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Die Rede ist vom Schweigen

Michael Lentz interpretiert das Ideogramm ›Schweigen‹ von Eugen Gomringer, der letzte Woche neunzig Jahre alt geworden ist, und kommt dabei auf den Grenzbereich zwischen Text und Bild zu sprechen.

114 Michael Lentz
© Foto: Jörg Steinmetz

Eine Gratulation an Eugen Gomringer zum neunzigsten Geburtstag

Eugen Gomringers »Ideogramm« »Schweigen«, 1960 zum ersten Mal erschienen in der Gedichtsammlung 33 Konstellationen (St. Gallen: Tschudy), ist eine internationale Inkunabel der Poesie im Grenzbereich zwischen Text und Bild, Text als Bild, Bild als Text.

Ein »Ideogramm« – vom Griechischen »idéa«: Form, Gestalt, Erscheinung und »grámma«: Geschriebenes, Schrift(zeichen), Buchstabe – ist laut Duden ein »Schriftzeichen, das nicht eine bestimmte Lautung, sondern einen ganzen Begriff vertritt«. Kluge zufolge wurde die Bezeichnung »Ideogramm« in der »Wissenschaftssprache gebildet, um ein Schriftzeichen zu benennen, das einen Inhalt (eine Idee) repräsentiert und nicht (oder nicht von vorneherein) auf die Lautform Bezug nimmt«. Welche Lautform könnte »schweigen« haben? Ist »Schweigen« das Gegenteil jeder denkbaren Lautform? Gegenfrage: Wie kann »Schweigen« als Begriff abgebildet werden? Mit dem Wort »schweigen«? Über »schweigen« kann man nicht sprechen. Also muss man über »schweigen« schweigen. Ist in diesem »schweigen« der Begriff schweigen ausgedrückt? Gleichwohl können wir »schweigen« sehen – als Wort. Wir sehen die Buchstabenfolge s-c-h-w-e-i-g-e-n im Wortverbund »schweigen«, aber nicht den Begriff »schweigen«, seine Extension (Umfang) und seine Intension (Inhalt; Bedeutung bzw. Sinn).

In Eugen Gomringers Ideogramm »schweigen« ist das Wort »schweigen« vierzehn Mal anwesend und zwar in Form seiner je dreifachen horizontalen Setzung zu fünf Zeilen bzw. seiner je fünffachen vertikalen Setzung zu drei Spalten, mit der Besonderheit, dass in der dritten Zeile bzw. in der mittleren Spalte anstelle des Wortes »schweigen« die bloße Fläche des Trägermediums erscheint, Figur und Grund in ihrer Wahrnehmungshierarchie sich also umdrehen, der Grund zur alleinigen Figur wird. Hier fehlt das Wort »schweigen«, aber es fehlt genauso jedes andere Wort, das neun Buchstaben aufweist, »Gomringer« zum Beispiel, lässt man einmal unberücksichtigt, dass auch ganz andere Wörter mit einer kleineren Schriftgröße und folglich einer größeren Anzahl an Buchstaben implementiert werden könnten, die das Schweigen repräsentieren oder auf »schweigen« referieren.

Es ist nicht gesagt, dass in der Auslassung das Wort »schweigen« verschwiegen wurde. Die berühmte Lücke in der dritten Zeile bzw. mittleren Spalte ist eben nur so groß, dass das Wort »schweigen« darin Platz finden und die Lücke schließen würde. Die Anwesenheit einer Abwesenheit resultiert aus ihrer Einvierung. Geht man bei Gomringers Ideogramm allerdings von der Heautonomie der Serie aus, der Freiheit zur Erfindung eines Prinzips der Reihe, ist es eine Denknotwendigkeit, das Fehlen des Wortes »schweigen« zu konstatieren.

Als Bildzeichen fungiert das Ideogramm insbesondere auch dann als Begriffszeichen, wenn der Begriff ungegenständlich ist. Das ist bei »schweigen« der Fall. Das Wort bzw. der Begriff »schweigen« meint einen komplexen Sachverhalt, es zielt nicht einfach auf das Fehlen von etwas.

Kann man Schweigen hören? Kann man Schweigen sehen? Wie materialisiert sich Schweigen? Ist es rechteckig? Ist es ein rechteckiges Loch, eine bezeichnenderweise von seiner Benennung umstellte Auslassung, die selber nicht benannt werden kann, weil sie dann kein Schweigen mehr wäre. Muss also die Benennung verschwiegen werden, um das durch sie Bezeichnete performativ erfahrbar zu machen? Handelt es sich demnach beim Schweigen um einen Erfahrungsbegriff? Ist es ein beredtes Schweigen oder eine schweigende Rede? Meint »schweigen« bei Eugen Gomringer eine Aufforderung oder einen Zustand? Die Unentscheidbarkeit dieser Frage hat wohl die Kleinschreibung von »schweigen« motiviert. So kann es als Verb und zugleich als Substantiv bzw. substantiviertes Verb gelesen werden.

