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Die Reise ins Unerhörte - über John Coltrane

55 Jahre nach seiner Aufnahme ist ein verloren geglaubtes Jazzalbum von John Coltrane (1926-1967) aufgetaucht. Der legendäre Saxophonist war auch für Roger Willemsen eine prägende Figur. Willemsens großer Coltrane-Essay ist ein Auszug aus seinem Buch »Musik!«, das im Oktober erscheint.

Roger Willemsen
© Anita Affentranger

Als John Coltrane zur letzten Tournee seines Lebens in Tokio eintraf, drehte er sich auf der Gangway zu seinen Mitmusikern um und sagte: »Es muss ein Prominenter im Flugzeug gewesen sein.« Narita Airport war schwarz von Menschen, aber erst durch ihre Transparente erfuhr Coltrane: Der Prominente war er selbst.

Auf den Fotos von dieser enthusiastisch begleiteten Tour haben die hinterbliebenen Tifosi die immergleiche Handhaltung entdeckt: Coltrane hält sich die Leber. Ein Jahr später stirbt er an Leberkrebs.

Unvorstellbar, aber er könnte heute noch leben, abseits von Dancefloor-Jazz und Kuschel-Rock, von Easy Listening, Pop-Klassik zum Träumen und Vivaldi für Gestresste. Er könnte noch leben, siebzigjährig, in seinem eigenen musikalischen Universum, und trotzdem wie alle demokratisch ereilt von dieser »Muzak«, wie John Lennon sie nannte, der akustischen Kontaminierung des Alltags durch den Ohrenschmaus aus Aufzügen, Kaufhäusern, Wartezimmern, Restaurants: Ein Triumph der Musik und ihrer Ausbreitung im Leben, und zugleich ihre Überführung ins Massengrab der Belanglosigkeit.

Was einmal ›Moderne‹ hieß, ist bis heute nur in den Büchern und Bildern dieses Jahrhunderts populär geworden. Die Musik schon der zehner und zwanziger Jahre erscheint dem größeren Publikum meist als Zumutung, als eine merkwürdig prätentiöse Anstrengung, etwas aus der bloßen Genießbarkeit zu befreien

Auch John Coltrane war ein solcher Prätentiöser, der glaubte, das Universum in die Musik bringen und die Grenzen des Hörbaren erweitern zu müssen. Auch er wurde zeit seines Lebens von Stimmen begleitet, die ihn verachtet, herabgesetzt, ja diffamiert haben. Der selbst niemanden hasste, wurde gehasst für die Obsessionen seines Spiels. Aber wenn ein Kritiker über Alban Berg einmal schrieb, man müsse sich angesichts seiner Kompositionen fragen, ob Musik nicht ›kriminell‹ genannt werden dürfe, so befindet sich Coltrane in guter und passender Gesellschaft.

Die Aggression, die er auch ausgelöst hat, hängt vielleicht mit der Freiheit zusammen, die er artikuliert, mit der Unbeirrbarkeit, die er verkörpert hat. Für dieselbe ist er geliebt, gefeiert, von manchen fast wie ein Heiliger verehrt worden. Den Weg seines musikalischen Lebens und Nachlebens begleiten die Stimmen derer, die ihm einige der glücklichsten und tiefsten Erfahrungen mit Musik überhaupt verdanken. Zu denen gehöre auch ich.

Vor dreißig Jahren starb John Coltrane. Aber über seinen Tod ist das Jahrhundert immer noch nicht hinweg. Er wäre etwa so alt heute wie seine Freunde, die Drummer Max Roach oder Roy Haynes, aber anders als diese kann man sich Coltrane nicht als Assistenzmusiker vorstellen, nicht als einen, der Standards wiederaufnimmt, Coverversionen kompostiert, eigene Bestseller neu arrangiert oder Didaktiker wird. Roy Haynes hat einmal gesagt: »Mit Trane zu spielen, das war ein schöner Albtraum«, und so kann man sich Coltrane auch heute nur als den Paten einer neuen Musik vorstellen, einen verrätselten Weisen, einen Alten auf der Schwelle zu einem neuen Territorium des Hörbaren, das er selbst immer weiter vor sich aufrollt. Denn genau das war seine Anstrengung über weit mehr als die Hälfte seines vierzigjährigen Lebens.

Vielleicht, nein, ganz sicher erschiene uns alles, was auf diesem Territorium läge, als strapaziös, anstrengend, kaum kohärent und vielleicht ähnlich schwer zugänglich wie die heutigen Filme von Jean-Luc Godard, der übrigens einen seiner Helden einmal vom Orgasmus verschnaufen lässt mit dem Satz: »Alles, was ich nach dem Sex brauche, ist eine Zigarette und ein Solo von Coltrane.« Na also. Nein, vermutlich würden die musikalischen Expeditionen des John Coltrane heute sogar ein bisschen unzeitgemäß wirken, so ernst nehmen sie die Musik, so spirituell fassen sie ihre Aufgabe, so energisch wenden sie sich vom Bekannten ins Unerhörte ab.

Coltranes Musik fehlt, weil sie radikal war, weil sie sich allein Gott und der Musik verpflichtet fühlte und nicht zuletzt auch aus dem schlichten, aber gewichtigen Grund, weil sie nicht-kommerziell war. Trotz aller Beschönigungen ist dies wahrscheinlich die Frage, die alle kulturellen Produktionen kategorisch unterscheidet: Wollen sie primär verkäuflich sein, oder wollen sie primär ihr Medium erkunden, es verändern und umbilden? Organisieren sie sich zuerst als ästhetische Form oder als ein Subunternehmen des Firmen-Marketings? Nicht auszudenken, welche Kultur entstünde, müsste sie nicht verkauft werden!

John Coltrane ist der Inbegriff des unkommerziellen Musikers, und er ist auf dem Weg über die Grenzen dessen hinaus, was man als Musik vor ihm kannte, auch zu einem der befreiendsten Musiker der Musikgeschichte geworden. Man kann ganz einfach und pathetisch sagen: nach ihm war in der Musik nichts mehr wie zuvor. Er hat das Gesicht der Musik verändert, er hat es für alle Zeiten verändert. »Ich kann nichts tun, wenn es nicht ins Extreme geht«, formulierte er, der Bescheidene, der das Extreme nicht um des Extremen willen gesucht, der es vielmehr auf sich gezogen hat.

Man sollte also nicht verlangen, ihn sofort, an jeder Stelle und auf Anhieb verstehen zu können, man sollte ihm nicht mit dem Konsumverhalten begegnen, das die millionenschweren Ohrwurm-Produktionen des Pop-Adels erlauben, vielmehr sollte man sich bei der Durchquerung des Werkes von John Coltrane auf eine lange Reise gefasst machen, eine Reise durch den ganzen Horizont eines Lebenswerkes wie in die Tiefe der Musik selbst.

