Hinter den Kulissen

Ein Land, über das man verrückte Romane schreiben muss

Unsere Kollegin Norma Schneider war im Sommer für etwas mehr als drei Wochen in Russland: In Moskau und in Omsk, wo sie an der »Sommerschule der russischen Sprache und sibirischen Kultur« teilnahm. Hier berichtet sie von Geistern der Vergangenheit, einer Metrostation ohne Metro und Dostojewskis unfreiwilligem Aufenthalt in Sibirien.

Ich lande in Moskau und bin froh über die Abkühlung. Letzte Woche waren es noch vierzig Grad in Frankfurt, die windigen fünfzehn Grad hier fühlen sich fast winterlich an. Immerhin regnet es nicht wie sonst immer, wenn ich hier war. Alles ist gleich ein bisschen weniger grau und abweisend, ein Eindruck, den man in dieser Stadt voller sowjetischer Monumentalbauten schnell bekommen kann. Moskau wirkt merkwürdig entspannt auf mich, von den Protesten ist nichts zu bemerken. Erst vor ein paar Tagen sind über 1000 Demonstrant*innen verhaftet worden, die gegen die Nichtzulassung vieler Oppositionskanditat*innen zu den Kommunalwahlen protestiert hatten. 

Ich spaziere durch die Innenstadt. Eigentlich will ich gar nicht zum Roten Platz, ich war schon mehrmals dort, habe schon den wächsernen Lenin im Mausoleum besucht, dem man noch immer keine Ruhe gönnt, habe über die Blumen auf Stalins Grab gestaunt, habe die obligatorischen Selfies vor der Basilius-Kathedrale gemacht und mich von den Touristenmassen nerven lassen. Aber da ich sowieso in der Nähe bin, gehe ich noch mal hin, schließlich bin ich auch Touristin. Und tatsächlich hatte ich vergessen, wie schön dieser Platz ist. Jedes Mal ist man erstaunt, dass es dort wirklich aussieht wie im Fernsehen, nur eigentlich noch besser. Die perfekte Mischung aus religiösem, zaristischem und sowjetischem Kitsch. 

Nicht weit vom Roten Platz steht die Detskij Mir, die Kinderwelt, früher ein riesiges Spielzeugkaufhaus, heute eine Mall mit Spielzeugläden, H&M und Fast-Food. Vom Dach aus hat man einen guten Ausblick über die Stadt, man sieht mehrere der sieben sowjetischen Zuckerbäckerhochhäuser, die das Stadtbild prägen, die »Stalin-Schwestern«. Direkt neben der Kinderwelt steht die Lubjanka, früher KGB-Hauptquartier, heute Sitz des kaum weniger berüchtigten Inlandsgeheimdienstes FSB. Dort arbeiten »die Leute, die den König auf dem Thron halten«, sagt ein Moskauer Freund, mit dem ich spazieren gehe. Im Gebäude befindet sich auch ein Gefängnis, in dem zu Sowjetzeiten unter anderem Ossip Mandelstam, Georg Lukács und Alexander Solschenizyn festgehalten wurden. 

Der ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchowytsch beschreibt in seinem großartigen satirischen Roman »Moscoviada«, wie sich ein betrunkener Literaturstudent, der in der Kinderwelt ein Geschenk kaufen wollte, in den Kellern des Gebäudes verirrt, über eine Verbindungstür in die Katakomben der Lubjanka gerät und dort auf riesige Ratten, groteske Gelage und ein »Symposium der Toten« trifft. Der Roman spielt Anfang der neunziger Jahre, kurz nach dem Ende der Sowjetunion, doch die Stimmung, die er transportiert, passt auch zum heutigen Moskau: Die Willkür und Absurdität, das Sich-treiben-Lassen und die Verquickung der Schrecken der Vergangenheit mit denen der Gegenwart.   

Die Geister der Vergangenheit hausen nicht nur in Andruchowytschs Lubjanka-Kellern, sondern auch im realen Moskau von heute. Allgemein lässt sich in Russland eine inhaltlich entleerte Sowjetnostalgie, die bis zur Verherrlichung geht, beobachten. Hauptsächlich geht es dabei um territoriale Größe, Weltmachtstatus, den Sieg im Zweiten Weltkrieg, der hier »großer Vaterländischer Krieg« heißt, und um ein diffuses Gefühl von guter, alter Zeit. Innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Aspekte werden dabei vollkommen ausgeblendet.

