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Das Weihnachten, an dem ich Paul Auster traf

Im Adventskalender des S. Fischer Verlags veröffentlichen wir an vier Dezemberfreitagen jeweils eine weihnachtliche Geschichte. In der vierten Geschichte erzählt unsere Autorin Jagoda Marinić vom New Yorker Winterhimmel und einer unvergesslichen Begegnung, die die Literatur in die Wirklichkeit holt.

Porträt der Autorin Jagoda Marinić vor einer Backsteinwand. Sie trägt Mittelscheitel und schaut über die linke Schulter direkt in die Kamera.
© Dorothée Piroëlle

Ich habe mir Weihnachten immer ohne Weihnachten gewünscht, ohne das Weihnachten von immer, die Menschen von immer, die Rituale von immer, das Gestern.

Nur einmal habe ich es geschafft: Nach dem Studium erfüllte ich mir den Traum von Weihachten in New York. Ich mietete mir ein kleines Zimmer in Park Slope, wo sonst, dort leben und schreiben Siri Hustvedt und Paul Auster, aber auch das neue Glamour-Paar der US-Literatur hatte sich dort ein Haus gekauft: Jonathan Safran Foer und Nicole Krauss.          

Ich teilte mir eine kleine Wohnung mit einer argentinischen Performance-Künstlerin, die den ganzen Tag Kartons baute, in die sie performativ abtauchte, und ich war schon nach wenigen Stunden mit ihr nicht sicher, ob ich im Hinblick auf meine Familie einen guten Tausch gemacht hatte für dieses Weihnachten, aber immerhin war Mariangeles nicht mit mir beschäftigt, sondern mit sich. Mariangeles dachte nicht an Weihnachtsbäume, Kirchgänge oder Leuchtdeko, sie dachte den ganzen Tag nur an Kapitalismus und hielt Vorträge darüber, weshalb Künstlerinnen aus Lateinamerika in dieser gottverdammten Stadt nie wirklich eine Chance haben, bevor sie sich wieder in ihren Kartons verkroch. Ich fragte mich, wann und ob ich ihr je verraten sollte, dass Kapitalismus zwar scheiße sein mag, aber ihre Kartons irgendwie auch.

Ich kannte himmelblauen Winterhimmel nicht. Wenn ich morgens im Bett durch das Fenster und die Feuertreppe zum Himmel sah, erinnerte nichts an die Nebelwinter, in denen ich aufgewachsen war. Völlig überdreht von diesem Winterlicht kam ich in die Küche, Mariangeles lachte, gewohnt doppeldeutig sagte sie: ja, the blueness of the Americas. Sie kenne es nur so, das würde sie nie anders haben wollen, Deutschland müsse ja die Hölle sein. Ich nickte, zog meine Daunenjacke über und machte mich auf den Weg zu einer Schule an einer der Hauptstraßen, auf deren Parkplatz Weihnachtsbäume verkauft wurden, das hatte ich mir gestern gemerkt. Ich nahm den kleinsten von allen. Um die Ecke im Ein-Dollar-Laden gab es Wegwerfweihnachtsschmuck. Zum ersten Mal im Leben sah ich schwarze Weihnachtsengel und kaufte gleich fünf.

Zum Frühstück aß ich Müsli mit diesem weißwässrigen Zeug aus Plastikflaschen, das sie hier Milch nannten. Zuhause konnte ich noch nicht anrufen, weil mein Handy nicht funktionierte, vor Heiligabend wollte ich unbedingt noch ein kompatibles kaufen, damit wir uns hören würden, aber ich dachte tagsüber nie daran; ich mochte die Abwesenheit von allem, spazierte mit Sonnenbrille unter dem blauen Winterhimmel der Americas und wusste endlich, weshalb die Stars in den Hochglanzmagazinen auch in Wintermänteln ihre sommerlichen Fliegerbrillen trugen. Man braucht sie hier einfach. Mittags aß ich meistens die Ein-Dollar-Taco-Angebote bei Mexikanern oder Kentucky Fried Chicken, aber es war mir egal, ich war in Park Slope, sah mir die Reichen an, die im Prospect Park mit ihren affektierten Hündchen spazieren gingen, belauschte ihre Gespräche auf den Gehsteigen und fragte mich, worin sich die Öko-Läden hier von den Öko-Läden im Prenzlauer Berg unterschieden.