Nicht selten lag diese Tiefe gleich unter dem Banalen. Einer der Coltrane-Titel ist bis zum heutigen Tag »My Favourite Things«, entwickelt aus einer Rodgers-and-Hammerstein-Komposition, die 1965 in dem Film-Musical »The Sound of Music« von Julie Andrews weltberühmt gemacht werden sollte. Schon fünf Jahre zuvor aber hatte sich dieser Broadway-Schlager zu einem New Yorker Gassenhauer entwickelt. Dass Coltrane Gefallen an der süffigen kleinen Komposition findet, ist bezeichnend. Er hat sein Leben lang Volksweisen, Chansons, Musical-Titel aufgenommen und zur Grundlage seiner Exkursionen genommen, und so bleibt auch in diesem Fall die Behandlung des Themas respektvoll und unironisch.

Coltrane gelingt hier, wie in vielen seiner charakteristischen Kompositionen, die förmlich sinfonische Entfaltung eines Klangteppichs, der in Wirklichkeit nur von den drei Musikern McCoy Tyner, Klavier, Steve Davis, Bass, und Elvin Jones, Schlagzeug, ausgebreitet wird.

Außerdem zelebriert dieser berühmteste Coltrane-Titel die Wiedereinführung des Sopransaxophons in die Welt des Jazz. Schließlich handelt es sich um ein Instrument, das seit Sidney Bechet, dem sogenannten »König des Sopransaxophons«, keine besonderen Ehren mehr genossen hatte und das Coltrane eigentlich nur durch Zufall begegnet war. Auf der Rückreise von einem Konzert in Washington im Jahre 1959, so erzählt er selbst, ging ihnen an einem Rastplatz ein Saxophonspieler verloren, der die ganze Zeit schweigend hinten im Wagen gesessen hatte. Zurück blieb sein Instrumentenkoffer, den Coltrane zu Hause in New York in seine Obhut nahm und öffnete. Er fand ein Soprano darin und war fasziniert.

Interessanterweise schreibt es sich in seiner Autobiographie Miles Davis selbst zu, Coltrane mit dem Sopransaxophon bekannt gemacht zu haben. Eine Pariser Antiquitätenhändlerin, so erzählt er, hatte ihm das Instrument vermacht. Er wiederum schenkte es Coltrane im Jahre 1960 und bezeugte selbst, wie dessen Stil sich änderte, der Sound plötzlich eigen und unvergleichlich wurde, auch weil er auf dem Soprano schneller und leichter spielen konnte als auf dem Tenor. Unter Coltranes Händen klingt das Soprano manchmal wie eine Schalmei: schlank, schneidend klar und bis ins Staccato hinein sinnlich. Trotzdem führt er das Instrument hinaus aus den klaren Linien der Cantilenen bis an die Grenzen eines geradezu impressionistischen Farbenspiels mit überraschenden Phrasierungen, virtuosen Tempuswechseln, überschäumender Spielfreude, Vitalität, hoher Energie und voller Bewegungsfreiheit in einem schier unerschöpflichen Reservoir der Intervalle, Klänge, Rufe und Gesänge.

»My favorite things« nimmt eine Schlüsselposition in der öffentlichen Auseinandersetzung mit John Coltrane ein. 1960, als die Platte herauskam, war die Epoche des Swing vorbei. Auf der einen Seite führten die Erfolge der Popmusik zu einer erheblichen Einschränkung des Jazz-Marktes, auf der anderen Seite hatte der Bebop selbst das Seine getan, die großen Orchester zu zerschlagen und durch Quartette und Quintette zu ersetzen. Selbst Count Basie musste sein Orchester verkleinern und zusehen, wie große Solisten vom Range eines Lester Young oder Coleman Hawkins plötzlich in kleinen Ensembles auftraten. Wer in diesen Jahren ein paar Tausend Exemplare einer Jazzplatte verkaufte, hatte einen Erfolg gelandet. »My favorite things« dagegen verkaufte sich in einem einzigen Jahr fünfzigtausendmal und etablierte John Coltrane endgültig bei Hörern und Kritikern.

Das ist bemerkenswert, denn Coltrane war zu diesem Zeitpunkt bereits 34, hatte mit Thelonious Monk und Miles Davis gespielt, mit beiden Platten veröffentlicht, und er hatte erst ein Jahr zuvor – also verhältnismäßig spät – seine erste wichtige, auch stilistisch gänzlich eigenständige Produktion als Bandleader vorgelegt, das heute klassische Album »Giant Steps«. Trotzdem war er bis dahin eher Musikliebhabern und Musikern ein Begriff.

Die Kritik hatte ihn bislang weitgehend harsch und unverständig behandelt. Von Lärmbelästigung war die Rede, von der Zerstörung der Musik und kakophonischer Verwirrung. Kein Gedanke daran, ihm einen ähnlichen Rang einzuräumen wie Charlie Parker, Thelonious Monk oder Miles Davis, und selbst der in diesen Jahren kometenhaft aufsteigende Ornette Coleman – der in der Freiheit der Phrasierung, in Energie und Tempo, vieles mit Coltrane teilt und übrigens auf dessen Beerdigung spielte –, selbst Ornette Coleman also fand früher die breite Zustimmung gerade der Musikkritik als Coltrane.

Mit »My favorite things« wurde all das anders. Der Kritiker der »Sunday Tribune« in Minneapolis nennt sie »eine seiner besten Aufnahmen« und führt aus: »Coltrane ist kein Künstler, den man nebenbei hören kann. Bevor du auch nur annähernd seine Talente erfassen kannst, verlangt er deine vollkommene ungeteilte Aufmerksamkeit. Der Strom musikalischen Bewusstseins, den er ausstößt, kann meiner Meinung nach mit einigen Werken von James Joyce verglichen werden. Die Musik, die er kreiert, mag manchem Hörer unverständlich sein; ihr Gewicht und ihre Bedeutung liegen jedoch in Coltranes innerem Bedürfnis, in blitzartiger Schnelligkeit ein vollständiges musikalisches Gewebe zu schaffen.« Publikum und Rundfunkstationen schlossen sich an, und noch auf jener letzten, der Japan-Tournee, verging kaum ein Termin, bei dem die frenetischen Zuhörer nicht nach »My favorite things« verlangten. Mancher mag allerdings damals seine Lieblingskomposition kaum wiedererkannt haben, so uferlos waren inzwischen die Soli, so sinfonisch klang das Ensemble. Es hat Coltrane nie gelegen, zweimal das Gleiche zu spielen. Sein Werk ist ohne Rückwege.

