Interviews

Drei Fragen an Javier Cercas

Javier Cercas' neuer Roman »Die Erpressung« ist weit mehr als nur eine Kriminalgeschichte. Der zweite Teil der »Terra-Alta-Trilogie« diskutiert das moderne Katalonien zwischen Politik und Moral auf äußerst zugängliche Weise. »Wenn man die Wirklichkeit erobern will, muss man zuerst die Sprache erobern.« – In diesem Beitrag teilt Cercas seine Überlegungen zu Rache, Literatur und Sprache mit uns.

Javier Cercas steht in dunkler Jacke und mit ernstem Blick vor einer mit alten Häusern bebauten Straße. Es dämmert und Wind scheint zu gehen. Sein Blick geht an der Kamera vorbei in die obere rechte Ecke des Bildes.
© Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif

  Vor wenigen Tagen ist Ihr neuester Roman in Deutschland unter dem Titel Die Erpressung erschienen, auf Spanisch heißt er Independencia, also Unabhängigkeit. Können Sie uns erklären, warum Sie diesen Titel gewählt haben?

 

    Die Erpressung heißt auf Spanisch Independencia, damit mich jeder fragt, warum der Roman so heißt. Dieses Wort ist so wunderbar mehrdeutig, und ich liebe Titel, die zu Missverständnissen führen können: Wir wissen nicht, warum Shakespeare As You Like It As You Like It genannt hat, und Umberto Eco schrieb, der beste Titel der Weltliteratur sei Die drei Musketiere, weil es in Wirklichkeit vier Musketiere gibt (und der wichtigste ist der vierte, d'Artagnan). Mein Buch heißt auf Spanisch auch deshalb Unabhängigkeit, weil ich Katalane bin. Der Roman spielt in Barcelona, und in Katalonien haben sich die Separatisten seit einiger Zeit all die schönen Wörter – Unabhängigkeit, Demokratie, Freiheit – angeeignet und ihre Bedeutung verfälscht: Für sie bedeutet Unabhängigkeit in Wirklichkeit Abspaltung; Demokratie und Freiheit stehen für Verletzung des Rechtsstaates, der doch der beste Garant für Freiheit und Demokratie ist. So gesehen ist Independencia ein geradezu kämpferischer Titel: Wenn man die Wirklichkeit erobern will, muss man zuerst die Sprache erobern; die Separatisten haben die Sprache erobert, und wir müssen sie zurückerobern. Es ist auch ein provokanter Titel: Alle Bedeutungen des Wortes Unabhängigkeit scheinen mir positiv zu sein, außer der politischen. Politisch gesehen bin ich ein »Dependentista«, ein Abhängigkeitskämpfer, denn ich glaube, je mehr wir voneinander abhängen, desto besser für alle. Ich glaube auch, dass ein wirklich vereintes, föderales Europa der beste Ausdruck dieser »Abhängigkeitsbewegung« wäre, zumindest für die Europäerinnen und Europäer. Deshalb ist die Linke nicht nationalistisch, sondern internationalistisch. Unter anderem deswegen wähle ich links.

Müsste ich Die Erpressung in einem einzigen Satz zusammenzufassen, würde er lauten: Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, Ricky Ramírez, der auf die falsche Weise nach persönlicher Unabhängigkeit strebt. Wie? Indem er sich in die Nähe der katalanischen Wirtschaftselite begibt, die ihn zunächst für ihre eigenen Zwecke benutzt und dann als Klopapier. In diesem Sinne kann Die Erpressung als Metapher für das gelesen werden, was in Katalonien seit dem großen separatistischen Aufstand, der 2012 begann und 2017 seinen Höhepunkt erreichte, geschehen ist. Damals beschloss die katalanische Wirtschaftselite, gestützt auf die äußerst mächtige katalanische Autonomieregierung und ihre Medienmacht, starken Druck auf die Regierung in Madrid auszuüben, um sich die tiefe Wirtschaftskrise zunutze zu machen, in der ganz Europa steckte. So trug sie entscheidend dazu bei, die Menschen auf die Straße zu bringen, indem sie ihnen verlogen ein paradiesisches Katalonien versprachen, das endlich befreit sein würde von dem unterdrückerischen und räuberischen Spanien. Die für den nationalistischen Populismus typische Bewegung – der katalanische Separatismus ist die spanische Version des westlichen Nationalpopulismus – geriet außer Kontrolle. Es ist zwar sehr einfach, die Leute aus ihren Häusern zu locken, aber sehr schwierig, sie wieder hineinzubekommen, und nun hat diese Elite die Situation nicht mehr im Griff und ist dermaßen verängstigt, dass sie die Sitze ihrer großen Unternehmen aus Katalonien verlegt hat. Viele Menschen fühlen sich jetzt zu Recht betrogen, sind wütend und frustriert, weil nichts von dem, was ihnen vorgegaukelt wurde, wahr geworden ist. Die Wahrheit macht Frauen und Männer frei, während Lügen nur zu einem Sklavendasein führen. So sieht die Situation in Katalonien bis heute aus. 

