etwas wusste. Dort findet er einen Brief.

 

Zürich, 13. Januar 1960

 

Lieber Gottfried,

 

Ein Vater denkt immer, dass er sein Kind aufwachsen sieht, aber man muss akzeptieren, dass das Leben manchmal andere Pläne für einen hat. Und genau deshalb, weil die Zukunft ungewiss ist, habe ich Dir etwas mitzuteilen, das niedergeschrieben werden sollte.

Viele Menschen werden in Dein Leben treten, und die meisten werden wieder daraus verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Das ist ganz normal, so geht es uns allen. Aber heute will ich Dir von jemandem erzählen, der eine tiefe Spur in meinem Leben hinterließ. So tief, dass Du nun diesen Brief in Händen hältst, denn seine Spur hat mich überlebt, und jetzt liegt es in Deiner Verantwortung, sie weiter zu verfolgen.

Diesen Menschen, der mich so tief geprägt hat, habe ich nur ein einziges Mal gesehen und kenne nicht einmal seinen Namen, aber es vergeht kein Tag, ohne dass ich an ihn denke.

Wie Du weißt, sind Deine Großeltern – meine Eltern – während des Ersten Weltkriegs aus Deutschland geflüchtet und nach Zürich gekommen. Ich wuchs als ihr einziges Kind in dieser Stadt auf. Hier lernte ich Deine Mutter kennen, und wir wurden gemeinsam erwachsen. Ich habe nie daran gedacht, Zürich zu verlassen, genauso wenig, wie ich es für möglich hielt, dass ein weiterer großer Krieg kommen könnte. Ich war froh, dass die Schweiz neutral blieb, auch wenn sich die Regierung dafür mit Nazi-Deutschland arrangieren musste. Wenn die Schweiz ihre Identität wahren wollte, gab es keine andere Option. Aber das ist alles Geschichte, das wirst du in der Schule lernen.

Während des Zweiten Weltkriegs schloss die Schweiz de facto über zwei Jahre lang die Grenze für Flüchtlinge, was zu unermesslichem Leid führte. Als Immigrantenkind konnte ich diese Situation nicht hinnehmen. Und ich war nicht der Einzige, der gegen den Beschluss der Regierung aufbegehrte. Wir bildeten ein kleines Netz, das Verbindungen zum Widerstand in Frankreich, Italien und Österreich hatte. Sie schlugen uns Kandidaten vor, denen wir den Grenzübertritt ermöglichten. Wenn sie erst einmal auf Schweizer Boden waren, würden sie nur selten wieder des Landes verwiesen, das wussten wir.

Ich musste Deiner Mutter versprechen, mich nicht unnötig in Schwierigkeiten zu bringen, deshalb beschränkte ich mich darauf, als Kurier zu fungieren. Ich holte die betreffende Person an einem zuvor ausgemachten Treffpunkt ab, um sie sicher über die Grenze zu schleusen. Jedes Mal, wenn wir jemanden retteten, war das, als retteten wir die ganze Welt. Einmal im Land, übernahm ein anderer Kurier den nächsten Schritt. Alle Flüchtlinge hatten einen zuvor festgelegten Bestimmungsort; sie erhielten eine neue Identität, die es ihnen ermöglichte, von vorne anzufangen. So wurde das Risiko einer Ausweisung weiter reduziert.

Ich habe nie etwas dafür verlangt, dass ich einem Juden half, in die Schweiz zu gelangen. Und genau deshalb schreibe ich Dir diesen Brief.

Im Herbst 1942 half ich einem Mann, der aus Österreich fliehen musste, über die Grenze in die Schweiz …

 

Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen

Mónica Subietas, geboren 1971 in Barcelona, lebt seit 2008 in Zürich. Sie ist Kulturjournalistin und Editorial Designerin, außerdem arbeitet sie in der Leseförderung mit Gruppen von Erwachsenen und Kindern im Vorschulalter. Vor ihrem Umzug nach Zürich lebte sie in Barcelona, Madrid und New York. Neben Spanisch und Katalanisch spricht sie ...

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Über ein Geheimnis, das bis in die Gegenwart reicht

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