Wer den Klang des Sopranos auf »My favorite things« vernimmt, wird sich erinnert fühlen an das erste Instrument, mit dem der junge John Coltrane noch als Kind in Berührung gekommen war und das er auch eine Zeitlang gespielt hatte, die Klarinette. Damals am ehesten ein Dixieland-Instrument, zog sie John der Geige seines Vaters und dem Horn vor, das man ihm ebenfalls in die Finger gedrückt hatte. Trotzdem sollte er die Klarinette schon bald – ähnlich wie Eric Dolphy – gegen das Saxophon eintauschen.

Übrigens war die Familie so tief religiös wie musikalisch. Coltrane aber ließ sich neben der Gospelmusik der obligatorischen Gottesdienste auch vom Radio inspirieren, wo der Swing herrschte und wo Duke Ellington und Count Basie, Coleman Hawkins und Lester Young neuen musikalischen Boden erschlossen.

Seine Liebe galt zunächst dem weniger populären Lester Young, seinem schlanken, manchmal fast spröden Sound, seinem mutigen Improvisieren. Lester Young stand für den Ausbruch aus gängigen Swing-Stereotypen, für Intelligenz und Radikalität im Umgang mit Harmonien. Er hat selbst als Begleiter von Billie Holiday viele Soli ohne gesanglichen Zuschnitt gespielt.

Vermutlich entschließt sich Coltrane nicht zuletzt unter dem Einfluss dieses Vorbilds, das Tenorsaxophon zu seinem eigentlichen Instrument zu machen. Ein Lehrer riet jedoch davon ab, und so begann der Dreizehnjährige zunächst mit dem Unterricht auf dem Alt-Saxophon. Schon bei seiner dritten Plattenaufnahme, im Jahre 1951 in der Band von Dizzy Gillespie, wird er allerdings in den Credits bereits mit Alto und Tenor verzeichnet.

Als Kind hatte John am Radio den großen Big Bands gelauscht. Dass er sich auch weit später noch dem Swing verpflichtet fühlte und ihn meisterlich beherrschte, beweist ein Gipfeltreffen zwischen Duke Ellington und John Coltrane, das der Plattenproduzent Bob Thiele im September 1962 für das »Impulse«-Label zustande brachte.

Man muss sich die Situation vorstellen: Coltrane war seit 1945 Berufsmusiker. Erklärter Pazifist, hatte er bei der Marine auf Hawaii etwa tausend Stunden als Klarinettist in einer Marschkapelle absolviert und dort ebenso Swing gespielt wie auch bei seinen frühen Engagements als Saxophonist. Er hatte also für einige Zeit fast zwangsläufig unter dem Einfluss von Duke Ellington gestanden, seine eigenen musikalischen Expeditionen aber hatten ihn, als er Duke Ellington zu jener Plattenaufnahme traf, längst in Zonen jenseits der populären Big-Band-Strömungen der Zeit davongetragen.

Ellington andererseits erkannte den Neuerer am Geruch, er sympathisierte mit dessen Drang zur Expansion des Hörbaren. Gleichzeitig fühlte sich der Altmeister erleichtert, einmal aus der verantwortungsvollen Position des großen Bandleaders entlassen zu sein und mit einem bloßen Sextett zu arbeiten, wo ihm allenfalls die Verantwortung für das eigene Klavierspiel blieb.

Schließlich trafen hier zwei Musiker zusammen, deren Arbeit sich im Wesentlichen auf komplementären Feldern abgespielt hatte: Ellington war vor allem als Kompositeur und Arrangeur, Coltrane vor allem als Instrumentalist hervorgetreten und war zu jener Zeit noch nicht lange der Leader eines sich allmählich fest formierenden Quartetts. Nach Abschluss der Arbeit gab er sich gewohnt bescheiden, sprach von der großen Ehre und Freude, mit Duke zusammenzuarbeiten, und fügte hinzu: »Er hat Maßstäbe gesetzt, denen ich noch gar nicht wirklich gerecht geworden bin. Am liebsten wäre ich über alle diese Aufnahmen noch einmal hinübergegangen, aber ich nehme an, damit hätten sie ihre Spontaneität verloren und wären am Ende doch nicht besser geworden.« Ellington war ganz entschieden dieser Ansicht und bestand darauf, es bei den ersten Takes zu belassen.

Eröffnet wird die Zusammenarbeit der beiden von einer Version des Ellington-Klassikers »In a Sentimental Mood«, die Johnny Hodges als die beste Fassung des berühmten Titels überhaupt bezeichnet hat. Man meint, den Respekt Coltranes förmlich hören zu können. Sein Solo hat einen zarten, elegischen Klang und spannt sich über die Repetitionen des Klaviermotivs in weiten, melodiösen Bögen. Am Ende aber bleiben allein Dukes Klavierakkorde stehen, die Coltranes Melodie nachhängen wie einer flüchtigen Erscheinung.

Coltrane hatte das Glück, in seinem kurzen Leben mit einigen der Musiker unmittelbar zusammenzuarbeiten, die für seine musikalische Entwicklung von eminenter Bedeutung waren. Neben Duke Ellington waren das vor allem Thelonious Monk, Miles Davis, Sonny Rollins und Eric Dolphy. Die letzteren beiden waren über lange Zeit seine besten Freunde, und als Eric Dolphy nicht lange vor Coltrane stirbt, trifft diesen sein Tod ins Mark.

Was Sonny Rollins angeht, so enthält schon eine 1959 aufgenommene Platte die freundschaftliche Huldigung eines Titels, überschrieben »Like Sonny«, und Rollins selbst hat einmal gesagt: »Coltrane und ich lernten einander 1950 in New York kennen, wo wir bei einigen denkwürdigen Gigs mit Miles Davis zusammenspielten. Bei ihm musste ich besonders aufmerksam zuhören; anfangs wusste ich oft nicht, was er machte und wo er hinauswollte, aber dann hörte ich noch genauer hin, und schließlich begann ich, seine Musik besser zu verstehen. Später wurden wir dann gute Freunde, immerhin gut genug, um mir Geld von ihm auszuleihen, und das habe ich außer bei Coltrane und Monk niemals getan.«

Wie wichtig die Begegnung mit Monk dabei war, verrät Coltrane selbst, wenn er sagt: »Die Arbeit mit Monk brachte mich in die Nähe eines musikalischen Architekten allerhöchsten Ranges. Ich fühlte, dass ich von ihm in jeder Weise lernen konnte – sinnlich, theoretisch und technisch. Ich sprach mit ihm über musikalische Probleme, und seine Antworten gab er mir auf dem Klavier. Beim Spielen gab er mir völlige Freiheit; das hat vor ihm niemand getan.«

Man stelle sich den Raum vor, in dem sich diese Freiheit entwickelte. Monk, der Eigenbrötler und Sonderling schlechthin, genoss einen ähnlichen Ruf, wie man ihn Coltrane anhängen würde: musikalisch unzugänglich, dissonant, avanciert in seiner Harmonik und von der Kritik gescholten wegen angeblicher Unfertigkeiten, vermeintlicher Dilettantismen, die man dem geborenen Autodidakten nicht als Ausdrucksmittel durchgehen lassen wollte. Auch Monk schien lange als ein Musiker für Musiker missverstanden zu werden, auch wenn er sich – vielleicht nicht zuletzt wegen seines wunderlichen Gebarens auf der Bühne – eines begeisterten Publikums erfreute.