Gomringer setzt mit seinem Ideogramm das Wort »schweigen« autonom, er lässt es ohne ein anderes Umfeld als es selbst erscheinen, indem es bzw. der Betrachter zwischen den beiden Materialisierungsebenen seiner im Rechteck angeordneten vierzehnmaligen Benennung  und der gevierten Auslassung seiner potentiellen fünfzehnten Benennung hin und her oszilliert. Als Ideogramm auf Papier gesetzt, inszeniert »schweigen« eine Konstellation der Fläche, die vom Papier selbst begrenzt wird. Gehören die Grenzen des Papiers bzw. des jeweiligen Trägermediums bei jeder Reproduktion des Ideogramms also zu derselben, so gibt es gewissermaßen ein Interieur und ein Exterieur, ein inwändiges und ein auswändiges Schweigen: Im Feld des Unbenannten und Unbenennbaren leuchtet die Benennung auf: schweigen. Die Benennung kann nicht am selben Ort sein wie das Benannte.

Mit anderen Worten: Hat das Ideogramm »schweigen« keine andere Umgebung als sich selbst im unaufhebbaren Wechsel von gesagtem und ge- bzw. verschwiegenem Schweigen, die beide wechselweise aufeinander referieren als Differenz des Anderen, ist das semiotisch-strukturelle Grundmodell, das dem Ideogramm »schweigen« zugrundeliegt, ein paradoxaler Chiasmus: in der Rede vom Schweigen findest du das Schweigen nicht, das du nur findest, wenn vom Schweigen nicht mehr die Rede ist, der es aber bedarf, um Schweigen zu wissen. Die Rede vom Schweigen ist dort, wo das Schweigen nicht ist, das nur dort ist, wo von ihm als Schweigen gesprochen wurde im Sinne eines Zeigens.

Was sich hier vollzieht, ist ein unabschließbarer Prozess des gegenseitigen Verweisens. Hierbei operiert das Benennen statisch (schweigen = schweigen), seine Begriffs-Auslegung ist jedoch keinesfalls invariant; das Benannte erweist sich als leere Transzendenz, als das durch das Benennen immer wieder entdunkelte Imaginäre, mag man es als ewige Stille und die Angst vor ihr denken, als arkanes Wissen um das Unsagbare, zum Beispiel um den im Schweigen angerufenen Gott, oder als kontemplative Denkfigur, die als Benennung und Benanntes paradoxal in ihr Anderes kippt: Was hier abwesend ist, ist zugleich anwesend – und vice versa. Das Sichtbare und das Unsichtbare bilden so eine paradoxe Einheit. Die Stille des Schweigens wird permanent aufgehoben durch seine optische und mentale Valenz, die von der Performativität des Schweigens im Akt der (Selbst)Wahrnehmung – auch des Ideogramms »schweigen« – sprechen lässt. Es gibt kein Schweigen, es gibt nicht Nichts.

Eugen Gomringers Ideogramm »schweigen« repräsentiert weniger »schweigen« bzw. das Schweigen, als vielmehr den Medienwandel von der oralen zur Schriftkultur. Es operiert mit Präsenz und Entzug. Das, was entzogen wurde, fungiert als Memoria, als Gedächtnis und Gedenken. Unsagbarkeit ist dem Ideogramm als Repräsentationsproblem eingeschrieben. Das Imaginäre ist vorläufig unsagbar. Es manifestiert sich in Traum und ästhetischer Gestaltung gleichermaßen, die beide das Imaginäre mobilisieren. Das Imaginäre ist im Ideogramm »schweigen« zugleich entbunden und gefesselt: in bzw. als medial und gestalterisch kontrollierte(r) Umgebung soll es das imaginierende Subjekt nicht überschwemmen.

