Hinter den Kulissen

»Wuhan« schreiben

Als im Januar 2020 in Wuhan der Lockdown verhängt wird, beginnt Liao Yiwu, Tag und Nacht das chinesischsprachige Internet zu durchkämmen. Er speichert jede verbotene Wortmeldung, jedes unschuldige Bild, jedes heimlich aufgenommene Video, das er finden kann. Aus diesem Material entstand »Wuhan«, ein erschreckend aktueller Dokumentarroman. Ein Bericht aus der Werkstatt des Friedenspreisträgers des deutschen Buchhandels.

Der Autor Liao Yiwu steht vor einem hellen Hintergrund und schaut am Betrachter vorbei. Er trägt eine randlose Brille.
© Stefan Gelberg / S. Fischer Verlag

Am 26. Januar wird der Dokumentarroman Wuhan bei S. Fischer erscheinen. Im deutschsprachigen Raum hat das Buch bereits im Vorfeld große Erwartungen geweckt. Begonnen hat dies in Österreich, mit der Veranstaltung »Literatur im Nebel« im Oktober vergangenen Jahres, wo ich Ehrengast war. Zwei Tage lang lasen Schauspieler:innen und Schriftstellerkolleg:innen aus meinen neun bei S. Fischer erschienenen Büchern und es fanden Gespräche dazu statt. Bei der Abschlussveranstaltung war die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller mit mir auf der Bühne und wir lasen gemeinsam aus meinem Buch Drei wertlose Visa und ein toter Reisepass über meine Flucht aus China.

Ein wichtiger Programmpunkt bei »Literatur im Nebel« war das Gespräch zwischen dem Lektor bei S. Fischer, Hans Jürgen Balmes, und mir über Wuhan, um das Buch der Öffentlichkeit vorzustellen. Wir sprachen über die Grenzen zwischen Roman und Dokumentation und über das gemeinsame Schicksal der fiktiven Romanfigur Ai Ding und der nicht-fiktiven Figuren Kcriss, Zhang Zhan und Zhang Wenfang, Verhaftungen durch die chinesische Polizei. Wobei die investigativen Bürgerjournalist:innen nichts Anderes wollten als die über acht Millionen zu Hause zwangsisolierten Bürger:innen Wuhans, nämlich unbedingt und unermüdlich Genaueres über den Ursprungs des »Virus von Wuhan« in Erfahrung zu bringen …

Nach »Literatur im Nebel« gab ich gut 20 Medien Interviews und deren am häufigsten gestellte Frage war: Sie leben jetzt seit 10 Jahren im Exil, im weit von China entfernten Berlin, Sie müssen das »Gefühl« des einheimischen Schriftstellers für China vor Ort doch verloren haben. Wie ist also der Dokumentarroman Wuhan entstanden?

 

Ich habe seit Januar 2020, dem Beginn des Lockdowns in Wuhan, Nacht für Nacht wie besessen Hunderttausende Schriftzeichen an Material aus dem Internet heruntergeladen. Meine Informationsquellen waren insbesondere die offizielle Webseite des Virologischen Instituts Wuhan der Chinesischen Akademie der Wissenschaften, alle großen Webseiten des Landes, regionale Webseiten, Dienste wie Weibo, WeChat oder Blogger und nicht zuletzt auch die chinesischen freien Medien auf Twitter. Die Inhalte waren breit gestreut: 1) das frühere und das aktuelle Leben des »Virus aus Wuhan«, 2) auf welche Weise dieses »Fledermausvirus« die Stadt Wuhan, das ganze Land und die ganze Welt infiziert hat, 3) die Überfüllung der Krankenhäuser, 4) der Tag- und Nachtbetrieb der Krematorien, 5) die landesweiten Festsetzungen von Menschen aus Wuhan, 6) die Scharmützel unter Experten über »die Herkunft des Virus«, 7) die Diskussionen und gegenseitigen Beschimpfungen unter normalen Menschen, 8) die plötzlichen Todesfälle, Suizide, Sprünge aus dem Fenster, Fluchten, Straßensperrungen …