Coltrane und Monk traten im Frühjahr 1957 erstmalig gemeinsam im »Five Spot« in New York auf. Ihre Zusammenarbeit dauerte ein halbes Jahr und endete unter mysteriösen Umständen so plötzlich, wie sie begonnen hatte. Zunächst sollte man allerdings hervorheben, dass dieses Jahr 1957 in Coltranes Leben zum Schicksalsjahr wurde. Vier Jahre zuvor nämlich war er in Philadelphia zum Junkie geworden, hatte zuletzt mit Heroin versucht, sich mehr und mehr Quellen für neue musikalische Einfälle zu eröffnen, die Phantasie zu stimulieren und sein Bewusstsein in unbekannte Territorien vordringen zu lassen.

Jetzt, zu Beginn des Jahres 1957, ist er der Folgen dieser Abhängigkeit müde, schließt sich in seinem Zimmer ein, nimmt nur Wasser zu sich und kommt nach knapp einer Woche entgiftet wieder heraus, um für immer von seiner Drogenkrankheit geheilt zu bleiben. Gegen sein Lebensende zu sollte er sogar noch dem Tabak und dem Fleisch entsagen und völlig asketisch leben.

Zweitens ist dieses Jahr 1957 das Jahr eines Erlebnisses, das Coltrane seine »spirituelle Erweckung« nannte und das er nie genauer beschrieben hat. Von Hause aus ein religiöser Mensch, fühlt er sich nun durch die Gnade Gottes zu einem reicheren produktiveren Leben erweckt und dankt dem Himmel »für die Fähigkeit und das Privileg, andere durch Musik glücklich machen zu dürfen«. In diesem Sinne, aber auch als Weg zu einer »Schau« eigener Art, versteht Coltrane die Musik als eine »Kraft zum Guten«. Er hat deshalb auch nie verstanden, warum seine Arbeit an der Menschheitsaufgabe der Humanität nicht verstanden wurde, fühlte er sich doch bestimmt, diese Aufgabe mit allen Kräften und allen zu Gebote stehenden musikalischen Möglichkeiten zu verfolgen.

Seit kurzem clean, arbeitet er sich also allabendlich an der Seite einer seiner Leitfiguren, nämlich Thelonious Monk, in ein neues Verständnis von Harmonien, in neue Techniken und eine neue Konzeption des Solos hinein. Hatte er schon früher in seinen Improvisationen Motive und Themen gerne durch unterschiedliche Tonarten transponiert, gekontert und ineinander verschachtelt, so bleibt er jetzt, wie er selbst sagt, so lange bei einem Motiv, bis ihm buchstäblich nichts mehr dazu einfällt – und das bedeutet nicht wenig.

Die Soli werden lang, sie nehmen etwas von der durchbrochenen Rhythmik, der Kurzatmigkeit und Wendigkeit von Monks Spiel an. Die Stimme des Saxophons passt sich in bemerkenswerter Intuition den zahlreichen Wechseln an und geht weite Wege. Man spürt, wie sehr hier der Kontext stimmt, und ist diese Musik auch eigentlich disziplinierter, als sie klingt, so scheint sie doch im Geburtsvorgang bewahrt worden zu sein. Der Hörer betritt ein Laboratorium des Jazz, wo völlig neue akustische Reihen generiert werden. All das schlägt sich auf der gemeinsamen Platte »Monk and Trane« in glücklicher Intensität nieder. Hier wird zwischen den beiden Musikern ein Lebensgefühl wach, das in seiner Kraft, seiner Jugend und seiner Urbanität spontan verständlich geblieben ist und von fern mit den Tempiwechseln und der großen Gleichzeitigkeit der Großstadt korrespondiert.

Bemerkenswert, dass Coltrane feststellt, er habe unter Thelonious Monk mehr Freiheit gehabt als je zuvor. Immerhin hatte er seit 1955 bis zum November 1956 – also nur wenige Monate bis zur Zusammenarbeit mit Monk – in der Gruppe von Miles Davis gespielt, und dieser war eigentlich berühmt für die maximale Freiheit, die er seinen Musikern einräumte.

Das bedeutete allerdings auch: Miles verwahrte sich gegen zu strenge Absprachen, ermunterte seine Musiker eher, auch auf der Bühne die Instrumente wie bei einer Probe auszuprobieren und ebenso klingen zu lassen, wobei es auch passieren konnte, dass er selbst sein Solo spielte und anschließend die Bühne verließ. Andererseits, so berichtet Cannonball Adderley, der zeitweilig ebenfalls in dieser Formation mitspielte, konnte es passieren, dass Miles nach einem von dessen Soli zu Coltrane ging und fragte: »Mann, warum brauchst du so lang?« Und Coltrane erwiderte dann: »Tut mir leid, aber es dauerte so lange, bis ich alles untergebracht hatte.«

Miles mochte Coltrane, ob er ihn zu jeder Zeit seines Lebens wirklich erkannte, ist fraglich. Immerhin aber haben die beiden Musiker mit Unterbrechungen sechs Jahre lang miteinander gearbeitet, zahlreiche Platten zusammen aufgenommen und selbst eine England-Tournee gemeinsam bestritten.

Die Ausgangssituation war dabei nicht ganz einfach. Als Coltrane zu Miles stieß, war dieser als Einziger seiner Gruppe gerade clean. Das mag Miles’ Gereiztheit gegenüber seinen Mitmusiker-Junkies, nämlich Red Garland, Paul Chambers, Philly Joe Jones und dann eben auch Coltrane verstärkt haben. Jedenfalls kam es verschiedentlich zu Reibereien zwischen dem chronisch sanftmütigen Saxophonisten und seinem hochfahrenden Bandleader.

