Extras

Die Bescherung, oder: Weshalb ist Weihnachten jedes Jahr so schwierig wie noch nie zuvor?

Valentin Groebner, der Autor von »Bin ich das? Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft«, begibt sich auf eine weihnachtliche Spurensuche. Er stößt auf deutsche Pflichten, eine bunte Mischung von Zutaten aus der ganzen Welt und den Duft von weißer Ölfarbe, die in der kalifornischen Weihnachtssonne verdampft: Weihnachten, das ist auch eine unentrinnbare kollektive Selbstauskunft.

Porträt des Autors Valentin Groebner. Er trägt eine dunkle, abgerundete Brille und ein weißes Hemd, dessen oberste Knöpfe geöffnet sind.
© Franca Pedrazzetti

Dieses Jahr nicht. Dieses Jahr bleibe ich am 24. Dezember ich selber. Ich habe es nämlich nicht so mit Engeln und weißbärtigen Weihnachtsmännern, mit dem Christkind und den Tannenbäumen. Ich habe kein Bedürfnis nach Weihnachtsliedern und Christbaumschmuck, ich weiß nicht, was ich auf einem Weihnachtsmarkt einkaufen soll, und von Glühwein und jingle bells bekomme ich Kopfweh.

Ich würde deshalb gerne aus dem Weihnachtszirkus aussteigen. Aber das geht nicht. Von wegen Individualisierung, Säkularisierung und Entzauberung der Welt: Weihnachten ist kollektive Selbstauskunft in harter, unentrinnbarer Form. Ich bin ja nicht nur ich. Ich bin auch Teil eines Wir, und dieses Wir findet Weihnachten nicht nur gut, sondern notwendig. Deswegen findet das Fest so statt, wie es stattfindet, Jahr für Jahr, Weihnachtsbaum für Weihnachtsbaum, Fußgängerzone für Fußgängerzone.

Wenn Freiheit die Möglichkeit ist, etwas zu unterlassen, dann ist Weihnachten zwar Freizeit, Ferien, aber das ziemlich genaue Gegenteil von Freiheit, nämlich Pflicht. Weihnachten ist ein schönes Beispiel dafür, wie eng vermischt das höchst persönliche eigene Wünschen und Dürfen mit dem allgemeinen, kollektiven ist – verquirlt, möchte man sagen, oder noch besser: aufgeschäumt. Kann ich meine Liebsten beschenken, oder soll ich? Darf ich den Lichterbaum ins Wohnzimmer stellen, oder muss ich?

Meine Eltern, im Rest des Jahres überhaupt nicht religiös, legten in den 1970ern am 24. Dezember die Schallplatte mit der Weihnachtserzählung aus der Bibel auf, und meine Mutter ging in die Christmette. Weihnachten ist Kurzzeitandacht. Nüchterne Nachrichtenmedien wie die Neue Zürcher und die Frankfurter Allgemeine, die sonst vor allem an die Entfaltung der Produktivkräfte glauben, setzen an diesem Tag ein beschauliches Retrobild – verschneiter Christbaum oder Christkind mit Weihnachtsstern – auf ihre Titelseiten.

Mitteilungsfreudige Personen des öffentlichen Lebens dagegen versichern mir jedes Jahr im Advent, noch nie sei das wahre, tiefe und richtige Empfinden von Weihnachten so schwer gewesen wie heute, angesichts von Kommerz, Corona und Klimawandel. Die Begründungen wechseln. Zuvor waren es die Umweltverschmutzung, die Bankenkrise und die Bedrohung durch den Terrorismus gewesen – Sie erinnern sich? Das mit Weihnachten verbundene Gefühl von Bedrohung und Verlust von Weihnachten bleibt. Auf das ist offensichtlich Verlass – noch mehr als aufs Christkind. Weihnachten ist der Wunsch nach individuellem Trost durch kollektive Nostalgie, der nie vollständig erfüllt werden kann.

