Hinter den Kulissen

Was liest Julia Heinen?

Sie legt weg, was ihr nicht gefällt, mag Figuren, die man nicht mag, und kommt immer wieder auf einen Kindheitsliebling zurück. Der Lesefragebogen unserer Lektorin Julia Heinen führt uns zu altbekannten Klassikern und macht Lust auf neue Lektüre.

Foto unserer Lektorin Julia Heinen. Sie lehnt mit offenen Haaren und dunkler Kleidung an einer Betonwand.
© Nicole Siemers
Was liest Du gerade?

Gerade habe ich begonnen, die Story-Sammlung »Homesick for Another World« von Ottessa Moshfegh zu lesen, um die Wartezeit auf ihren nächsten Roman zu verkürzen. Davor habe ich “Dschinns« von Fatma Aydemir gelesen - wobei man das eigentlich eher bingen nennen würde, was ich da gemacht habe. Außerdem lese ich gerade »Zugang verwehrt« von Francis Seeck, eine Streitschrift über Klassismus. Die meiste Zeit stecke ich natürlich bis über beide Ohren in Manuskripten, aber ich muss immer auch zum Privatvergnügen lesen, sonst werde ich unglücklich.

 

Papier oder E-Reader?

Manuskripte lese ich natürlich digital, und das nicht zu knapp. Darum würde ich privat (bis auf ganz wenige Krimi-Ausnahmen) niemals den E-Reader in die Hand nehmen - ich brauche Umschläge und schönes Papier und am besten sogar Lesebändchen.

 

Das letzte Buch, das Du nicht bis zum Ende gelesen hast?

Das war wohl »Meter pro Sekunde« von Stine Pilgaard, obwohl ich darauf eigentlich sehr gespannt war. Aber ich breche ständig Bücher ab, manchmal denke ich, dass das doch das einzige ist, was uns in diesem Beruf rettet: Der Mut, Dinge auch nicht zu mögen. Lesezeit ist schließlich kostbar.

 

Das letzte Buch, das Dich zum Lachen gebracht hat?

Viel gelacht habe ich bei »Lied vom Abendrot« und »Wind und Wolkenlicht«, den ersten zwei Bänden von Lewis Grassic Gibbons großem Schottland-Epos. Esther Kinsky hat diese Bücher unglaublich gut übersetzt, mit viel Sprachwitz und großer Verspieltheit. Laut (und manchmal ungläubig) lachen musste ich auch bei »Liebe in Zeiten des Hasses« von Florian Illies. Bei aller Tragik sind viele Verwicklungen doch wirklich sehr komisch.

 

Das letzte Buch, das Dich zum Weinen gebracht hat?

Ob ich wirklich geweint habe, weiß ich gar nicht mehr. Aber »Shuggie Bain« von Douglas Stuart hat mich sehr aufgewühlt.

 

Deine liebste Romanfigur?

Ich glaube, ich lese nicht unbedingt so, dass ich mich mit Figuren identifizieren muss. Darum kann ich das tatsächlich nicht sagen. Gut sind doch vor allem immer die, die man nicht mag.

 

Welches Buch empfiehlst Du für einen Städtetrip?

Ich möchte ganz bald Neapel erkunden mit Ulrich van Loyens »Neapels Unterwelt«. Darin geht es um Alltag und Totenkult, Seherinnen und Camorristi, aber auch um das Reich zwischen den Geschlechtern. Kann man sich ein aufregenderes Wochenende vorstellen?

 

Welches Buch empfiehlst du für einen literarischen Trip in die klassische Antike? 

Da würde ich »Medea« und »Kassandra« von Christa Wolf empfehlen. Sie bleibt für mich die Godmother of Retellings.

 

Manchmal schämt man sich dafür, ein bestimmtes Buch zu mögen – hast Du eins?

Ganz bestimmt nicht. Als ich in einer Buchhandlung gearbeitet habe, haben Kund:innen oft verschämt Bücher »für eine Freundin« gekauft - das ist doch fürchterlich! Ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass man eine gute Lektorin wäre, wenn man sein ganzes Leben nur im Elfenbeinturm säße. 

 

Gibt es ein Buch, das alle Welt liebte, nur Du fandest es doof?

Natürlich gibt es das immer wieder. Zum Glück finden sich dann aber meistens doch Gleichgesinnte - und kaum etwas verbindet ja so schön, wie gemeinsame Wut. Oder leidenschaftliches Streiten …

 

Welches Buch sollte Deiner Meinung nach jede und jeder gelesen haben?

»Ihr Körper und andere Teilhaber« von Carmen Maria Machado! Aber auch Anne Franks Tagebuch und Virginia Woolfs »A Room of One’s Own« gehören auf jede Leseliste, finde ich.

 

Welches Buch hast Du nie gelesen und wünschtest, Du hättest es?

Wirklich schlimm ist, dass ich »The Bell Jar« von Sylvia Plath nicht gelesen habe. Aber es liegt zumindest bereit.

 

Zu welchem Buch kehrst Du immer wieder zurück?

Ich bin eine notorische Rückkehrerin, zum Beispiel zu allen Büchern von Wolfgang Herrndorf, vor allem »Bilder deiner großen Liebe«, aber auch zu den Texten von Walter Benjamin, Susan Sontag, Grace Paley, Teju Cole oder Merce Rodoreda. Und manchmal, wenn gar nichts mehr geht, muss es einfach »Kalle Blomquist« sein.

 

 

Julia Heinen ist Lektorin im Lektorat für Literatur des S. Fischer Verlags