Eine dieser Episoden beschreibt Miles selbst in seiner Autobiographie: »Die letzten Aufnahmen für Prestige fanden im Oktober 1956 statt, und danach ging ich mit der Gruppe wieder ins Café Bohemia. Und dort lief ziemlich viel Mist zwischen mir und Coltrane ab. Das Ganze hatte sich schon länger angebahnt. Man konnte kaum mit ansehn, was Trane mit sich anstellte; er trank viel und war jetzt wirklich voll auf Heroin. Dauernd kam er zu spät und schlief auf der Bühne ein. Eines Abends war ich so wütend auf ihn, dass ich in der Garderobe auf ihn einschlug. Thelonious Monk war an dem Abend auch da, er war nach hinten gekommen, um Hallo zu sagen, und bekam mit, was ich mit Trane machte. Als er sah, dass sich Trane überhaupt nicht wehrte und einfach nur wie ein großes Baby dasaß, platzte ihm der Kragen. ›Mann‹, sagte er zu Trane, ›wenn einer so wie du Saxophon spielt, braucht er sich so was nicht bieten zu lassen; du kannst jederzeit bei mir spielen. Und du, Miles, solltest ihn nicht so behandeln.‹« Ungeachtet dieser Worte, feuerte Miles Coltrane noch am selben Abend, dieser fuhr heim nach Philadelphia und meisterte seinen Entzug.

Nach seinem halbjährigen Zwischenspiel bei Monk aber kehrte er Ende 1957 wieder zu Miles zurück, und da es nicht so viele Menschen gibt, über die sich Miles Davis mit warmer Sympathie geäußert hat, seien auch jene anderen Worte zitiert, die er in seiner Biographie für den vielleicht größten Saxophonisten fand, mit dem er je gespielt hat: »Ich liebte Trane, wirklich, obwohl ich mit ihm nie so oft rumhing wie mit Philly Joe. Trane war ein spiritueller, ein wunderbarer Mensch, wirklich liebenswert. Man musste ihn einfach mögen und sich um ihn kümmern. (…) Trane hatte es drauf, er war phänomenal. Sobald er das Horn in den Mund nahm, war er wie besessen. Er war so leidenschaftlich und wild – und doch so still und sanft, wenn er nicht spielte. Ein liebenswerter Mensch.«

Der erste Titel auf der ersten gemeinsamen Platte ist so etwas wie eine Huldigung an den gemeinsamen musikalischen Paten, es handelt sich um eine vollendet ausformulierte Fassung des Klassikers aus der Feder von Thelonious Monk: »Round Midnight«. Coltrane scheint auf einem Höhepunkt seiner musikalischen Individualität angekommen, er ist ganz er selbst, uneingeschüchtert gleichermaßen von der Größe der kompositorischen Vorlage wie von der seines Bandleaders.

Trotz ihrer Versöhnung blieben sich die beiden Männer, die musikalisch so vollendet miteinander kommunizierten, persönlich eher fremd. Während Miles in Bars herumhing, zum Boxtraining ging oder sich Frauen einlud, kehrte Coltrane auf Tourneen gleich auf sein Hotelzimmer zurück und übte. Nichts schien ihn ähnlich zu stimulieren wie die kontinuierliche Arbeit an der eigenen musikalischen Entwicklung, und schließlich verstand er diese ja nicht als eine Sache der Persönlichkeitsentwicklung, sondern als eine »Kraft zum Guten«, also geradezu als eine Sache des spirituellen Allgemeinwohls. Miles selbst hörte es offenbar mit Befremden, wie Coltrane ihm sagte, er habe in seinem Leben zu viel Zeit vergeudet und dabei zu wenig an seine Familie und vor allem an seine Musik gedacht. »Es war fast so, als hätte er eine Mission zu erfüllen«, folgerte Miles.

Damit war er nicht weit von der Wahrheit entfernt, und es ist sicher bezeichnend, wenn es von der letzten gemeinsamen Tournee heißt, Coltrane habe gewirkt, als könne er jeden Augenblick aussteigen, er habe im Bus nur immer aus dem Fenster gesehen und dabei die Skalen indischer oder orientalischer Tonsysteme geübt. Trotzdem notiert Miles, als er sieben Jahre später durch Harold Lovett von Coltranes Tod erfährt, mit echter Trauer: »Er fehlt mir, sein Geist, seine schöpferische Phantasie und sein suchender, innovativer Ansatz. (…) Aber er hat uns seine Musik hinterlassen, und wir können alle davon lernen.«

Es bleibt auch in diesen Beschreibungen etwas Rätselhaftes an der Gestalt John Coltranes, etwas, das alle seine Zeitgenossen mit Ehrfurcht als seine Größe, seine Integrität und Güte bezeichnet haben. Sein Charisma bleibt in allen Zeugnissen über ihn fraglos, und so viel man auch liest, man wird keine einzige Aussage finden, die ihn menschlich herabsetzt. Selbst wo er von Kritikern in seiner Musik missverstanden und zum Teil übel verurteilt wird, bleibt er in den wenigen eigenen Interviews zurückhaltend und verbindlich und suchte den Fehler eher bei der eigenen, nie ganz vollendeten Musik als bei den Berufshörern.

Gleichzeitig hat die Musik, die er hinterlassen hat, ähnlich wie die von Miles Davis, und gewiss nicht weniger nachhaltig, Generationen von Jazzmusikern geprägt. Ja, während der Einfluss von Miles gerade im Electric Rock und Funk besonders stark ist, blieb Coltrane der Schutzpatron aller jungen Saxophon-Virtuosen, die die Brillanz ihrer Instrumentenbeherrschung oft noch in keine echte Beziehung zu ihren musikalischen Einfällen bringen können und denen vor allem fehlt, was Coltrane jedem einzelnen seiner Titel mitzugeben vermochte: soul.