Das Ideogramm »schweigen« affiziert die Imagination. Was Schweigen ontisch ist, kann nicht propositional ausgedrückt, sondern in synonymischen Reihen immer nur verschoben werden. Diese Verschiebung zeigt sich im Ideogramm »schweigen« in der auch eine rhythmische Taktung und mithin Zeit signalisierenden Wiederholung: Das auf sich selbst abgebildete Schweigen vollzieht sich in der Zeit, die stillsteht (im Starren auf das Ganze) und gleichzeitig voranrückt (im Sprung von Wiederholung zu Wiederholung) und ist offen für die Operation, variierenden Signifikaten zugeordnet zu werden, während es doch selbst auf sich als einen Nullsignifikanten zielt. Das Verschwiegene, wenn es denn ein solches überhaupt gibt, und wir es nicht einfach nur appräsentieren, es dem Gebilde unterstellen – das Verschwiegene ist gewissermaßen die Sammelstelle, die Botanisiertrommel des Imaginären. Das Imaginäre als stets voranlaufendes, unerreichbares Begehrens ist ein Paradox: es ist und ist zugleich nicht, es ist Etwas, aber zunächst nichts Bestimmtes. Die Lücke in Gomringers Gestaltung »schweigen«, ein visuelles Gapping, die vielleicht berühmteste Ellipse der Literaturgeschichte, ist nicht nichts, sie ist etwas, aber nichts Bestimmtes. An ihr entzündet sich das poetische und das ästhetische Denken Eugen Gomringers. Durch diese Lücke schlüpfen seine Ideogramme und Konstellationen, die sich als Mobiles im kontextlosen Raum einfinden. Kontextlos, sieht man sie als autonome ästhetische Gebilde; nimmt man Gomringers Ideogramme und Konstellationen allerdings als ikonographische Statements im Bezugsrahmen einer Querelle des Anciens et des Modernes des 20. Jahrhunderts wahr, was ihrem Eigenwert nicht gerecht würde, läse man sie als bloße Inkunabeln avancierter/experimenteller Ästhetik, als das Andere, das dem Vorherrschenden das Stillschweigen auferlegt.

Ohne Ordnung ist Abweichung nicht zu denken. Mit dem Ideogramm »schweigen« zeigt Eugen Gomringer eine Ordnungspoetik, in der die Digression als unendliche Denkfigur implementiert ist. Dergestalt kann das Ideogramm auch als rhetorisches Modell beschrieben werden, dessen Gestalt aus Änderungsoperationen hervorgegangen ist. Die Rhetorik kennt vier verschiedene Änderungsoperationen, mit denen von einer Ordnung abgewichen wird. Das Ideogramm »schweigen« ist konstituiert durch die Operation der detractio, des Wegfalls bzw. der Entfernung eines Elements, wenn man die fünfzehnmalige Wiederholung des Wortes bzw. der Zentralchiffre »schweigen« als heautonome Setzung einer/der Normalform betrachtet. Die Repetitio, im Ideogramm »schweigen« auch in der Funktion einer rhythmischen Taktung, ist in der Rhetorik eine der »figurae per adiectionem«, die Lausberg zufolge der »Vereindringlichung« dient, die meist affektbetont sei, aber auch intellektuell ausgewertet werde. Die Wiederholung ist eine rhetorische Figur mit differenzierter Wirkungsabsicht. Wenn bei der Wiederholung derselben Wörter die »Erstsetzung des Wortes« die »normale semantische Informationsfunktion« hat und die Zweitsetzung »die Informationsfunktion der Erstsetzung« voraussetzt, darüber hinaus eine »affektisch-vereindringlichende Funktion« hat, so Lausberg gemäß dem römischen Rhetoriker Quintilian[1], fragt es sich, welche Informationsfunktion das Wort »schweigen« hat bzw. haben kann und ob das Wort »schweigen« bei Gomringer durch seine asyndetische Kontaktwiederholung nachdruckhaft gesteigert wird, oder ob nicht vielmehr die ideogrammatische Form den Affekt diszipliniert und ableitet in einen vom Teil zum Ganzen hin- und her oszillierenden Rezeptionsmodus meditativen Starrens, so dass dem Ideogramm trotz seiner Repetitio keine Pathosformel affektischer Überbietung eignet? Ich neige zu letzterer Annahme, mit folgender Begründung: Das Ideogramm »schweigen« ist und bleibt stumm. Insofern vollzieht es performativ einen Medienwandel von der Rede bzw. der Schrift hin zur stummen bildenden Kunst, es kann weniger gelesen als angeschaut werden: Der Betrachter kann auf Eugen Gomringers Ideogramm »schweigen« sehr schön starren.

Schweigen ist erfahrbar im Selbstvollzug des Schweigens. Als solches ist es jedoch ephemer, als Typus wird es von verschiedenen Token bespielt, die alle nur seine Stellvertreter sind. Mit seinem Ideogramm »schweigen«, aufgebaut mittels Wiederholungsprinzip und signifikanter Abweichung von ihm, zeigt uns Gomringer eine artifizielle Präsenz, eine stumme Anrufung des Schweigens, sein denkbares, mögliches Design. Das Ideogramm »schweigen« kreist in seinem eigenen viereckigen Kotext. Es fehlt nicht viel, und es wäre die Quadratur des Kreises.

