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Ein Brief von Lisa Krusche

Lisa Krusche, geboren 1990, studierte Literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim sowie Kunstwissenschaft an der HBK Braunschweig. Sie arbeitet als freie Autorin und Journalistin. 2019 war sie Stipendiatin beim Klagenfurter Literaturkurs und Finalistin beim 27. open mike. Ihr Text »Heul doch« wurde mit dem Edit Radio Essaypreis ausgezeichnet.

Joshua, 

die Frosties sind alle und seit gestern alles schwieriger, ohne dass das eine etwas mit dem anderen zu tun hat. Es sind einfach zwei Tatsachen, die parallel existieren.

Ich muss viel über die Zeit nachdenken. Etwas ist mit ihr passiert. Du schreibst, sie sei zusammengeschmolzen, ein zerfließendes Marshmallow. Ich weiß nicht, ob das stimmt, also für mich. Die Zeit kommt mir eher zersplittert vor. Verteilt auf unterschiedliche Ebenen, auf denen sie sich unterschiedlich schnell abspult. Hier drinnen geht alles sehr langsam, vielleicht doch marshmallowhaft. Es gibt Strukturen, schreiben, Spaziergänge mit dem Hund, Sport, Eukalyptusduftlampe anmachen und den Wachstumsstand der Bananenpalme überprüfen (schätze, heute wird sich ihr neues Blatt vollkommen entrollen), aber es gibt keine Begrenzungen. So wie sonst, wenn man weiß, man ist jetzt eine Woche unbehelligt zuhause und dann fährt man hierhin oder dorthin. Es gibt natürlich die Termine der Bundesregierung, 15. April, Ende April, sowas, neue Regelungen, neue Lockerungen, vielleicht auch das Gegenteil, aber das taugt nicht so recht für die innere Orientierung finde ich. Dann »da draußen« (bescheuerte Unterteilung eigentlich, da kommt sowas Spießbürgerliches durch, naiv auch, als gäbe es wirklich eine Trennung, zumindest die Sehnsucht danach, und nach dieser Sicherheit, gefährlich, muss man sich sofort auf die Finger hauen): die Ereignisse überschlagen sich. Die Bilder aus Italien. Die Aushebelung des Parlaments in Ungarn. Versuche, das Abtreibungsgesetz noch restriktiver zu machen in Polen. Und so weiter. Bernhard Pörksen hat in der Zeit geschrieben, wir erlebten »eine Art Weltbeben unter vernetzten Bedingungen; wir sind mit einem Mal in eine Atmosphäre der totalen Gleichzeitigkeit hinein katapultiert.« Ich finde, dass stimmt überhaupt nicht. Diese Atmosphäre der totalen Gleichzeitigkeit gibt es ja schon wesentlich länger als seit Dezember 2019. Eigentlich passiert alles immer gleichzeitig und das Internet hat dazu geführt, dass uns das mehr und mehr vor Augen steht, obwohl wir das Totale der Gleichzeitigkeit, glaube ich, nie erfassen können, wegen Hirnschranken und Fokussierungsmechanismen. Was vielleicht auch gut ist, weil uns sonst der Kopf wegplatzen würde, sofort. 