Coltrane hatte ein schönes Gesicht mit ausdrucksstarken, ernsten Augen, die das Gegenüber so lange und ruhig fixieren konnten, dass es manchen Gesprächspartner irritierte. Glaubt man den Fotos und Fernsehaufzeichnungen, so hat er selten gelächelt, meist sieht man ihn konzentriert, die Hand am Mund – ähnlich wie auf dem berühmten »Blue Train«-Cover – oder versunken. Zu seinen Auftritten kleidete er sich gut, aber ohne die Ambition und ohne die Exzentrik eines Miles Davis. Wie dieser spielte er niemals den ›Amüsierneger‹, wie ihn zum großem Ärger von Miles Musiker wie Louis Armstrong, Lionel Hampton und auch Dizzy Gillespie manchmal gaben, sei es, weil ihnen Entertainment lag, sei es, um sich dem weißen Publikum gefällig zu machen. Andererseits stand Coltrane, anders als Miles, auch nie mit dem Rücken zum Publikum auf der Bühne. Die Bandmitglieder nannten ihn eine Zeitlang sogar »Country Boy«, weil er die Angewohnheit hatte, zwischen den Soli heimlich seine Schuhe auszuziehen, und weil er keine Socken trug. Selbst Naima, seine erste Frau, die er 1955 heiratete, sagt über ihre erste Begegnung: »Ich fand ihn nett, aber ein wenig auf der ländlichen Seite.«

Mehrmals wurde überliefert, es sei schwierig gewesen, mit Coltrane in Verbindung zu kommen. Ebenso wird aber immer wieder berichtet, ein wie insistierendes, konzentriertes Gegenüber er sein konnte, sobald ihn interessierte, was sein Gesprächspartner zu sagen hatte. Er war kein Mann des Smalltalk und trat niemandem nahe, der seine Leidenschaft für das Spirituelle nicht teilte, denn in der geistigen Entwicklung und Verfeinerung, in der Innenschau und der religiösen Erhebung erkannte er die eigentliche Aufgabe des Menschseins und also auch die der Musik.

Seit Coltranes lebenslustiger Vater gestorben war – der Sohn zählte damals erst zwölf Jahre –, hatte er sich schwierigen Lektüren hingegeben, war mehreren Buchclubs beigetreten, hatte Bibel, Koran, religions- und allgemeinphilosophische Schriften extensiv studiert. Seine Mitmusiker faszinierte es zu sehen, wie dieser glühende Avantgardist auf Konzertreisen bis zu vier Bibeln im Gepäck mit sich trug, dazu ein zweibändiges Werk über Negro Spirituals, den Koran und andere geistliche Schriften. Daneben praktizierte er Yoga. Wenn er übte, stellte er einen Kassettenrekorder an, um sich später noch einmal überprüfen zu können. Selbst auf der Bühne stand er oft wie unbeteiligt, völlig in sich versunken da, als hinge er nur seinen Gedanken nach, lächelte aber doch einmal kurz, wenn einem seiner Mitmusiker in einem Solo ein besonders guter Einfall gelungen war.

John Coltrane spielte immer. In seiner Garderobe, auf der Straße, im Bus, gehend, stehend, liegend, immer war er von seinem Sound eingehüllt. Auf der Bühne sah man seine Lippen fast unbeweglich, setzte er einmal ab, wich das Mundstück nur zwei Finger breit zurück, wurde aber sofort wieder geschnappt, weil er sich unhörbar weiter in sein Solo hineinarbeitete. Man sieht nicht, wann er Luft geholt hat, man weiß nicht, wo das Mundstück endete und der Mund begann. So verlässlich wie ihm der Atem ging, spann er um sich das Gewebe seines charakteristischen Sounds.

Auf dieser Strecke hat er allmählich das Hörbare über die Grenzen des Bekannten hinausgeschoben, in Intervallen, die vorher nie gefunden, auf Wegen, die nie eingeschlagen worden waren und ins Schwerverständliche und Schmerzhafte führten. Auch Coltranes Gesicht sieht schmerzverzerrt aus, wenn er dort ankommt. Die Expressivität des Dissonanten tut ihm wie dem Hörer weh. Wie altmodisch, sich durch Musik Schmerzen zuzufügen, wie messianisch! Aber das ist es wohl auch, was seine Expeditionen in den inneren Bau der Musik spirituell und metaphysisch werden lässt. »Halleluja«, »Auferstehung«, »Gebet und Meditation« heißen späte Titel.

Coltrane unternahm diese Reise erst mit Naima, dann mit seiner zweiten Frau Alice und ein paar befreundeten Musikern. Er gab das Zusammenspiel nicht auf, spielte aber eigentlich eine Musik ohne Adressaten. Der Weg, den er nahm, war also so paradox wie eine Kommunikation ohne Hörer, immer entlang jener Linie, an der man Dinge macht, die aus Freude bestehen oder aus Aufregung, aber nie aus Gleichgültigkeit.

Coltrane, der vor siebzig Jahren geboren wurde, wirkt jetzt wie die Allegorie des zeitgenössischen Künstlers: kontinuierlich spielend, wie um den Strom der Mitteilung nicht abreißen zu lassen, spielend ohne Gegenüber und ohne Zugeständnisse an die Öffentlichkeit, auf einer Exkursion, die das, was sie erreichen wollte, selber war. Wenn sich die künstlerischen Ambitionen der Gegenwart an dem Schweigen messen, von dem sie sprechen und das sie auslösen, dann war John Coltrane ein Entdecker der Gegenwart. Er hat mit seiner Zeit vor allem korrespondiert, indem er ihr beibrachte, sich selbst nicht zu verstehen. Lauter unentschlüsselt untergehende Botschaften!

Aber dann gab es auch jenen Coltrane, der durchaus an der Welt der Wissenschaft, der Politik, ja selbst des Films teilnahm. Der lebende Mensch, den er am tiefsten bewunderte, war Albert Einstein. Gleichzeitig bemühte er sich, im Fernsehen keinen Film der Marx Brothers zu verpassen, wobei er sich von Harpos Harfenspiel so rühren ließ, dass er, zum Verdruss seiner Frau, endlich selbst eine Harfe anschaffte, auch wenn sich Naima weigerte, darauf zu spielen. Coltrane besaß ein Teleskop, er spielte Schach, er beschäftigte sich mit Ägyptologie und vertiefte sich in seinen späteren Jahren auch in die Schriften von Platon und Aristoteles.

Als er Charlie Parker begegnete, sagte dieser ganz profan: »Coltrane. Dein Name gefällt mir. Er erinnert mich irgendwie an köstliche englische Muffins.« Keine schlechte Assoziation, erinnerte sich der so Geehrte doch selbst gerne an Muffins, Süßkartoffelkuchen und Konfekt aller Art – was erstens dazu führte, dass er – wie Charlie Parker – immer wieder unter Gewichtsproblemen litt, und was ihn zweitens zu vielen schmerzhaften Begegnungen mit Zahnärzten zwang, die durch ihre Eingriffe vor allem versuchten, ihm das Vibrieren des Tons im Mund weniger peinvoll zu machen.

Der andere Berufsstand, mit dem Coltrane wiederholt schmerzhafte Berührung pflegte, war der des Friseurs. Mehrmals wurde er wider Willen fast kahl geschoren, einmal schnitt ihm einer dieser Barbiere sogar ein Stück Fleisch aus dem Ohr. Danach griff der Gezeichnete nur noch selbst zum Schermesser.