Was repräsentiert Gomringers »schweigen«? Repräsentiert es das Nichtrepräsentierbare schlechthin, für das der Begriff »Schweigen« selbst nur eine Art Katachrese darstellt? Steht der Begriff »schweigen« für das Nicht-Begriffliche, das angeschaut, erlebt, kaum aber gedacht werden kann? »schweigen« kann nicht in den »epistemischen Kontext wahrheitsbezogener Begriffsverwendung und ihrer Logik«[2] gesetzt werden. Das Ideogramm »schweigen« als ein Bildzeichen des Nicht-Begrifflichen kann demnach vielleicht nur schweigend adäquat rezipiert werden.

Ist Gomringers »Schweigen« zweidimensional? Es ließe sich sicherlich als dreidimensionaler Kubus realisieren. Was aber wäre hierdurch gewonnen? Es ist ein Token der Literatur, aus Buchstaben gemacht. »Schweigen« ist eine Denkfigur. Als Denkfigur ließe es sich mehrdimensional denken/appräsentieren, ohne dass Mehrdimensionalität realisiert wäre.

Was verschweige ich, wenn ich auf diese Weise über Gomringers »Schweigen« spreche? Verlasse ich Fragen der experimentellen Semiotik und Materialästhetik und die ihnen korrespondierenden Wahrnehmungsmodi, steht es mir frei, mit »schweigen« einen bislang unterdrückten Begriff zu assoziieren: Silentium ist ein Begriff, der als Gebot vorbildlich in klösterlichen Kreuz- und Zellengängen praktiziert wird.Gibt es eine Rhetorik des Schweigens, so gibt es auch das Sakrale des Schweigens. Und es gibt eine Synthesis von Rhetorik und Schweigen: die rhetorica sacra. Von hier aus ist es nur ein Sprung zu Punkt6.522 in Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« Eugen Gomringers Ideogramm »schweigen« zeigt Unaussprechliches.

Gomringers Kunst elementarer Reduktion und Rekombination im Spannungsverhältnis der Intermedialität von Text, Bild und Skulptur hat ihm zuweilen den Vorwurf des (zu) Einfachen und sprachphilosophisch Naiven eingebracht und selbstreferenziell bloß an der Langue orientiert zu sein. Übersehen wurden dabei neben dem zeitgeschichtlich grundierten Impuls programmatischer Dekontextualisierung von Sprache bzw. Wörtern Kontemplation und Meditation als die rezeptiven Entsprechungen von Gomringers konkreten Verfahrensweisen, die sich nicht nur aus ästhetischen Kalkülen der Frühen Moderne, der historischen und (zeitparallelen) Nachkriegsavantgarden speisen, sondern auch von europäischer (Meister Eckhart) und fernöstlicher Mystik (Zen) beeinflusst sind. Dieser spirituelle Einfluss ist bildlich gesprochen zugleich die Brücke zu den späten Sonetten von Eugen Gomringer, die mit ihrer regulativen Strenge meditative Sinn-Erfahrungen konstellieren ganz im Sinne der Konkreten Poesie: »verstummen soll beim übertritt der schwelle/ all dein geschwätz und achte jedes wort«, heißt es in »citeaux« aus dem Band eines sommers sonette (edition signathur 2008). Achte jedes Wort, auch wenn es sich vielfach wiederholt. Was sich in »schweigen« vollzieht, ist kein antipoetischer Pleonasmus, kein Spiel, kein Witz. »schweigen« ist ganz ernst – und es macht Ernst: mit den Grenzen des Sagbaren, mit dem Imaginären, dem es so schön begehrenswert das Fenster öffnet. Und es fliegt hinein und wieder hinaus, das Imaginäre, wenn wir nicht hinschauen, und deshalb müssen wir Eugen Gomringers Ideogramm »schweigen« immer wieder durchqueren.

[1] Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 4. Auflage 2008, § 607-614, S. 310-311
[2] Joachim Bromand & Guido Kreis: »Einleitung: Begriffe vom Nichtbegrifflichen. Ein Problemaufriss«, in: Joachim Iromand, Guido Kreis (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion. Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 11-19, hier S. 12.

Michael Lentz, 1964 in Düren geboren, lebt in Berlin. Autor, Musiker, Herausgeber. Zuletzt erschienen: die Essay- und Aufsatzsammlung »Textleben« (2011), die Frankfurter Poetikvorlesungen »Atmen Ordnung Abgrund« (2013), der Roman »Schattenfroh. Ein Requiem« (2018), der Kommentar »Innehaben. Schattenfroh und die Bilder« (2020) sowie der Gedichtband »Chora« (2023), alle bei S. FISCHER ...

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