Interviews

Big Data und das erbärmliche Heilsversprechen

Freiheit als Zumutung, Bequemlichkeit als Reiz: Warum wir uns nicht gegen den digitalen Totalitarismus wehren, unser Widerstand doch eigentlich gerade jetzt von Nöten wäre und wir uns vom selbstbestimmten Subjekt wohl bald verabschieden können, das erklärt der Sozialpsychologe Harald Welzer in unserem Interview.

Lieber Herr Welzer, Sie beschäftigen sich derzeit mit dem digitalen Totalitarismus. Wie sieht der genau aus?
Zu totalitären Regimen und Systemen, wie wir sie aus der Geschichte kennen, gehört immer die Zerstörung von Privatheit, weil die der totalen Kontrolle im Wege steht. Gegenwärtig löst sich Privatheit in totale Transparenz durch totale Überwachung auf. Nur ist dieses Mal gar keine politische Revolution und kein Regimewechsel dafür nötig. Dieser Totalitarismus stellt sich beinahe automatisch ein.

Sie sprechen von der Aufhebung der Privatheit, was wir momentan in erster Linie mit der Preisgabe von Daten in Verbindung setzen. Nun gibt es da wiederum zwei Varianten. Zum einen das absichtliche Angeben und Offenlegen von eigenen Daten, wie beispielsweise beim Absetzen von Facebook-Posts und beim Hochladen eines Profilfotos, und zum anderen aber auch das unbewusste Ab- und Preisgeben von eigenen Daten.
Ja, genau. Der Unterschied zwischen dem digitalen Totalitarismus und dem klassischen totalitären Regime besteht darin, dass jenes mit Hilfe von Gewalt und Geheimpolizei die Daten zunächst mühevoll zusammensuchen musste, die gebraucht wurden, um sie gegen die Leute verwenden zu können. Das ist heute nicht mehr der Fall, weil Daten über Big Data und die fälschlich so genannten sozialen Netzwerke von den Nutzern selbst zur Verfügung gestellt werden und gewissermaßen nur noch »geerntet« werden müssen. Schließlich nimmt das Unheil dadurch seinen Lauf, dass die Ernte durch den Gesetzgeber und die Exekutive nicht unterbunden wird.

Das heißt, eigentlich ist das dann eine andere Form von Totalitarismus, eine die nicht mehr nur über Staatsorgane ausgeführt wird, sondern eher eine gesellschaftliche Bewegung ist?
Na ja, das ist ja gerade der Clou, den man verstehen muss. Dem politischen Totalitarismus, wie wir ihn kennen, geht eine politische Revolution oder ein Regimewechsel voraus, er benutzt Kollektivierungssymbole und –instrumente, Uniformen, Aufmärsche, Liturgien, Programmschriften, massive Gewalt gegen andere usw., um sein Ziel der totalen Kontrolle zu erreichen. Das kennen wir, wir wissen, dass Totalitarismus immer etwas damit zu tun hat, dass jemand die Macht ergreift und exekutiert. Die Form von Totalitarismus aber, die wir jetzt beobachten können, funktioniert bereits unter den gegebenen Rahmenbedingungen ganz prächtig, breitet sich gewissermaßen in friedlicher Koexistenz mit dem Staatswesen aus. Und das macht das ganze schwer begreifbar. Für diese Revolution braucht es gar keine Revolution. Die findet im System statt, das sich dabei sukzessive aufhebt.

Dabei gibt es ja schon Parallelen, zum Beispiel in Hinsicht auf ein gewisses Heilsversprechen – wenn man zum Beispiel an den »neuen Menschen« denkt, der während der Russischen Revolution proklamiert wurde. Und so ein Versprechen gibt uns Big Data ja in gewisser Weise auch: alles soll besser werden, einfacher, schneller, effizienter …
Wobei ich dieses Heilsversprechen erbärmlich finde. Das Heilsversprechen des »neuen Menschen« beinhaltete zumindest noch so etwas wie den freien, den selbstbestimmten Menschen, das aus der Knechtschaft befreite Subjekt, da wurde ja noch ein Versprechen der Überschreitung der gegebenen Verhältnisse gemacht. Das einzige Heilsversprechen aber, das jetzt gegeben wird, ist, dass alles noch bequemer wird. Dabei ist ohnehin schon alles furchtbar bequem. Was dem Subjekt also heute dafür offeriert wird, dass es sich selbst aufgibt, ist etwas mehr Bequemlichkeit. Wirklich toll.

