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Italo Calvinos letztes Buch - die Cosmicomics

Italo Calvinos "Cosmicomics" sind selbst manchen Calvino-Liebhabern unbekannt. Calvinos deutscher Übersetzer Burkhart Kroeber erklärt, warum das Buch unterschätzt ist.

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© Italo Calvino | © ullstein bild – Brigitte Friedrich

Das letzte Buch, das Calvino eigenhändig verabschiedet und veröffentlicht hat, ein knappes Jahr vor seinem plötzlichen Tod im September 1985, ist für mich sein schönstes, reich­stes, tiefstes, heiterstes, hintergründig­stes, phantastischstes, schwerelos-ko­mischstes und philosophisch-kosmisch­stes Buch, ich könnte auch sagen: die narrative und spekulative Summa dieses großen italo-kosmopo­liti­schen Dichters und Denkers. Wer dieses Buch noch nicht kennt, ist zu beneiden, denn er hat seine unbeschwerte Lektüre noch vor sich. Die ist ein großer Genuss, dank einer Reihe unerhört kühner, wahrhaft atembe­raubender Erfindungen: Erzähler ist ei­ner, der alles mit­erlebt hat, was jemals im Universum geschehen ist, der uner­klär­licherweise seit den Ur-Anfängen der Zeit und des Raumes immer schon da und überall dabei war, ein höchst vielge­staltiger Ich-Erzähler namens Qfwfq (sic!), der meistens irgendwie anthropomorph erscheint, aber auch mal als einzelliges Wesen, das sich teilt, mal als Molluske im lauwarmen Meereswasser oder als letzter Dinosaurier unter den „Neuen“ auftritt, nicht ohne zwischendurch wie­derholt ein ganz normaler New Yorker zu sein (im Klappentext der amerikani­schen Ausgabe wird er definiert als „a protean being as old as the universe and as new as the latest racing car“).

Solch einer also erzählt hier im Plauder­ton eines vielgereisten alten Onkels aus höchstpersönlich-eigener Erfahrung, wie sich der Kosmos gebildet und entwickelt hat: Vom Urknall (in der wunderbar hei­teren Ur-Liebes-Geschichte „Alles in ei­nem Punkt“) und sogar noch von dem, was dem Urknall vorausgegangen sein muss („Das Nichts und das Wenige“), reicht der Bogen über die Ausdehnung des Makrokosmos der Galaxien sowie des Mikrokosmos der Moleküle, Atome und Zellen bis zu dem relativ späten Schritt des Lebens aus der seichten La­gune aufs feste Land und dem noch viel späteren mysteriösen Aussterben der Di­nosaurier, von der Geburt des Lichts, der Farben, der Sehkraft (und mit ihr der „Sterbensverliebtheit“) bis zur Erfah­rung des Todes (und des Weiterlebens in der Meiose).

Ort der Handlung ist im Wortsinn der Gesamtraum des Ganzen, das All: die Erde, das Sonnensystem, die Milchstra­ße, die Galaxienhaufen, aber auch ein sehr realistisch geschildertes New York und die Poebene zwischen Pavia und Mailand. Für Calvinos Erzähler ist es ein leichtes, in einem Atemzug vom Andro­medanebel und von den Vogesen zu sprechen.

Was hier vielleicht noch als pure Spiele­rei anmuten mag, erweist sich in­dessen bald als nur oberflächlich verhüllter, ziemlich bitterer Ernst. Gleich das The­ma der ersten Erzählung („Der Onkel im Wasser“: Wir sind ja soo hoch entwic­kelt, aber wir haben leider noch immer einen peinlichen proletarisch-plebeji­schen Rest …) ist die Dialektik der Evo­lution, der Fortschritt als ein womöglich irreparabler Verlust.

Die zweite Erzäh­lung, in der Qfwfq von seinem Leben als letzter Dinosaurier erzählt, behandelt im Grunde die Vergeblichkeit aller Kommunikations­bemühungen über Klassen­- und Rassenschranken hinweg, und bei­nahe alle Erzählungen sind unterderhand auch Liebesgeschichten unter dem Mot­to „Sie konnten zu’nander nicht kom­men“.

Zwanzig Jahre lang hat Calvino an die­sem Buch geschrieben: Von den insge­samt 29 Erzählungen sind die ersten 12 bereits 1965 erschienen, und zwar unter dem Titel Cosmicomiche ein Kunst­wort aus cosmico = kosmisch und comi­ca = komischer alter Stummfilm in Slap­stick-Mapier, im Plural auch in­terpre­tierbar als ironische Übersetzung von co­mics, daher der im Deutschen   re­-anglisierte Titel.

Fünf weitere folgten zwei Jahre später zu­sammen mit jenen vier „deduktiven Er­zählungen“, die nun am Ende stehen und von einigen KritikerInnen als bloßer An­hang abgetan werden, in Wahrheit aber wohl die logische Folge und konsequente Bündelung des Ganzen darstellen: be­klemmende Exerzitien über die Existenz von Raum und Zeit, über das Gefangen­sein darin und die Möglichkeit einer Be­freiung (aber wohin?). Im letzten Text ist das erzählende Ich der Graf von Mon­te Christo, eingekerkert in der Festung Château d’If, und sein letzter Gedanke – der letzte Satz dieses Buches – gilt der Möglichkeit einer Flucht: „Wir bräuchten nur den Punkt zu identifizieren, an dem die gedachte Festung nicht mit der wirklichen koinzidiert, um den Ausweg zu finden.“

Den jüngeren Texten Calvinos ist, scheint mir, ihre Entstehungszeit anzu­merken: Waren die Qfwfq-Erzählungen aus den sechziger Jahren noch vorwie­gend heiter, gelassen-ironisch und bis­weilen – etwa die Urknallgeschichte oder ein Märchen wie „Die Entfernung des Mondes“ – geradezu übermütig, so domi­niert in den späteren ein zunehmend me­lancholischer Grundton, am deutlichsten wohl in dem kurzen Text „Die Implo­sion“ („Ex- oder implodieren, das ist hier die Frage …“), der den Übergang von den Makro- zu den Mikrokosmos-Geschichten herstellt und vielleicht einer der letzten Texte ist, die Calvino ge­schrieben hat.

Im deutschen Feuilleton ist das Anfang 1989 erschienene Buch nur sehr spärlich rezensiert worden – ich weiß nicht, ob es den Kritikern hierzulande zu hoch, zu tief, zu schwierig, zu simpel, zu ausgefal­len, verrückt, unzeitgemäß, zeitgeistig oder sonstwas erschienen ist. Sicher muss man diese „Cosmicomics“ nicht gelesen haben, aber wer einmal die Nase hinein­gestreckt hat, wird leicht    – dies jedenfalls ist meine Erfahrung – danach süchtig.

Calvino sei, so war nach seinem Tod im Nachruf eines italoamerikani­schen Physikers zu lesen, gelegentlich gern zu Besuch nach Harvard gekom­men. An solchen Abenden hätten sich dann alle um den berühmten Schriftsteller aus     Eu­ropa versammelt und eifrig mit ihm über Gott und die Welt diskutiert. Dabei sei es hin und wieder vorgekommen, dass man den Dilettanten Calvino bremsen musste, wenn er sich in allzu kühne Thesen ver­stieg. Dann habe er freundlich erwidert: „Vedrete, vedrete!Ihr werdet ja se­hen!“


Burkhart Kroeber ist der Übersetzer der deutschsprachigen Italo-Calvino-Ausgabe.