Vielleicht fällt es jetzt gerade leichter, die Gleichzeitigkeit im Ansatz zu begreifen. Ich habe schon öfter gelesen, dass Menschen schreiben, sie fühlten sich mehr denn je als Teil einer Weltgemeinschaft. Die Bedrohung durch den Virus als kollektiv geteilte Erfahrung, die wir alle erleben, wenn auch ganz unterschiedlich. Irgendwann zu Anfang dieser ganzen Sache , wurde auf Social Media vermehrt dieser Spruch geteilt: »We’re all in this together.« Es sollte wohl empowernd und beruhigend und bestärkend wirken. Ziemlich schnell gab es auch Kritik, die anmerkte, dass die Pandemie und ihre Auswirkungen ganz unterschiedliche Konsequenzen für jeden einzelnen hätte, je nach finanzieller Lage, Gesundheitszustand, vorhandener oder nicht vorhandener Privilegien. Das stimmt natürlich. Aber es stimmt auch, dass wir alle zusammen da drin sind. Nur nicht in diesem Mut machenden und dabei undifferenzierten Sinn, in dem es eigentlich gedacht war. Sondern einfach nur in diesem: alles hängt zusammen. Es gibt keine unsichtbare Wand zwischen uns und der Erde, zwischen uns und uns. Eugene Thacker schreibt: »Einerseits wird uns mehr und mehr bewusst, dass die Welt, in der wir leben, eine nichtmenschliche, eine äußere Welt ist, die in den Folgen des globalen Klimawandels, in den Naturkatastrophen, in der Energiekrise und im fortschreitenden weltweiten Artensterben zutage tritt. Auf der anderen Seite hängen alle diese Folgen direkt und indirekt damit zusammen, dass wir nun einmal in dieser nichtmenschlichen Welt leben und ein Teil von ihr sind.« Dieser Virus ist so eine Art brutaler Selbstwirksamkeitserfahrung. Du hast es ja selbst erst neulich diesen Artikel aus der Le Monde diplomatique zitiert: »Durch die Zerstörung der Lebensräume droht zahlreichen Arten die Ausrottung, darunter auch Heilpflanzen und Tieren, die in unseren Arzneibüchern seit jeher einen Platz haben. Den überlebenden Arten bleibt nichts anderes übrig, als sich in die reduzierten Lebensräume zurückzuziehen, die ihnen die menschlichen Siedlungen übriglassen. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie in engen Kontakt mit Menschen kommen, und so können Mikroben, von denen sie besiedelt sind, in unsere Körper gelangen, wo sie sich möglicherweise in tödliche Krankheitserreger verwandeln.«

Ich glaube, eigentlich ist alles wie immer. Ich weiß, dass das völlig undifferenziert ist. Aber es stimmt trotzdem. Es ist alles wie immer, nur extremer, intensiver, hochgetunter, offensichtlicher. Dass Frauen die meiste Carearbeit leisten und diese Arbeit schlecht entlohnt wird: war schon vorher so. Probleme im Gesundheitssystem: war schon vorher so. Verachtung der Menschenrechte seitens der EU an den Außengrenzen: war schon vorher so. Die, die arm sind, werden jetzt noch ärmer. Die, die reich sind mitunter noch reicher. Stell dir folgendes Meme vor: Jeff Bezos mit süffisantem Lächeln, Caption »Wenn dein Vermögen gerade um 23,6 Milliarden Dollar gestiegen ist.«  

Insgesamt hat Jeff Bezos jetzt ein Vermögen von 138 Milliarden US-Dollar. Mir fällt dazu eigentlich überhaupt nichts mehr ein, ständig fällt mir überhaupt nichts mehr. Außer: {} Dieser Shrugemoji bringt es alles zum Ausdruck: die Fassungslosigkeit, das Unvermögen einer angemessen Reaktion, die Resignation, die Hilflosigkeit. Auch kein neues Phänomen: diese Zersplitterung der Zeit, die natürlich eigentlich eine Zersplitterung der Wahrnehmung ist, wenn ich jetzt mal etwas genauer darüber nachdenke. Ich verdächtige mein Gehirn, dass es ständig mit dieser Zersplitterung operiert, mit dieser Dichotomie zwischen innen und außen, zwischen betrifft mich und betrifft mich nicht, immer wieder gaukelt es sich damit etwas vor: weitermachen zu können, obwohl ich im Grunde überhaupt nicht weiß, wie man das verantworten kann. Aber ich mache es trotzdem. Kyra schreibt: »Denke ja immer, man müsste sofort alles absagen und bei Sea Shepherd anheuern. Macht man ja nicht. Macht man ja immer nicht. Stattdessen schreibt man ins Internet wie es einem geht: schlecht. Und an die Regierung, dass sie etwas machen soll: schnell.« 

