Douze – zwölf Pflöcke aus diesen finsteren Zeiten
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Im Morgengrauen, bei Nebel, sammelt Paola Steinpilze, frisch gesprossen auf dem Waldboden der Forêt des Landes. Erdgebundene Grüppchen. Kappen aschig rotbraun. Hellgelbe, moosige Unterseiten. Paola nennt sie cèpes.
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2016 stimmten die Briten im Rahmen eines Referendums für den Brexit. Brexit ist die Abkürzung für British exit, die per Referendum vom 23. Juni 2016 getroffene Entscheidung des Vereinigten Königreichs, aus der Europäischen Union auszutreten. Das Wort exit ist ursprünglich ein Theaterbegriff aus dem 15. Jahrhundert zur Bezeichnung eines Abgangs von der Bühne. Das Netzwerk verlassen.
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Während ich Paola in der Küche den Brexit erkläre, schabe ich Sand von den Steinpilzen. Die Pilze sind stämmig und dabei überraschend leicht. Mit einem scharfen kleinen Messer schneidet Paola sie in dünne Scheiben, Stiele und Fleisch landen in einer schwarzen gusseisernen Bratpfanne. Die cèpes brutzeln in Knoblauch, garen in Olivenöl. »Die Welt bricht zusammen«, sagt Paola zu mir.
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Cèpes, Fichtensteinpilze oder Herrenpilze, sind schwer zu züchten, wachsen nur wild. Schießen empor aus einem Gleichgewicht von Erde, Regen und Sonne. Feuchtigkeit und Wärme. Sie bilden eine Mykorrhiza mit Bäumen, eine Symbiose mit den Wurzeln von Pflanzen. Die Mykorrhizapilze flechten sich um und in die Pflanzenwurzeln, verbessern die Nährstoffund Wasseraufnahme der Pflanzen aus dem Boden.
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Im Wald, auf meinem Handy, auf Twitter, lese ich im Schein der Displaybeleuchtung @realDonaldTrump-Sätze, @realDonaldTrump-Worte: Together, we are Making America safe and Great Again/Wow. Auf Stills sehe ich das Gesicht einer Amerikanerin vor dem Senat. Ihre verzerrten Züge. Ihr Stirnrunzeln. Sie schildert, wie sie mit fünfzehn beinah vergewaltigt wurde. Im Anschluss an ihre Aussage wird die Frau geächtet, bedroht. Kann nicht an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. In ihr Zuhause.
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An einem gewundenen, sandigen Pfad in der Forêt des Landes essen wir jeden Tag Steinpilze. Sie werden in Omelettes eingeschlagen, fein säuberlich in Pasteten geschichtet. Reif und zart, glitschig und fest. Unter einer Kiefer in dieser weiten Wildnis südlich von Bordeaux flüstert meine vierjährige Tochter Jeanne: »Maman, wir sind in einer grünen Blase drin. Blätter. Oui.« Rings um uns erstrecken sich Kiefern bis an den Horizont. Baumgewölbe. Kurven und Bögen. Über uns ist Himmel, eine sphärische Markise. Unter uns sind Wurzeln. Nadeln und Sand. Potentielle Pilze.
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In ihrem Holzhaus spricht Paola. »Ich fühle mich furchtbar«, sagt sie. »Gestern Abend habe ich ein Buch über den Zusammenbruch der Welt gelesen. Unsere Welt bricht zusammen, unser System bricht zusammen – ökologisch, finanziell, politisch, alles bricht zusammen.« Paola redet Französisch und benutzt das Verb s’écrouler, das zurückgeht auf acroler ›in Trümmer fallen‹. Sie nimmt einen Steinpilz in die Hand und wechselt das Thema. »Hast du gewusst«, fragt sie, »dass der Name cèpe vom gaskognischen cep für ›Stamm‹ kommt, wegen seines dicken Stiels? Von Lateinisch cippus, ›Pflock‹.« An einem Pflock kann man etwas befestigen. Ein Pflock hält Dinge zusammen. In der Küche schiebe ich ein Scheit aufs Feuer. Holz knistert. Feuer brennt.
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Am Radio, im Internet ist die Rede von Bränden. Überall brennt es. In Kalifornien legen Brände Wälder in Schutt und Asche. Feuer größer als Häuser oder Weiler. Feuer vom Umfang von Dörfern oder Inseln. Den Umfang von Kleinstädten haben die Feuer. Feuer wie rollende Hügel. Rollende Feuerhügel. Feuer, die trennen.
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In der Küche in den Landes knistert das Herdfeuer. Auf dem Tisch stehen Körbe, in denen sich Steinpilze und Kastanien türmen, die überfließen von Falläpfeln. Grün mit Druckflecken. Lederglänzendes Braun. Es ist Herbst und der Wald reich an Nahrung. Paola kocht die Kastanien, und am Abend essen wir sie, in selbstgemachte Feigenmarmelade getunkt.
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Im Wald singen meine drei Töchter eine A-cappella-Version von Michael Jacksons »Thriller«. Im Dunkeln harmonieren ihre Stimmen: Jeanne, Olivia und Rose. Schwesterliche Schwingungen durchdringen die Nacht. ’Cause this is thriller / Thriller night / And no one’s gonna save you / From the beast about to strike …
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Am gleichen Tag, an dem Paola das Buch über den Zusammenbruch liest, wählen die Brasilianer Bolsonaro zum Präsidenten. »Der Populismus nimmt zu«, sagt Paola und reicht mir einen Teller Pilzpastete. Den Teller in der Hand, denke ich an Ausgrenzung, Versimpelung und Komplexität. Es scheint, als missachteten und verwehrten Populismus, Angstmacherei und moralische Paniken den Zugang zu dem, was unter der Oberfläche liegt. Dem weitverzweigten, symbiontischen Wurzelgeflecht.
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In der Küche beißt meine jüngste Tochter Jeanne in einen Steinpilz, kaut und schluckt. Dann zeigt sie auf das Geschöpf auf ihrem T-Shirt und verkündet: »Ich will ein Einhorn sein.« Paola lächelt. Auf einmal sind unsere Gedanken mit Einhörnern durchsetzt: biblischen, griechischen, mittelalterlichen Fabelwesen, gemalten wie genähten. Symbole der Reinheit. Ausgestellt auf Jeannes Brust. In Pailletten verwandelt. Regenbogengefunkel. Widerscheinendes Licht. Das Einhorn ist ein Heiler, ein Alchemist in Pferdegestalt. Es macht verseuchtes Wasser rein. Während wir im Wald unseres Lebens um den Tisch sitzen, galoppiert das Einhorn. Galoppierend, mit dem Horn voraus, steigt es empor durch die Zeit, über Feuersbrünste und Displaylicht hinweg, und stürmt durch unser finsteres Mittelalter.
Aus dem Englischen von Britta Waldhof.
Der Originaltext wurde unter dem Titel »Douze, twelve stakes from these Dark Ages« am 27. November 2018 auf der Website von Burning House Press veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung erscheint am 28. Juni in »Neuen Rundschau 2019/2«.
© Susanna Crossman 2018