Im Grunde geht es ja dabei auch um Selbstoptimierung, also um den Kühlschrank, der für mich einkauft, das self tracking device, das mich fit hält, um Optimierungsversprechen, die gemacht werden, um einen angeblich wieder frei zu machen. Die eigenen Ziele sollen schneller erreicht werden, man soll mehr Zeit haben, besser und gesünder leben usw.
Doch was ist dabei das Versprechen? Es ist seinerseits nur auf das bestehende System bezogen. Es verspricht dir bloß, dass du besser im System funktionierst, wenn du deinen Puls, deine Schrittzahl kontrollierst, wenn du auf dich permanent aufpasst. Es geht nicht darum, Superman, Revolutionär, Held oder sonst etwas Metaphysisches zu sein, sondern nur darum, sich selbst innerhalb des Systems zu optimieren. Der Rahmen ist immer schon gesetzt, es geht nur noch darum, darin alles noch etwas »innovativer« zu gestalten, etwas besser – durch die Kontrolle seiner selbst und aller anderen. Das ist wirklich ein ziemlich müdes Heilsversprechen, was diese angeblich so »smarten« Silicon-Valley-Typen da anzubieten haben.

Das eigentlich frappierende Moment ist nun auch, dass ja inzwischen all das bekannt ist, dass man, spätestens seit Snowden, weiß, was mit den eigenen Daten passiert und passieren kann. Und trotzdem: Unglaublich viele Leute scheint das nicht zu interessieren. Wie erklärt sich das?
Naja, ich glaube, dass die digitale Kontrolle auch etwas Attraktives hat.  Es ist ja nicht so, dass die Freiheit auch frei von Belastungen wäre: Man muss sich entscheiden, orientieren, man muss planen, sich organisieren, man muss sich selbst entwerfen. Autonomie und Freiheit, das sind Errungenschaften der Moderne, die diejenigen, die damit gut leben können, zum Beispiel Intellektuelle, als entlastend empfinden und im emphatischen Sinne als Freiheit für sich selbst begreifen. Für viele andere Menschen, die innerhalb der Zwänge leben können und wollen, ist Freiheit immer auch eine Zumutung. Und das Entlastungsbedürfnis ist ausgesprochen groß. Man muss sich ja fragen:  Warum haben wir über die Moderne hinweg immer wieder eine so große Zustimmungsbereitschaft für totalitäre Systeme zu verzeichnen? Weil Freiheit auch eine Belastung ist und einem Subjekt unheimlich viele Entscheidungen aufbürdet. Sich davon frei machen zu können, kann schon als attraktiv empfunden werden.  Hannah Arendt hat das gesehen, aber etwa auch Erich Fromm, in seinem Buch ›Escape from Freedom‹. Das war vor siebzig Jahren. Jetzt kommt, im Zuge des digitalen Totalitarismus, noch ein anderes Moment hinzu, denn: Jemand, der sich in ein autonom fahrendes Auto setzt, der sein Haus die Temperatur selbst regeln und sein Smartphone die Wurst  bestellen lässt, noch bevor er Hunger hat, der wünscht sich ja nicht nur Entlastung, sondern totale Bevormundung – und das ist mir psychologisch dann auch nicht mehr erklärbar, dafür fehlt mir das Verständnis. Dass man selbst gern doof und entscheidungsunfähig für sich selbst wäre.

Gibt es denn Möglichkeiten der Gegenwehr? In Ihrem angesprochenen Gastbeitrag erwähnten Sie Hans Magnus Enzensberger und seine Idee der Desynchronisierung, die Idee, das Handy einfach mal auszuschalten, sich zu entkoppeln. Diese Idee wurde von vielen belacht, aber geht es nicht im Grunde nur so?
Der Widerstand gegen klassische totalitäre Systeme war immer sehr teuer und extrem risikoreich. Er hat viele Menschen das Leben gekostet. Heute erscheint schon allein der Gedanke, sich dem informationellen Totalitarismus durch Nichtbenutzung entgegenzustellen, für die meisten Menschen undenkbar, ja lächerlich. Als würde man ohne die Nummer vom Pizzaservice aus dem Internet sterben. Es gibt hier übrigens auch das psychologische Moment der Identifikation mit dem Aggressor: Wenn jemand diese Welt kritisiert, identifiziere ich mich desto mehr mit ihr. Gefährlich sind dann diejenigen, die behaupten, dass die Geräte gefährlich sind.