Schließlich ist es geradezu rührend zu erfahren, wie Coltrane, der eine verhältnismäßig hohe Sprechstimme besaß, auf Tourneen immer wieder Beispiele seines Gesangs gab. Er sang nicht gut, so wird überliefert, aber mit vollem Ernst und erfreute die Bandmitglieder im Bus wiederholt durch den angestrengt intonationssicher angelegten Gesangsvortrag von »O Sole Mio«.

Die Spuren des privaten Coltrane sind im Werk verstreut und selten deklariert. Verschiedentlich huldigt er musikalisch seinen Mit-Musikern und Anregern. Auch hinterlässt er auf »Giant Steps« eine herrliche Komposition für »Cousin Mary«. Die vertrauteste aller Coltrane-Balladen aber widmet er seiner ersten Frau Naima, und wenn es sich hier um ein Liebeslied handeln sollte, dann gehört es zu den nachdenklichsten, unverspieltesten seines Genres. Wer jedoch eine selbstoffenbarende, expressive Huldigung an die Geliebte erwartet, der muss sich von der Klarheit und dem Ernst des Stückes eines Besseren belehren lassen. Coltrane hat diese Ballade immer wieder gespielt, er hat sie, delikaterweise auch mit seiner zweiten Ehefrau, Alice Coltrane, vorgetragen und mit einem explosiven, jede harmonische Struktur niederringenden Solo versehen. Auch Coltranes Lamento, seine Balladen, seine gesanglichen Reflexionen und Wanderungen sind von solcher Innerlichkeit ohne Sentimentalität.

Die Mehrzahl der Stücke aber, die er nach 1960, also in den letzten sieben Jahren seines Lebens aufnimmt, sind von hohem Tempo, schneidender Expressivität und einer klanglichen Vielfalt, die das Musikalische selbst zu überschreiten scheint. Da ist ein Schreien und Stöhnen, Klirren und Grunzen, da wird eine Mühe bei der Hervorbringung der Töne hörbar wie zuvor vielleicht nur bei Gustav Mahler. Melodien werden, kaum angespielt, schon wieder dekonstruiert und neu zusammengefügt. Impressionistisches und roh Expressives, schreiende Fanfaren und schwirrende Klangfetzen lösen einander ab, und allmählich wird für alle fassbar, welch entlegenen Raum des akustisch Vorstellbaren John Coltrane eigentlich bewohnte.

Bereits im Jahre 1958 verwendet der Musikkritiker Ira Gitler einen Ausdruck für Coltranes Musik, der seither oft wiederholt worden ist: »Sheets of Sound«, also etwa »Klangflächen« nannte er die dichten Texturen dieser Musik. »Es war beinahe unmenschlich«, schloss er damals an. »Mit seinem Aufwand an Energie hätte man ein Raumschiff antreiben können.« Tatsächlich hat man den Eindruck, dass Coltrane in jener Zeit neue Türen aufstößt, seine musikalische Freiheit ausdehnt, ja, diese musikalische Freiheit selbst geradezu zum Thema werden lässt, indem er vorwärtsdrängt und selbst eben angeeignete musikalische Theorien beiseitespielt.

Die Soli werden länger und kühner, die Improvisationen besitzen eine geradezu animalische Spielfreude, nichts muss mehr klingen wie Musik. Neue Griff- und Atemtechniken beschäftigen ihn in beinahe jeder Diskussion mit anderen Musikern, er tauscht sich über Blättchen und Mundstücke aus, kombiniert Tonarten, übt immer neue Skalen, studiert die Polytonalität bei Bartok und begleitet ihn, vor dem Radio auf und ab gehend. Steht er auf der Bühne, fingert er stumm an seinem Horn herum, ist er endlich an der Reihe, bringt er Töne hervor, die das Publikum erschrecken und das Instrument förmlich zum Bersten bringen wollen. Manchmal wirkt es, als käme diese Musik aus anderen Lebensbereichen, manchmal scheint sie in Kategorien wie Druck und Hitze, wie Licht und Motorik zu denken.

Bezeichnend ist da eine Episode, die wir der Musikkritikerin und klassischen Pianistin Zita Carno verdanken. Begeistert von Coltranes Musik, macht sie sich daran, das große Solo des berühmten Titels »Blue Train« nach dem Gehör vollständig zu transkribieren. Anschließend schickt sie Coltrane ihre Ergebnisse zu und wird von ihm in seine Wohnung eingeladen. »Was haben Sie nur für ein Gehör«, sagt Coltrane. Sie legt die Platte auf und zeigt ihm in der Transkription jede einzelne Note. Als der Titel zu Ende ist, legt sie das Blatt aus der Hand und bittet Coltrane: »Spielen Sie es doch noch einmal für mich!« Coltrane blickt auf das Papier, dann in ihr Gesicht und erwidert: »Das kann ich nicht. Es ist zu schwer.«

Der Beginn der sechziger Jahre aber ist auch bestimmt von äußeren Einflüssen. Eric Dolphy, der genialische Flötist, Saxophonist, Composer und Arrangeur, stieß nach einer ersten Zusammenarbeit im Jahre 1954 wieder zu Coltrane und wird ihn weiter anregen und beflügeln. Coltrane hat ihn einmal als seinen einzigen wahren Freund neben Sonny Rollins bezeichnet. Der Musikwissenschaftler Vladimir Simosko, der über jeden der beiden Freunde ein Buch geschrieben hat, sagt: »Ich liebte sie beide, aber aus verschiedenen Gründen: Trane war in existentieller Pein und schrie aus den Tiefen seiner Seele, während Erics Musik überwältigende Freude ausdrückte.«

Zeitgleich zu dieser Cooperation wird sich Coltrane, angeleitet von Yussef Lateef, verstärkt mit östlicher Philosophie auseinandersetzen und sein Koran-Studium vertiefen. Er wird sich mit indischer Philosophie, mit Ragas, mit Ravi Shankar beschäftigen, dem er mehrere Briefe geschrieben hat und später äußerst respektvoll begegnet ist, er wird mit Gruppenimprovisationen experimentieren, das »John Coltrane Quartett« formieren und verschiedentlich umbauen. Nicht zuletzt wird er sich mit afrikanischen Kompositionstechniken auseinandersetzen und mit seinem meisterlichen Album »Africa/Brass« seinen Beitrag zur Black Consciousness Bewegung leisten, die in jenen Jahren gerade zu erstarken beginnt.