Brooklyn ist berühmt für seine Baumalleen und Brownstone-Häuser. Ich wohnte zwar am Rand, verbrachte aber alle hellen Stunden des Tages in den Alleen, blieb vor den Erkern der Häuser stehen, in denen ich schon zig Serientöchter hatte traurig aus den Fenstern blicken sehen und versuchte mir vorzustellen, was Familien in diesen Häusern machen. Ich hatte ein Interview mit Nicole Krauss gelesen, daneben war ein Foto von ihr vor einem dieser Häuser abgedruckt, und obwohl neben dem Reichtum auch unendliche Langeweile zu spüren war, wollte ich die Häuser sehen, die sich ein Schriftstellerpaar in diesem Land leisten kann. Sie stand wie selbstverständlich vor einem Haus für fast sechs Millionen Dollar, während in Deutschland selbst die besten Autoren für mit fünftausend Euro dotierte Literaturpreise lange Dankesreden halten. Wie fühlt sich Phantasie an, wenn sie so viel Geld wert ist, fragte ich mich, und wie sie wohl aus dem Haus trat, wenn sie ihre teure Phantasie zusammen mit ihrem Hund spazieren führte.

Einmal lag vor einem Haus eine Kiste mit Büchern, wie in Deutschland, dachte ich, darin eine Ausgabe von Anne Franks Tagebuch, auch wie in Deutschland, dachte ich und fragte mich, ob Menschen in großen Häusern weltweit dieselben Bücher lesen. Dort, wo ich aufgewachsen bin, gab es nur Sperrmüll vor den Häusern, aber der war ganz gut. Bevor es dunkel wurde, machte ich mich auf den Weg zurück, meine Wohnung lag in der Ecke des Stadtteils, in der die Waschsalons ramschiger wurden und in den Tabakläden Leute ein und aus gingen, über die man Filme hätte drehen können. Unser Haus stand direkt an einer großen Kreuzung, die das Park-Slope-Brooklyn von dem anderen Brooklyn trennte, ungemütlicher wurde es hier, weniger Dr. Hauschka in den Schaufenstern. Das geht schnell in diesem irren Land, sagte Mariangeles, aber wir wohnten im dritten Haus in der ersten Straße nach der Kreuzung, wir gehörten irgendwie noch nicht ganz zum Rest. You´re paying a thousand bucks for a shithole, sagte Mariangeles, wenn sie die Unbezahlbarkeit des Lebens im Land der unbegrenzten Möglichkeiten in einen Satz packen wollte.

Während Mariangeles in ihren Kisten verschwand, verschwand ich in meinem Zimmer und in den Büchern von Paul Auster. Zum zweiten Mal las ich Die Erfindung der Einsamkeit, das Buch, in dem er von der Beziehung zu seinem Vater erzählt. You never stop hungering for your father´s love, sagte er einmal in einem Interview, und ich vergaß es nie, weil Paul Auster bei so einem Satz dreinblickt wie Paul Auster. Die Art, wie er Empfindungen zu Geschichten verwob, wie er Details ineinander verschachtelte, bis er einen gefangen nahm, bis man ihm glaubte, dass nichts auf dieser Welt zufällig geschieht, dass alles entsteht, weil irgendjemand von irgendwo aus seine Fäden spinnt. Ich dachte an meinen Vater, der mich einige Tage zuvor zum Flughafen gefahren hatte, wir waren viel zu spät dran gewesen, ich war sicher, ich würde meinen Flug verpassen, und ich war mir nicht sicher, ob dahinter nicht Absicht lag, ob mein Vater nicht letztlich wollte, dass seine Tochter diesen Flug verpasst, und nun liege ich in einem leeren Zimmer mit kahlen Wänden in Brooklyn und lese, wie Paul Auster nach der Liebe seines Vaters hungert.