Und die Vision aus diesem System auszusteigen ist ja eigentlich nicht wirklich präsent. Schon sein Gehalt bekommt man ja nicht mehr in bar ausgezahlt, sondern überwiesen…
…wobei man darauf sicher bestehen könnte. Das ist ja nicht per Gesetz geregelt. So wie nicht vorgeschrieben ist, dass alle Transaktionen nur noch mit der Kreditkarte oder dem Smartphone getätigt werden müssen. Das Bestreben geht natürlich dahin, da das autonome Bezahlen per Bargeld  sich der totalen Kontrolle entzieht und dadurch systemstörend wirkt. Aber warum nicht? Warum bezahle ich nicht alles bar? Nur weil mittlerweile alles online und per Smartphone oder sonstigem Gerät gezahlt und gebucht wird, bin ich dazu nicht objektiv gezwungen. Allerdings denke ich, dass wir nur noch wenige Jahre von dem Punkt entfernt sind, an dem wir objektiv gezwungen werden, auf die angegebenen Weisen zu zahlen und zu buchen – und das muss man sich klarmachen!

Also wenn, dann müsste man den Widerstand jetzt organisieren? Solange es noch solche Lücken gibt?
Genau, solange es solche Antiquiertheiten wie Bargeld, wie direkte Kommunikation usw. noch gibt, muss man diese als »Brückenköpfe« verstehen und darf sie auf keinen Fall aufgeben.

Welche Rolle können einzelne Personen wie Edward Snowden oder Julien Assange dabei spielen?
Je länger ich mich mit diesem Thema beschäftige, desto eindrucksvoller scheint mir die Tat von Edward Snowden und auch ein Projekt wie Wiki-Leaks. Das sind Formen eines Widerstands, die entwickelt worden sind, bevor der gutinformierte Zeitungsleser dahinterkommt. Das ist sehr deprimierend anzugucken, wie wenig Bedeutung dem eigentlich beigemessen wird. Ein krasser Fall von Elitenversagen.

Wie aktuell ist denn die Situation schon für uns? Ist die Gefahr auch in einem vermeintlichen rechtsstaatlichen System vorhanden?
Ich habe lange Zeit gedacht, dass alles gar nicht so schlimm ist, solange der Staat ein Rechtsstaat bleibt. Und dass das Problem erst wirklich konkret wird, wenn es einen Regimewechsel gibt. Aber was ist, wenn sich der Systemwechsel einfach vollzieht, durch Veränderung des Sozialverhältnisses, ohne Wechsel des Regimes?

Ist im digitalen Totalitarismus dann überhaupt noch Widerstand möglich?
Man muss sich klar machen, dass jede Form des Widerstands unter vollzogenen totalitären Verhältnissen  Privatheit und Konzentration braucht. Sonst gibt es den Widerstand nicht. Selbst in einer weitgehend konformistischen und durch massive Gewalt kontrollierten Gesellschaft wie der des »Dritten Reichs« wurden tausende Menschen gerettet, weil man sie verstecken konnte. Das wäre heute nicht mehr möglich. Keiner würde entkommen.

Liegt ein Problem vielleicht auch darin, dass es schwierig ist, eine konkrete Gegnerschaft zu benennen?
Ich weiß nicht, warum man sie nicht benennen kann. Es sind Unternehmen wie Google, Amazon, Uber usw., die ihre Absichten ja auch gar nicht verhüllen. Da tritt man ja auch programmatisch so auf, in den coolen Reden, dass es nicht die Aufgabe des Kunden sei, zu wissen, was er will. Das stammt von Steve Jobs. Informationeller Totalitarismus hat auch seine Idole und Popstars.

Wenn die Gegner klar sind, geht es dann jetzt vor allem darum, Mehrheiten zu organisieren, um Widerstand gegen diese Entwicklungen zu leisten?
Mehrheiten zu organisieren, ist eines der schwierigsten Unterfangen, die es auf der Welt überhaupt gibt. Es wäre schon gut, das Denken in Gang zu bringen, bevor es völlig kolonialisiert ist. Das wäre mal ein Anfang.

Harald Welzer

Harald Welzer

Harald Welzer, geboren 1958, ist Sozialpsychologe. Er ist Direktor von FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit und des Norbert-Elias-Centers für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg. In den Fischer Verlagen sind von ihm u. a. erschienen: »Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden«, »Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird«, »Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen«, »Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens« und – gemeinsam mit Richard David Precht – »Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist«. Seine Bücher sind in 21 Ländern erschienen.