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Der Stab des Zauberers: Die Wiederentdeckung einer verlorenen Wikingerwelt

Neil Price, Professor für Archäologie und Frühgeschichte an der Universität Uppsala, entführt uns in die faszinierende Welt der Wikinger. In seinem Beitrag taucht er ein in die Welt der Magie und zeigt, was es mit den Eisenstäben auf sich hat, die in zahlreichen Frauengräbern gefunden wurden.

Archäologe und Autor Neil Price in der Natur
© privat

In den wikingerzeitlichen Galerien des schwedischen Historischen Museums in Stockholm gibt es im hinteren Bereich eine Vitrine, an der viele Besucher achtlos vorübergehen, angezogen vom Goldschmuck und den spektakulären Waffen, die in einem anderen Teil der Ausstellung präsentiert werden. Warum die Objekte in der Vitrine leicht übersehen werden, ist durchaus verständlich: ein paar verrostete Eisenstäbe, die – korrodiert und matt – nach nichts aussehen. Sie sind nur mit Mühe überhaupt als Stäbe zu erkennen. Und doch gehören diese Objekte zu den wichtigsten Überresten aus der Wikingerzeit, einer mehr als tausend Jahre zurückliegenden Vergangenheit. Ursprünglich waren diese Eisenstäbe mit ihren Bronzeverzierungen, die vor dem schwarzen Metall wie Gold schimmerten, die Werkzeuge von Zauberinnen. Diese mächtigen Frauen kontrollierten den Zugang zu den anderen Welten; die Geschichte dieser und ähnlicher Objekte öffnet uns ein Fenster in eine verborgene Landschaft der Magie und Zauberei, der Kommunikation mit übernatürlichen Wesen und den Göttern selbst.

Die isländischen Sagas, einer der größten literarischen Schätze der Welt, wurden im Mittelalter verfasst, mehrere Jahrhunderte nach der Wikingerzeit, die sie zu beschreiben vorgeben. Die meisten Wissenschaftler stimmen darin überein, dass sie nicht als schlichte Historie gelesen werden dürfen, aber dennoch echte Informationen aus der fernen Vergangenheit bewahrt haben. Viele dieser Geschichten handeln von Magie, entweder direkt oder nebenbei. Zauberer stellen sich in den Dienst von Helden oder aber gelten als Bösewichte, die es zu besiegen gilt; häufiger jedoch erscheinen sie nur als etwas ungewöhnliche Nachbarn in kleinen Landgemeinden. Es sind fast immer Frauen; sie haben die Aufgabe, die Zukunft vorherzusagen, Kranke zu heilen und angesichts der Sorgen des Alltags Trost zu spenden. In den dunkleren Erzählungen benutzen sie ihre Hexenkunst auch als Waffe – um den Geist zu vernebeln, den Körper zu schwächen, Schaden anzurichten, zu verletzen und sogar zu töten. Die Sagas kennen viele verschiedene Wörter für Hexerei ebenso wie für diese Magierinnen: Es gab offenbar ein komplexes Vokabular für spezielle Fähigkeiten und Talente. Der gängigste dieser Begriffe ist völva, »Stabträgerin«, und in zahlreichen Beschreibungen verwenden die völur (Plural von völva) bei ihren Ritualen tatsächlich einen Stab. Sie waren die Seherinnen, die von einer Siedlung zur anderen reisten, um die nächste Ernte, die Gesundheit des Viehs und bisweilen auch das Schicksal ihrer Gastgeber vorherzusagen.

Lange Zeit glaubte man, die Magier und Magierinnen der Sagas seien nichts weiter als ein mittelalterlicher Fabelstoff, ganz so wie die Zauberer und Hexenmeister der europäischen Romantik. Alle Studien, die im 20. Jahrhundert erschienen, darunter einige wichtige, erörterten die wikingerzeitliche Magie vorrangig als literarisches Motiv, wobei die Texte im Hinblick auf ihre Themen und Bilder sowie mögliche Einflüsse analysiert wurden. Manche behaupteten, die christlichen Saga-Verfasser hätten die Rituale und Glaubensüberzeugungen der Sámi des nördlichen Fennoskandinaviens reproduziert und deren »exotische« traditionelle Religion in die Zeit ihrer eigenen heidnischen nordischen Vorfahren zurückverlegt.

In den späten 1990er Jahren begannen jedoch einige Archäologen mit der Neubewertung einer merkwürdigen Art von Gegenständen, die bei der Ausgrabung wikingerzeitlicher Frauengräber zum Vorschein gekommen waren. Diese Eisenstäbe unterschieden sich leicht voneinander, wiesen aber zahlreiche gemeinsame Merkmale auf: Sie waren in der Regel etwa einen Meter lang und bestanden häufig aus einem einzelnen Schaft, der an einem Ende in einen merkwürdigen käfigartigen Korb mündete. Manche der Stäbe hatten keine Verzierungen, während andere kunstvolle Bronzebeschläge aufwiesen, die in einigen Abständen an den Schäften angebracht waren. An einigen »Körben« hingen außerdem Anhänger oder Ringe. Ein besonders spektakulärer Stab von der Insel Öland war länger als alle anderen und mit einem von Wölfen umgebenen kleinen Haus gekrönt. Diese Eisenstäbe hatte man ursprünglich als Spieße gedeutet, an denen über dem Feuer Fleisch gegrillt wurde, doch bei genauerer Betrachtung war diese Interpretation nicht mehr haltbar, nicht zuletzt deswegen, weil man wegen der Bronzebeschläge auf den Schäften nichts hätte auffädeln können. Auch schienen sie zu kunstvoll und kostbar, um sie der Hitze eines Herdes auszusetzen. Was aber waren sie dann?