Noch kurz vor Coltranes Tod feierte diese Bewegung einen bescheidenen Erfolg durch die Eröffnung des »Olatunji Zentrums afrikanischer Kultur« in Harlem. Die Idee dieses Ortes war unter anderem auf Coltrane selbst zurückgegangen, er arbeitete an der Realisierung des Projektes mit und hat dort, unter dem Titel »Roots of Africa«, wenige Monate vor seinem Tod ein paar seiner letzten Konzerte gegeben.

Es stimmte Coltrane immer wieder traurig, wenn Kritiker seine Musik als »abgehoben« oder als musikalische Science-Fiction behandelten, ohne ihre Menschlichkeit und Spiritualität im Geringsten zu würdigen oder auch nur empfänglich für sie zu sein. Er hat seinen Hörern deshalb immer wieder Brücken gebaut, indem er Standards, bekannte Volksweisen oder populäre Chansons wie »Greensleeves« in sein Repertoire aufnahm.

»Ich bin darauf gekommen«, hatte Coltrane 1960 gesagt, angesprochen auf sein Verhältnis zur Tradition, »du musst auf diese alten Dinge zurückblicken und sie in einem neuen Licht sehen. Ich bin mit meinen Studien noch nicht fertig; ich habe noch nicht alles in mein Spiel integriert.« Und er fügte hinzu: »Ich möchte mich weiterentwickeln, aber nicht mehr so weit, dass ich nicht mehr sehen kann, was die anderen machen.«

Der Zeitpunkt sollte kommen, an dem zahlreiche Musikkritiker nicht mehr recht verstanden, was John Coltrane trieb. Man nannte seinen Ansatz »anarchistisch«, sprach von »Anti-Jazz«, von einer »mutwilligen Zerstörung« der Musik, von seinen Konzerten als von »öffentlichen Proben«, und ein Kritiker meinte gar, sein Saxophon klinge »wie ein verstimmtes Cello, auf dem jemand albern herumkratzt« – und das angesichts einer Musik, die Coltrane als »Kraft zum Guten« und als Widerspiegelung des gesamten Universums verstand, in dem wir alle uns bewegen und Klänge und Töne empfangen und ausstoßen. Zum Glück blieben Coltrane immerhin die Käufer und nachfolgend auch die Plattenproduzenten gewogen.

So unterschreibt er erstaunlicherweise 1961 bei »Impulse« den bestdotierten Plattenvertrag, den es nach Miles Davis im Jazz bis dahin gegeben hatte – und das ohne das kommerzielle Geschick und auch ohne das schwarze Sendungsbewusstsein des einstigen Weggefährten, der sich immer in der weißen Musikindustrie zu seinen Bedingungen zu behaupten suchte. Seine Reise über die Grenzen der Musik hinaus aber setzte Coltrane unbeeindruckt von dieser vergleichsweise üppigen finanziellen Ausstattung fort. Er nahm ein paar balladenhafte Titel auf, wandte sich traditionellem Material zu und entwickelte gleichzeitig die musikalische Kapazität, die zu jenem Album führen sollte, das viele als Ausgang und Vollendung des Free Jazz erkannten, die Platte »A Love Supreme«, ein formal gelöstes, spirituelles, ja religiöses Werk, eine Suite in vier Teilen, welches das Coltrane Quartett als Team auf der höchsten Stufe seiner Individualität zeigt, in einer Ekstase des Spielens, in der die Musiker sich wie Liebende geradezu erst finden, indem sie sich aufgeben.

Seiner Mutter hat Coltrane gestanden, er habe eine Vision von Gott gehabt, bevor er dieses Werk komponierte, und sie fürchtete sich in der Überzeugung, wenn jemand Gott sehe, dann werde er wohl bald sterben.

Die ebenso glühend verehrte wie leidenschaftlich verachtete Platte – den einen Aufbruch oder Vollendung, den anderen die Besiegelung eines untergehenden Talents, wie einer Form des Jazz –, sie hat weit mehr Verehrer gefunden, als man zu ihrer Entstehungszeit anerkennen wollte, und verkaufte nach ihrer Veröffentlichung über 100000 Exemplare – eine für Jazzplatten fast beispiellose Größenordnung, die man nicht durch die Mobilisierung aller Jungmusiker und Musikstudenten zusammenbringt.

1963 trennten sich John und Naima. Alice, die McCoy Tyner am Klavier ablöste, heiratet Coltrane 1966. Von seinem Leberleiden wissen beide lange nichts. Alice Coltrane wird das Schweigen dieses Mannes, seine schöpferische Energie verstehen und ebenso seine verschlungenen Wege ins Einfachste, die er zuletzt betritt und die von der Trauer des Sterbens schon lange so gezeichnet sind wie von der Heiterkeit der Erlösung.

»Einige seiner spätesten Werke«, hat Coltranes Frau gesagt, »sind nicht musikalische Kompositionen. Ich meine, sie beruhen nicht ausschließlich auf Musik.« Also sollte man sie vielleicht eher als Gebete, Meditationen oder Psalmen bezeichnen, so wie es die Titel andeuten. Sie sind heilende oder tröstende oder erhebende Musik, so verstörend sie auch manchmal klingen mögen, sie sind Botschaften in einem verrätselten, ganz dem geistigen Leben verpflichteten Sinn.

Es gab bestimmt zuletzt nicht mehr sehr viele Menschen, die Coltrane in seinem Suchen verstanden, und selbst sein langjähriger energischer Weggefährte, der Drummer Elvin Jones, verabschiedete sich aus dem Quartett mit dem Satz: »Nur Poeten können das verstehen.«

Dennoch gab es Menschen, die den Mut Coltranes in seinen Improvisationen erkannten, diese andauernde Konfrontation mit den Grenzen der Imagination, der musikalischen Kombinationsfähigkeit, der Gabe weiterzugehen, und es gab Menschen, die seit »A Love Supreme« gespürt haben wollen, wie Coltrane seinem Tod entgegenging, den er mit sich trug, dem er in seiner Musik begegnete und den er in sein Spiel eintreten ließ. Hiervon allerdings ließe sich vermutlich nur noch in Metaphern sprechen.

Jedem Ton hatte Coltrane seinen Atem gegeben, mit jedem Atemzug, den er in einen Klang verwandelte, hatte er sein Leben der Musik eingehaucht. Seinen letzten Atemzug tat er am 17. Juli 1967 um vier Uhr früh, und man möchte sich vorstellen, dass dieser Atemzug geklungen hat wie eines jener transzendenten, geläuterten, ganz verinnerlichten Stücke, die sich auf den letzten Platten zwischen den langen verschlungenen Reisen ins Unerhörte finden, scheinbar einfache Kompositionen, in denen die Musik manchmal nur noch große Atemzüge tut, ganz, als sterbe sie auch.

Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den ...

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