Die größte Konzentration an sowjetischem Glanz in Moskau findet man auf dem Gelände der WDNCh, der Ausstellung der Volkswirtschaftlichen Errungenschaften der UdSSR. Auf über zwei Millionen Quadratmetern stehen unzählige Pavillons und Denkmäler in Vergnügungspark-Atmosphäre. Am Eingang grüßt ein Lenin in Siegerpose. Früher war ein Besuch dort Pflicht für jede Reisegruppe in der Sowjetunion. In den Neunzigern verfiel das Gelände dann zusehends. Noch bei meinem letzten Besuch in Moskau vor zwei Jahren waren die Pavillons eingerüstet oder in schlechtem Zustand, von Glanz keine Spur. Heute erstrahlt alles prachtvoll golden, eingerahmt von überladenen Blumenbeeten und Plakaten, die die Neueröffnung mit dem Motto »Wremja Wosroschdenija« bewerben, Zeit der Wiedergeburt. 

Foto Lenindenkmal in Moskau, Russland
Norma Schneider

Ein paar Tage später werde ich in Omsk auf einem Volksfest einen Mann mittleren Alters sehen, der ein Stalin-T-Shirt trägt.  Aber bevor es weitergeht nach Omsk, besuche ich noch einen großen Buchladen in Moskau. Ich ärgere mich, dass mein Russisch noch zu schlecht ist, um meine Lieblingsautoren, vor allem Vladimir Sorokin und Viktor Pelewin, im Original zu lesen. Sie schreiben radikale, kritische Texte, spielen mit der Sprache und verwenden ziemlich viel Slang. Sorokin und Pelewin sind als literarische Größen anerkannt und gleichzeitig verpönt bei Moralwächtern und Putinfans. Die Bücher gibt es nur eingeschweißt und mit »18+«-Aufklebern zu kaufen, die Jugend muss geschützt werden vor Schimpfwörtern, Sex und Politik. 

Gleich in der Nähe des Eingangs befindet sich ein Sondertisch mit den Büchern von Vladimir Medinski, dem Kulturminister – oder »Propagandaminister«, wie mein befreundeter Moskauer sagt. Ein kurzer Blick auf die Titel und Klappentexte seiner Bücher zeigt: Sie beschäftigen sich hauptsächlich mit glorreichen Kriegen, der russischen Seele und der Widerlegung von »Mythen« über Russland, wie sie im »Westen« verbreitet würden. Zum Beispiel der Mythos, dass Russland gar keine richtige Demokratie sei. Ich frage mich, ob sich diese Bücher gut verkaufen. Bei einem Online-Buchhändler hat der Minister jedenfalls unterirdisch schlechte Bewertungen.

Ich fliege weiter nach Omsk, wo ich an der »Sommerschule der russischen Sprache und sibirischen Kultur« teilnehmen werde. Der Flug dauert noch mal so lange wie von Frankfurt nach Moskau, dreieinhalb Stunden. Zum ersten Mal bin ich im asiatischen Teil von Russland, in Sibirien sogar, dem Inbegriff von ganz weit weg. Teilt man Russland in zwei Hälften, ist Omsk allerdings noch im westlichen Teil. Es fällt mir immer noch schwer, zu begreifen, wie groß dieses Land ist.  

Sibirien also. Man denkt, es würde sich irgendwie anders anfühlen. Aber Omsk sieht einfach aus, wie die meisten russischen Städte aussehen, wenn sie nicht Moskau oder Sankt Petersburg heißen. Die Straßen sind kaputt und vollgestopft mit Autos und Bussen, die schon bessere Tage gesehen haben. Was noch fahren kann, fährt auch. Außerhalb des Stadtzentrums sieht alles ein wenig heruntergekommen aus – und vor allem unordentlicher, als man es in Deutschland gewohnt ist. Hier stehen Dinge herum, die keine Funktion haben und für die sich niemand interessiert und die deshalb auch niemand wegräumt. Das mag ich an Russland: Dass nicht alles effizient, funktional, ordentlich und einheitlich sein muss. Die Plattenbauten sind längst nicht so grau, wie man sie sich vorstellt, denn von standardisierten Fassaden hat man hier noch nichts gehört. Die kleinen Vorgärten sind oft liebevoll dekoriert, und sei es mit bemalten Autoreifen. 

Über eine Million Menschen leben in Omsk, es ist nach Nowosibirsk die zweitgrößte Stadt Sibiriens. Eine Metro gibt es nicht, nun ja, fast nicht. Es gibt eine Metrostation, hübsch mit großem »M« am Eingang und auch sonst komplett ausgestattet. Allerdings ist den Verantwortlichen nach Fertigstellung der Station (und nachdem auch schon eine Brücke aufwendig für den Bahnverkehr umgebaut wurde) aufgefallen, dass sie eigentlich doch kein Geld haben und Omsk außerdem auf Sumpfland steht. Man ist geneigt, kopfschüttelnd »Russland …« zu kommentieren, bevor einem der Berliner Flughafen wieder einfällt und man lieber doch ruhig ist.  