Ich ging in die Küche, aß mein Müsli mit der dünnen Milch, starrte auf den kleinen Weihnachtsbaum, an dem bisher nur die fünf schwarzen Engel hingen, und dachte, wenn die Welt ist, wie sie ist, wenn Bücher irgendetwas zu sagen haben über diese Welt, dann bin ich jetzt, so wie ich hier bin, eine Figur in Paul Austers Kopf. Ich bin in seinem Brooklyn, wo seine Phantasie die Fäden spinnt. Ich werde heute Paul Auster treffen, denke ich und hole meine dicke Jacke, man friert sich den Arsch ab in New York. Von der Straße aus schaue ich die Feuertreppe hinauf zu dem kleinen Fenster, hinter dem mein leeres Bett steht, es sieht alles aus wie in den tausend Filmen, die ich von klein auf gesehen habe. Ich will wieder zu dem kleinen Café gegenüber der Schule, auf deren Parkplatz ich den Weihnachtsbaum gekauft habe. Es ist jetzt schon mein Lieblingscafé, sie servieren nur schlechten, dünnen Filterkaffee, aber davon viel, die Menschen reden mit einem, aber nicht mehr als nötig. Auf dem Weg komme ich an einem Schreibwarenladen vorbei, ich will mir ein Heft kaufen, denke ich, falls Auster nicht da ist, will ich schreiben, und wenn er da ist, will ich erst recht schreiben. Ich habe kurz Angst, dass ich ihn mit dieser Entscheidung, mir genau jetzt dieses Heft zu kaufen, nun um Sekunden verpassen könnte ... Dann wieder denke ich: Ich bin eine Figur in seiner Geschichte, vielleicht muss ich dieses Heft kaufen, vielleicht sind es genau die wenigen Sekunden, die darüber entscheiden werden, ob ich ihn treffe oder eben nicht. Eine Figur von Auster müsste dieses Heft kaufen, denke ich, ja, und trete also ein in den kleinen Laden, der auch ein Tabakgeschäft sein könnte, die Verkäuferin reicht einem Hefte und Stifte wie Zigaretten. Ich bin wählerisch mit Heften, am liebsten schreibe ich auf leeres Weiß oder auf Karos, die nur leicht angedruckt sind. Sie hat so ein Heft mit angedeuteten Karos, ich nehme es, zahle, danke und stehe vor der Tür. Immer noch himmelblau. Es bleibt so. Ich habe Zeit. Ich bin seine Figur. Es kommt, wie er will.

Der Winter war noch nie so blau wie dieser in New York, aber auch noch nie so kalt. Die Gäste meines Lieblingscafés sitzen draußen, die Kälte härtet ab. Ich schaue auf den Schulhofparkplatz, immer noch viele Weihnachtsbäume, die auf ein Wohnzimmer warten. Als ich die Straße zu meinem Café überqueren will, sehe ich an der Ecke, links vom Straßenschild, einen hochgewachsenen Mann in Lederjacke. Paul Auster redet mit einem kleinen, kräftigen Mann. Zwei Meter vor meinem Café. Was muss man als Figur von Paul Auster jetzt sagen? Ich gehe über die Straße, einen Schritt an den beiden vorbei und bleibe stehen, in höflichem Abstand, aber so, dass sie wissen, ich stehe da wegen des Mannes in der Lederjacke. Sie führen ihren Smalltalk zu Ende, und als der kleine Mann sich verabschiedet, dreht Paul sich zu mir.

„Hello!“ Er schließt die Lider eine Sekunde länger als üblich und deutet ein Lächeln an. Ich lese das als Zeichen, dass er meine Penetranz entschuldigt.

„Are you Paul Auster?“, als wüsste ich es nicht, aber ich habe noch nie die Unverschämtheit besessen einen Menschen anzusprechen, nur weil ich ihn aus der Ferne kenne.

„Yes. How can I help you?“

„I am ... eem ... I‘m a huge fan of your wife, Siri Hustvedt!“, als wüsste er nicht, mit wem er verheiratet ist.

„Oh!“, nickt er, „I‘m a hug fan of hers, too.“

Wir lachen.

Ich weiß nicht, was ich danach noch über Siri Hustvedt gesagt habe. Ich habe nur über sie geredet, kein Satz über ihn oder darüber, was seine Phantasie mit meiner macht. Er stand vor mir mit diesem aufrechten, langen Körper, den seltsamen Schultern und traurigen Augen, die mich ansahen, als müsste er von unten durch etwas hindurchblicken, als gäbe es ein Hindernis zwischen ihm und dieser Welt. Paul Austers Blick eben. Nachdem wir uns erzählt haben, wie großartig Siri ist, verabschiedete er mich so freundlich, wie nur New Yorker es tun. Man geht, als kennte man sich ewig oder nur einen Tag. Ich sah ihm kurz nach, wie er um die Ecke bog in eine der Straßen mit Brownstone-Häusern. Mister Auster, dachte ich, you made me believe in fiction today.

Jagoda Marinić, geboren 1977, ist Schriftstellerin und Publizistin. Sie schreibt Kolumnen für die »Süddeutsche Zeitung«, »stern«, »taz« und »Deutsche Welle«; international publiziert sie in der »New York Times«. Regelmäßig gelingt es ihr, Debatten anzustoßen und eine Unmenge von Reaktionen zu provozieren. Für ihr politisches Engagement und ihr bei S. FISCHER ...

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