Millionen von landesweit zu Hause zwangsinternierten Menschen drängten, niedergedrückt von Panik und Angst, ins Internet, wo sie sich mit Posts von Wortbeiträgen, Fotos und Videos überschlugen. Die personelle Ausstattung der chinesischen Internetpolizei wurde um ein Dutzendfaches erhöht, trotzdem kam sie ins Hintertreffen, man schaffte es nicht, die ozeanische Flut von »verbotenen Meinungsäußerungen« und sogenannten »Gerüchten« rechtzeitig zu löschen. Und niemand wagte, irgendwo Verhaftungen vorzunehmen. Das chinesische Internet mit dem weltweit fortschrittlichsten Kontrollsystem war tatsächlich für gute drei Wochen »außer Kontrolle«. – Bis dann eines Tages mein Computer gehackt war, schlagartig war der Bildschirm schwarz und nichts ging mehr. – Zum Glück hatte ich das Material gleichzeitig immer auch auf einer mobilen Festplatte gespeichert.

Mir blieb nichts anderes übrig, als eine Woche zu pausieren, schließlich erschien Kcriss auf der Bildfläche und ich tauchte aus meiner endlosen Flut von heruntergeladenem Material wieder auf und stürzte mich auf ihn, biss mich wie ein Hai fest an diesem erst 1995 geborenen Ex-Moderator des Chinesischen Zentralfernsehens, über den ich, veröffentlicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, einen meiner ersten Berichte schrieb.

Unmittelbar nach den Aufzeichnungen über Kcriss begann ich, mich mit Ai Dings Geschichte zu befassen – einem Klagelied, den »Verschwundenen von Wuhan« gewidmet. Kcriss, Ai Ding, Zhang Wenfang, Zhang Zhan, Fang Bin, Chen Qiushi, Wang Zang, Ai Dings Frau … reale wie fiktive Figuren des Buchs werden ausnahmslos verhaftet oder sie sterben an der Infektion, oder erwarten den Tod, im Gefängnis – und wollten doch lediglich, noch während sie vom Virus attackiert wurden, herausfinden, woher das kam, was sie attackierte …

Im Verlauf der Niederschrift von Wuhan sammelte ich Unmengen von Fotos, die von ganz normalen Menschen in China vor Ort heimlich aufgenommen wurden, von denen niemand seinen Namen darunter zu setzen wagte, denn sobald die Polizei die Urheber dieser Fotos kennen würde, würden sie verhaftet werden.

Wissen sollte man aber auch: Weil die Urheber dieser Fotos sich  nichts mehr wünschen als ihre möglichst weite Verbreitung, ist es für sie eine heimliche Freude, wenn sie sogar in westlichen Medien publiziert werden. Dieses Gefühl dürften Mitbürger:innen aus der ehemaligen DDR noch gut kennen.

Januar 2020, Vorabend des traditionellen chinesischen Neujahrsfestes, die Stadt Wuhan geht in den Lockdown. Über acht Millionen Einwohner, an die tausend Wohnviertel, und es muss nur einen einzigen Verdachtsfall einer Infektion geben, schon greifen die »Epidemieschutzmaßnahmen« und ein ganzer Wohnblock wird abgeriegelt.

Ein chinesisches Dorf nahe der Stadt Xi’an. Ein Wanderarbeiter ist kaum zu Hause angekommen, als sein Hoftor zugenagelt wird. Anschließend klettert ein Quarantänemitarbeiter in voller Schutzmontur auf die Mauer und steckt dem »Infektionsverdachtsfall« mit ausgestrecktem Arm ein Instrument in den Mund.

Ai Ding, die Hauptfigur von Wuhan, macht auf seinem Nachhauseweg in etlichen solcher Dörfer seine Erfahrungen …

Alle Straßen im Umland von Wuhan werden abgeriegelt.

Ein Dorf im Stadtgebiet von Changsha. Ein Wanderarbeiter, aus Wuhan in seinen Heimatort zurückgekehrt, ist entdeckt worden. Daraufhin wird seine gesamte Familie in der Wohnung eingeschlossen.

Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht »Massaker«, wofür er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute ...

Zum Autor

Ein bestürzend aktueller Dokumentarroman

Zum Buch