Das Zentrum der Stadt ist schön, es gibt eine Kathedrale mit goldenen Kuppeln, idyllische Flussufer und ein Militärmuseum mit Panzer-Freiluftausstellung. Panzer sehe ich ohnehin einige auf meiner Reise, wenn auch in harmloseren Varianten: Im Einkaufszentrum gibt es Luftballons in Panzerform zu kaufen, »Für die Heimat« steht drauf, und in einem kleinen Museum steht zur Dekoration ein Panzer aus Korbflechte in der Ecke. 

In hippen Restaurants gibt es moderne Varianten der klassischen russischen Küche, zum Beispiel schwarzgefärbte Pelmeni mit Garnelenfüllung in Kaviar-Soße, in die ich mich sofort verliebe. Der Rubelkurs steht so schlecht, dass ich mir problemlos jeden Tag solche Leckereien leisten kann – die meisten Leute aus Omsk allerdings nicht. Das durchschnittliche Monatsgehalt beträgt 40.000 Rubel, etwa 560 Euro. 

Ein Name, den man in Omsk immer wieder hört, ist Dostojewski. Nicht nur die Universität, wo die Sommerschule stattfindet, ist nach ihm benannt. Man ist stolz auf den großen Schriftsteller. Nicht etwa, weil er in Omsk geboren wäre oder die Stadt zu seiner Wahlheimat gemacht hätte. Dostojewski wurde im Alter von 28 Jahren in die Verbannung geschickt, da er an politisch-revolutionären Treffen teilgenommen hatte. Als politischer Gefangener musste er vier Jahre Zwangsarbeit in der Omsker Festung leisten. An seinen Bruder schrieb er: »Omsk ist eine hässliche kleine Stadt. Es gibt fast keine Bäume. Hitze und Sandsturm im Sommer, Schneesturm im Winter. Von der Natur habe ich nichts gesehen. Die Stadt ist schmutzig, militärisch und im höchsten Maße verdorben.« Dieses Zitat steht auf einer Tafel im Dostojewski-Museum, wo der große unfreiwillige Einwohner der Stadt geehrt wird. 

Dostojewski-Denkmal in Omsk
Norma Schneider

Die strenge Dame, die uns durch die Ausstellung führt, erläutert, dass man natürlich die Umstände beachten muss. Dostojewski habe keine gute Zeit in Omsk gehabt, das müsse man zugeben, aber man könne auch sagen: Ohne die Erfahrungen, die er in der Gefangenschaft gemacht hat, wäre er nicht der große Autor geworden, den wir alle kennen und lieben. In Omsk sei der alte Dostojewski gestorben und der Autor der großen Romane geboren worden. Ohne Omsk also kein »Verbrechen und Strafe«, keine »Brüder Karamasow« und kein »Idiot«. Es klingt fast so, als sei man in Omsk stolz darauf, einen der größten Autoren des 19. Jahrhunderts in Ketten gelegt und gemeinsam mit Gewaltverbrechern zur Schwerstarbeit geprügelt zu haben.

Nicht nur der Besuch des Dostojewski-Museums gehört zum Ausflugsprogramm der Sommerschule, sondern auch eine Besichtigung der Ölraffinerie am Stadtrand. Wir setzen alle einen Helm auf und werden mit einem Bus über das riesige Gelände gefahren. Irgendwo steigen wir aus und der permanent überfreundlich lächelnde Guide erzählt uns neben riesigen Rohren, wie gut die Anlage für die Umwelt sei. »Riecht doch mal«, fordert er uns auf und hält die Nase in die Luft. »Das riecht doch gar nicht schlecht! Das kann doch gar nicht schlecht für die Umwelt sein!« Er lächelt so hübsch, dass wir es ihm glauben müssen. Beim Aussteigen aus dem Bus (ein ganz normaler Bus, keine hohe Stufe in Sicht) hält er übrigens ausschließlich den Frauen die Hand hin, um ihnen hinaus zu helfen. Es ist so eine Sache mit den Frauenhänden in Russland. Wenn ein Mann eine Gruppe begrüßt, gibt er nur anderen Männern die Hand, den Frauen nicht. Das sei allerdings auf keinen Fall abwertend gemeint, versichert man mir.