Viele der Gräber, in denen solche Eisenstangen entdeckt wurden, unterschieden sich von den sonst üblichen und ließen darauf schließen, dass die toten Frauen der Oberschicht angehörten. In manchen fanden sich ungewöhnliche Kleidungsstücke, dazu silberne Haarbänder und Schleier, und in einem eine Art bleihaltiger weißer Schminke. Häufig enthielten die Gräber Amulette und Glücksbringer; in etlichen gab es Beutel mit Tierkörperteilen, in einigen anderen Samen halluzinogener Pflanzen. Könnten dies die Gräber von Magierinnen sein, und waren die Eisenstangen womöglich die in den Sagas erwähnten Stäbe, die den völur ihren Namen gaben? Manchen dieser Gräber war auf den Friedhöfen ein ganz besonderer Platz zugewiesen, und eines – in der Festung Fyrkat in Dänemark – war das reichste von allen.

Heute sind mehr als fünfzig Stäbe bekannt, die fast ausnahmslos in solchen Frauengräbern zutage gefördert wurden. Die meisten stammen aus Skandinavien, hauptsächlich von der norwegischen Westküste und aus Mittelschweden, manche aus einigen Fundstätten in Dänemark. Es gibt jedoch auch Exemplare aus Britannien und Irland sowie aus Island und sogar Russland und der Ukraine. Die Menschen, die sie verwendeten, bereisten offenbar die gesamte Wikingerdiaspora.

Nachdem man begonnen hatte, diese Gräber und die in ihnen geborgenen Stäbe mit der Zauberei und den Magiern der Sagas in Verbindung zu bringen, beschäftigten sich immer mehr Wissenschaftler mit der Erforschung dieser Phänomene. Vor allem gründlichere Studien der Zauberterminologie der Sagas lieferten Hinweise auf die mögliche Verwendungsweise dieser Stäbe. In der längsten und ausführlichsten Beschreibung eines magischen Rituals sitzt die Zauberin auf einem Podest, umgeben von Sängerinnen, die mit ihrem Gesang die Geister heraufbeschwören. Die völva verfällt in Trance – was auch in anderen Quellen erwähnt wird – und sendet offenbar ihre Seele aus, um mit den zu der magischen Séance gerufenen Mächten zu kommunizieren. Dieser tranceartige Zustand und die damit verbundene »Seelenreise« ist überall in der zirkumpolaren Region ein Merkmal der sogenannten schamanistischen Glaubenssysteme. Wir haben bereits von den möglichen Verbindungen der Sámi mit der nordischen Magie gehört, doch in diesen neuen Studien erwies sich die Zauberei der Wikinger als genuine regionale Manifestation einer breiteren nördlichen Tradition. Solche Rituale stellten für die Seele des Magiers oder der Magierin ein besonderes Risiko dar, da sie, wenn sie losgelöst vom Körper auf Reisen ging, verwundbar war – und tatsächlich erwähnt ein altnordisches Gedicht einen Zauberspruch des Gottes Odin, der speziell darauf abzielte, Hexer durch das Abtrennen der Seele zu töten. Wie aus den Texten deutlich hervorgeht, war die Seele mit dem Zauberer durch einen unsichtbaren Faden verbunden, der es ihr ermöglichte, in den Körper zurückzufinden.

Der Durchbruch bei den Eisenstäben und ihrer Rolle in den Ritualen erfolgte, als ein Forscher feststellte, dass das korbartige Gebilde am Stabende den spätmittelalterlichen hölzernen Spinnrocken glich. In der Textilarbeit dient ein Spinnrocken dem Aufwickeln der Fasern zum Spinnen und Weben, wobei der Rocken gedreht und die Fäden um den »Korb« geschlungen werden. Bei den magischen Ritualen fungierten diese Eisenstäbe anscheinend als symbolische Spinnrocken, um den Seelenfaden des Magiers zurückzuspulen und die Seele sicher nach Hause zu bringen.

Hexerei und Magie sind heute als zentraler Teil der nordischen spirituellen Praktiken und Glaubensüberzeugungen anerkannt und waren für das Alltagsleben der Menschen vielleicht sogar noch wichtiger als die Verehrung der Götter. Odin, Thor, Freyja und all die anderen lebten in Asgard, fern der Menschen und deren Sorgen, doch die völur und ihresgleichen waren immer da. Magier und Magierinnen dienten unter anderem als Ärzte, Priester und Berater – es gab sogar so etwas wie einen Kriegsschamanen, vergleichbar einem Militärseelsorger – und bildeten die Berührungspunkte zwischen unserer und den anderen Welten.

Aus dem Englischen von Ursula Blank-Sangmeister

Die wahre Geschichte der Wikinger

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Neil Price, 1965 geboren, studierte Archäologie in London und York. Bereits während des Studiums spezialisierte er sich auf die Wikinger und zog 1992 nach Schweden, um ihre Gebräuche und Lebenswirklichkeit als Feldarchäologe zu erforschen. Seit 2014 ist er Professor für Archäologie und Frühgeschichte an der Universität Uppsala in Schweden. Price ...

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