Ich hab in der letzten Tagen viel darüber nachgedacht, dass es wichtig wäre zu lernen, wütend zu sein. Ich bin viel besser im Traurigsein. Ich habe nichts gegen Traurigkeit, an sich. Aber jetzt gerade kommt es mir einfach wie das falsche Gefühl vor, weil: ich will mich dann von den Dingen eher zurückziehen als ihnen entgegenzutreten. Es ist ein plausibles, aber irgendwie unnützes Gefühl gegenüber der Tatsache, dass ich ein Partikel dieses Zeitgeschehens bin. Wut kann so ein gutes Gefühl sein. Weil sie vorwärtsgerichtet ist, weil sie Kraft und Energie freisetzt.  Eigentlich ständig muss ich an die Einleitung von »Staying with the trouble« von Donna Haraway denken. Der Text erscheint mir mehr denn je als das perfekte Mantra: »Trouble ist ein interessantes Wort. Es lässt sich auf ein französisches Verb aus dem 13.Jahrhundert zurückführen, das »aufwirbeln«, »wolkig machen« oder »stören« bedeutet. Wir alle auf Terra leben in unruhigen Zeiten, in aufgewirbelten Zeiten, in trüben und verstörenden Zeiten. Die Aufgabe besteht darin, reagieren zu können, und zwar gemeinsam und in unserer je unbescheidenen Art. [...] Die Aufgabe besteht darin, sich entlang erfinderischer Verbindungslinien verwandt zu machen und eine Praxis des Lernens zu entwickeln, die es uns möglich macht, in einer dichten Gegenwart und miteinander gut zu leben und zu sterben. Es ist unsere Aufgabe Unruhe zu stiften, zu wirkungsvollen Reaktionen auf zerstörerische Ereignisse aufzurütteln, aber auch die aufgewühlten Gewässer zu beruhigen, ruhige Orte wiederaufzubauen. In dringlichen Zeiten ist es für viele verlockend, der Unruhe zu begegnen, indem sie eine imaginierte Zukunft in Sicherheit bringen. Dafür versuchen sie, am Zukunftshorizont Drohendes zu verhindern, aber auch Gegenwart und Vergangenheit beiseite zu räumen, um so für kommende Generationen Zukunft zu ermöglichen. Unruhig zu bleiben erfordert aber gerade nicht eine Beziehung zu jenen Zeiten, die wir Zukunft nennen. Vielmehr erfordert es zu lernen, wirklich gegenwärtig zu sein. Gegenwärtigkeit meint hier nicht einen flüchtigen Punkt zwischen schrecklichen oder paradiesischen Vergangenheiten und apokalyptischen oder erlösenden Zukünften, sondern die Verflechtung von uns sterblichen Krittern mit unzähligen unfertigen Konfigurationen, Orten, Zeiten und Materien.«  

Weißt du, seit Neuestem fängt mein Kopf, wenn ich nicht sehr gut aufpasse, immer damit an, darüber nachzudenken, wie es wäre zu ersticken. Ich muss dann auch an meine Mutter denken, deren erstes Kind an plötzlichen Kindstod gestorben ist. Mein Kopf steigert sich rein. Vorhin musste ich meine highwaisted Jeans gegen ein Kleid tauschen und das Fenster aufmachen. Ich fühle mich klaustrophobisch. Ich fühle mich eingesperrt in den Zuständen der Welt, in dieser Wohnung und langsam eben auch in mir. Hartmut Rosa sagt: »Es ist überhaupt nicht einfach. Denn unserem In-Beziehung-Treten mit der Welt stehen gleich mehrere Dinge im Weg. Zum Beispiel gerade die Angst vor der Pandemie oder die ökonomische Existenzangst. Angst ist ein Resonanzkiller, sie verhindert, dass wir einen Zugang zur Welt um uns herum aufbauen können. Sie macht uns gewissermaßen in uns selbst gefangen. Ich verstehe Resonanz als eine bestimmte, gelingende Form, mit der Welt in Beziehung zu treten. Dabei arbeite ich nicht etwas ab oder erledige eine Aufgabe, sondern lasse mich auf eine Sache ein, die mir wirklich etwas bedeutet, die mich innerlich berührt und bewegt. Ich bin nicht nur passiv berührt, sondern antworte auf das, was mich da anruft und erfahre mich dabei auch als selbstwirksam.«  