Was ist das für eine beschauliche Vergangenheit, in die sich dabei alle zurückwünschen? In dem besten (und unheimlichsten) Buch über Weihnachten, das ich kenne, hat Günter Karl Bose Beschreibungen dieses deutschesten aller Feste zusammengestellt – denn von Deutschland aus, aus dem protestantischen Elsass des 17. und den großbürgerlichen preußischen Wohnstuben des frühen 19. Jahrhunderts, hat es seinen Siegeszug in die Welt angetreten. »Da wir stets unsere deutschen Sitten beibehielten«, schreibt Maria Riva, die Tochter von Marlene Dietrich, in ihrer Autobiographie über Weihnachten 1931 in Hollywood, »feierten wir am Abend des 24. Dezember (…) Damit wir Weihnachtsfotos mit der richtigen Beleuchtung machen konnten, kamen Handwerker vom Studio, sägten den vermeintlich schneebedeckten Baum in Stücke und setzten ihn im Garten wieder zusammen, wo die dicke weiße Ölfarbe in der Sonne schmorte und Dämpfe verbreitete, die mir beinahe den Magen umdrehten.« Am Abend des 24. Dezember 1967 dagegen hatten die Mitglieder der Berliner Kommune 2 die Kommune 1 zu Besuch. »Man muss schreien, wenn man miteinander sprechen will. Alle sind bedrückt und unglücklich. Um die Weihnachtsfresserei hatten wir Tage vorher erbittert diskutiert.«

»Manche Dinge«, sagt die kluge Freundin, »sind eine Schwierigkeit. Für die gibt es eine Lösung. Manche Dinge sind ein Problem. Für ein Problem gibt es keine Lösung, deswegen ist es eines. Man kann es nur ignorieren, balancieren und aushalten, irgendwie.« Oder beschreiben. Weihnachten und die mit ihm verbundene Sehnsucht nach einem idyllisch-vertrauten Früher, das es nie gegeben hat, sind ein schönes Beispiel dafür.

Für die meisten Bewohner dieses Planeten ist der Abend des 24. Dezember allerdings weder Schwierigkeit noch Problem. Wer Chinesisch oder Türkisch spricht, Hindi, Tamil oder Bahasa Indonesia (und das sind ziemlich viele Leute), der macht sich über die Bescherung keine Gedanken. Offensichtlich fehlt der Heilige Abend diesen Milliarden Mitbewohnern auch weiter nicht. Weihnachten ist nur dann eine Bürde, wenn man die Brille der deutschen Pflichten aufhat.

Mit der kann ich dann aber auch genauer hinschauen. Was ich so leicht als Tradition und Immer-schon-dagewesen auffasse, ist in Wirklichkeit das Ergebnis drastischer Veränderung. Der Weihnachtsmann ist 1931 in einer Werbekampagne von Coca Cola auf die Welt gekommen, der von Rentieren gezogene fliegende Schlitten als Geschenkespedition stammt aus einem Zeichentrickfilm von Walt Disney aus demselben Jahr.

Der leicht aufdringliche deutsch-amerikanische Festtagskitsch einer verschneiten heilen Welt von Früher ist in Wirklichkeit eine große Mischung aus allem Möglichen. Christliches ist auch dabei, aber nur als Teil eines sehr viel umfangreicheren Buffets, das vom arabischen und türkischen Zuckerfest Şeker Bayramı – ganz viel süßes Zeug essen zum Ende der Fastenzeit – bis zu Shou Xing reicht, dem weißbärtigen chinesischen Gott des langen Lebens. Weihnachten geht außerdem nicht ohne Zimt, das kommt aus Sri Lanka, und der Weihnachtsbaum ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz gewöhnlich eine Nordmanntanne. Die kommt aus dem Kaukasus – alle Jahre wieder. Der Rest (ein ziemlich großer Rest) ist die eigene Biographie. Und die kann man sich eben nicht aussuchen. 

 

Die Zitate stammen aus »Denkt an Weihnachten«. Erinnerungen an ein deutsches Fest, hg. von Günter Karl Bose, Institut für Buchkunst: Leipzig 2017.

 

Valentin Groebner ist Professor für Geschichte an der Universität Luzern. Am 24. November erscheint sein neues Buch »Bin ich das? Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft« – über Heimat, Tattoos, Wünsche und Weihnachten.

Valentin Groebners kurze Geschichte der Selbstauskunft

Zum Buch