Später unterhalte ich mich mit einem Studierenden aus Omsk über Feminismus in Russland. Ich freue mich, dass es auch hier einen feministischen Diskurs gibt und der patriarchalisch-homophobe Mainstream nicht unangefochten bleibt. Die Situation der Frauen in Russland ist nicht besonders gut, klassische Rollenbilder sind weiter vorherrschend und häusliche Gewalt gegen Frauen ist weitverbreitet und wurde 2017 sogar per Gesetz entkriminalisiert. Doch Frauen sind nicht diejenigen, die am meisten diskriminiert werden in Russland, sagt der Studierende, mit dem ich rede, sondern Homosexuelle. »Wir haben den schwersten Kampf zu kämpfen«, sagt er mir und erzählt, dass er es nach einer langen Zeit des Selbsthasses endlich geschafft hat, sich zu akzeptieren, obwohl er schwul ist. Seine Freunde sagen, sie hoffen, dass er das Land verlassen kann. Denn schwul ist man in Russland besser nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nie, was ich sagen soll, wenn ich mit der krassen Homophobie in Russland konfrontiert werde. Sie scheint so niederschmetternd selbstverständlich für die allermeisten hier zu sein, viel weniger hinterfragt als etwa die Zustimmung zu Putin.

Doch auch die ist präsent. Auf meiner letzten Russlandreise sagte mir jemand: »Putin ist ein großer, starker Führer, um den uns die anderen Länder beneiden«.  So direkt ist diesmal niemand. Aber aus dem Busfenster sehe ich einen Mann, der ein Schild in die Höhe hält mit einer Parole gegen die oppositionellen Proteste in Moskau. Ich googele die Organisation, deren Namen auch auf dem Schild steht. Es ist die NOD, die Nationale Befreiungsbewegung Russlands. Ihr Motto ist »Heimat! Freiheit! Putin!«, sagt Wikipedia. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, was ich hier eigentlich mache. Warum gehe ich freiwillig dorthin, wo die meisten entweder Putin feiern oder gerne das Land verlassen würden?

Zurück in Moskau bin ich wieder ein wenig versöhnter mit Russland, ich bekomme langsam ein Gefühl für die Stadt. Ich mag es, am Ufer der Moskva entlangzuspazieren, wo die Stadt zur Ruhe kommt. Ich gehe ins »Garage«-Museum, wo ganz aktuelle Kunst ausgestellt wird. In der Ausstellung, die gerade läuft, geht es um künstlerische Auseinandersetzungen mit Klima, Umweltschutz und einer besseren Zukunft. Themen, die in Russland gerade erst langsam ins öffentliche Bewusstsein rücken. Es sind sehr viele junge interessierte Leute dort. In den Straßen von Moskau, in den Buchläden und Museen glaube ich etwas zu spüren von Diversität und Offenheit. Hier scheint es mehr zu geben als die Entscheidung zwischen Regierungstreue oder Emigration. Hier leben auch Menschen, die daran glauben, dass sich etwas ändern kann. Sonst würden sie nicht dafür auf die Straße gehen und ihre Verhaftung riskieren. Und hier entsteht Kunst und Literatur, die reflektiert, was im Land passiert, und mit experimentellen Formen und provokativer Sprache dagegen protestiert. 

Ich fange an, mich in Moskau wohl zu fühlen. Das liegt nicht zuletzt an der großen Präsenz von Literatur in der Stadt. Die Buchläden sind voll. Auf dem Nowij Arbat stehen Bücherbuden, die bis spät abends geöffnet haben. Die Leute kommen mit Drinks aus den Bars, um nach Büchern zu stöbern. Bevor ich abreise, muss ich auch noch mal in einen Buchladen gehen. Ich kaufe unter anderem einen Roman von Viktor Pelewin, der »iPhuck 10« heißt und sehr gut sein soll. »Enthält Schimpfwörter« steht als Warnung auf dem Buchrücken. Ich bin gespannt, doch wahrscheinlich ist schon das iPhone 14 erschienen, bis mein Russisch endlich gut genug ist, um auch den Slang und die Feinheiten in diesem Buch zu verstehen. 

Wieder in Deutschland lese ich erst mal Viktor Jerofejews großen durchgeknallten Russland-Roman »Die Akimuden« in deutscher Übersetzung von Beate Rausch. Darin heißt es: »Moskau ist nicht nur allen anderen Städten der Welt unähnlich, es ist auch sich selbst unähnlich. Je länger ich in Moskau lebe, desto weniger verstehe ich es.« Mir geht es ähnlich. Je öfter ich nach Russland komme, desto weniger verstehe ich es – und finde es gerade deshalb immer interessanter. Deswegen komme ich immer wieder. Ich mag all diese Absurdität, das Unlogische und Widersprüchliche. Und ich mag es, dass die großen Autor*innen der russischen Literatur, von Dostojewski bis Sorokin, das alles in ihren Texten einfangen. Ihre besten Bücher sind genauso verrückt wie dieses verrückte Land.

Norma Schneider ist freie Mitarbeiterin im Lektorat für deutschsprachige Literatur bei S. Fischer.

Uferpromenade in Moskau
Norma Schneider