Von einigen habe ich gehört, sie hätten Hoffnung, dass der Shutdown Menschen Zeit zum Nachdenken gibt - und sich dann etwas ändert, Einstellungen mindestens, und denen folgend auch so viel anderes. Dass die Zeit jetzt sozusagen ein Geschenk ist: Endlich Denken! Ich will hier nicht per se alle Hoffnungen zerschlagen. Aber ich glaube, dass das System so gebaut ist, dass es für sehr viele jetzt gerade eben nicht funktioniert, mal so richtig in Ruhe und exzessiv zu denken. Weil ihnen die Zeit abhandenkommt. Weil es existenziell wird oder: noch existenzieller. Weil auch die Ängste hochgedreht sind. Ich stelle es mir in etwa so vor, wie du es schreibst: »Aber mein Mindset lässt eigentlich solche Überlegungen gar nicht richtig zu, nur kurz an der Oberfläche, wo sie gefrieren, dann werden sie weggekratzt, von mir selbst.« 

Zu lernen, wirklich gegenwärtig zu sein, heißt wohl Resonanz herstellen zu können, auch wenn man Angst hat. Was paradox ist: dass einem die Angst einerseits das Denken schwerer macht und das Denken andererseits gegen die Angst hilft. Mir hilft Lesen, wenn ich das Gefühle habe: ok, jetzt klappe ich ab. Oder mir Interviews mit klugen Menschen anschauen. Was Rosa da sagt –  »dabei arbeite ich nicht etwas ab oder erledige eine Aufgabe, sondern lasse mich auf eine Sache ein, die mir wirklich etwas bedeutet, die mich innerlich berührt und bewegt. Ich bin nicht nur passiv berührt, sondern antworte auf das, was mich da anruft und erfahre mich dabei auch als selbstwirksam« – ist ja auch eigentlich eine ziemlich gute Beschreibung für Erfahrungen, die ich mit Büchern mache. Oder Kunstwerken. Oder Theaterstücken. Kultur wird ja jetzt immer fröhlich für verzichtbar erklärt. Ist sie natürlich nicht. Wenn so mit ihr umgegangen wird, als sei sie nicht systemrelevant, dann kann die Frage nur sein: Was ist das für ein System? Ich erspare uns die Antwort. Es ist eigentlich alles wie immer und irgendwie wurde auch alles schon gesagt. {}.  

Ich hoffe so sehr, dass es uns gelingt weiter zu kommen.  

Jetzt habe ich mich in mir selbst und meinen Gedanken verhaspelt und dir eine Mail geschrieben, die nur so halb eine Mail an dich ist, weil viele der Gedanken kennst du schon, nur als gesprochenes, nicht als geschriebenes Wort. Was ich dir noch sagen kann und was du vielleicht noch nicht weißt: Ich wünsche mir so sehr, dass du für FruchtTiger & Kellogs Frosties influencen würdest und auch für Samba. Ich sehe es schon vor mir und bei dem was ich sehe, hast du die weißen Tennissocken von heute an, jaaa. Einziges Problem ist, dass du kein Instagram hast, aber vielleicht kannst du einfach Werbung in deinen Büchern machen? Produktplatzierungen statt Autorenfoto, sowas.  

Ich bin 5000 Mal am Tag froh, dass du da bist und mich mindestens so oft daran erinnerst, dir Bescheid zu sagen, wenn die Angst reinhittet. »Weil, wenn die Angst reinkickt, wird das Entkommen nie ein individueller Akt sein«, du weißt ja, denn du hast das geschrieben. 

Wenn du willst, können wir jetzt die Dirk Nowitzki Doku schauen, das ist immer noch meine allerliebste Sportdoku, kann aber sein, dass ich nach einer halben Stunde einschlafe, spätestens. Ich gehe jetzt jedenfalls zu dir in die Küche, bis in zwei Sekunden also!

Lisa

{} = Shrugemoji 

 

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