Und so kann man Die Erpressung lesen. Aber da die Literatur das Individuelle zum Universellen macht (oder wie angeblich Tolstoi schrieb: »Male dein Dorf und du malst die Welt.«), sollte das Buch vor allem als das gelesen werden, was es ist: eine wütende Anklage gegen die Tyrannei der Herren des Geldes und der Welt. Der spanische Titel hebt vor allem die politischen, moralischen und psychologischen Aspekte hervor, während der deutsche Titel die Kriminalgeschichte betont, die Rahmenhandlung des Romans, ohne die die zugrunde liegenden Probleme nicht dargestellt werden könnten.
                                                        

   Also ist Die Erpressung ein Kriminalroman?

 

     Ich weiß es nicht. Borges sagte, alle Romane seien Kriminalromane. Das würde ich auch von all meinen Romanen behaupten – wie überhaupt von allen Romanen, die mir wichtig sind, beginnend bei Don Quijote –, zumindest insofern, als sie alle ein Rätsel enthalten und es jemanden gibt, der dieses Rätsel zu entschlüsseln versucht, was das Wesentliche dieses Genres ist. Zwar ist die Hauptfigur in Die Erpressung, wie auch in dem Vorgänger Terra Alta, ein Polizist, der einen Fall aufklären muss – hier wird die Bürgermeisterin von Barcelona mit einem Sexvideo erpresst –, was dem Roman einen deutlichen Krimicharakter verleiht. Wie dem auch sei, ich halte mich an das Offensichtliche: Es mag zwar immer noch Leute geben, die den Kriminalroman für eine unbedeutende Gattung halten, aber in Wahrheit gibt es in der Literatur keine unbedeutenden oder bedeutenden Gattungen, sondern nur einen bedeutenden oder unbedeutenden Umgang mit den Gattungen. In der Komödie gibt es Aristophanes, Shakespeare oder Molière, aber auch viele Nichtigkeiten; im Kriminalroman gibt es unzählige zu vernachlässigende Autorinnen und Autoren, aber wir haben auch Poe, Chandler, Borges oder Sciascia – ganz zu schweigen davon, dass es in den letzten zwei Jahrhunderten kaum einen großen Erzähler gab, der sich nicht der Zutaten der Kriminalgeschichte bedient hätte. Kurz gesagt, es gibt nur zwei Arten von Romanen: gute und schlechte. Alles andere ist nur Gerede.

 

     Was bedeutet es für Sie, einen Roman zu schreiben?                                      

             

     Einen Roman zu schreiben bedeutet für mich, eine komplexe Frage auf die möglichst komplexeste Art und Weise zu stellen. Die Frage in Die Erpressung könnte lauten: Ist Rache legitim, wenn die Justiz uns keine Gerechtigkeit widerfahren lässt? Ist es akzeptabel, wenn jemand das Gesetz in die eigenen Hände nimmt? In der Realität ist die Antwort klar: nein. In der Fiktion hingegen ist die Sache komplexer. 

Literatur ist in erster Linie ein Vergnügen, wie Sex; aber sie ist auch eine Form des Bewusstseins, genau wie Sex (weshalb mir, wenn mir jemand sagt, dass er nicht gerne liest, nichts anderes einfällt, als ihm mein Beileid und Mitgefühl auszusprechen). Welche Art von Bewusstsein liefert die Literatur, wie geht es vor, woraus besteht es? Die Antwort liegt ebenfalls auf der Hand: Es besteht zunächst darin, uns zu zwingen, unsere tief verwurzelten Gewissheiten in Frage zu stellen, uns in moralisch oder politisch oder ideologisch fremde und unbequeme Situationen zu versetzen, uns aufzufordern, Handlungen nachzuvollziehen oder Personen zu verstehen, mit ihnen zu sympathisieren oder mit ihnen mitzufühlen, die wir im Alltag verachten würden, uns aus unserer Komfortzone rauszubewegen und uns zu zwingen, in unserem Wesen jene gewalttätigen Leidenschaften und verborgenen Begierden zu bergen, die Georges Bataille den »verfemten Teil« nannte. Die Literatur erweitert unser Bewusstsein von der Wirklichkeit, indem sie uns in die Lage des Anderen versetzt, wie fremd oder pervers oder unmoralisch er auch sein mag, und sie erweitert unser Bewusstsein von uns selbst, indem sie uns mit dem geheimen, wütenden, schrecklichen Anderen konfrontiert, den wir alle in uns tragen: Sie hilft uns so, ihn zu beherrschen, zu verhindern, dass er uns beherrscht, uns zu läutern (etwas Ähnliches nannte Aristoteles »Katharsis«, was »Läuterung« bedeutet). Und deshalb ist Literatur zwar ein Spiel, aber eines, bei dem man alles aufs Spiel setzt. Und deshalb glaube ich, im Gegensatz zu dem, was einer der am tiefsten verwurzelten Aberglauben unserer Zeit predigt: dass die Literatur äußerst nützlich ist, vorausgesetzt, dass sie nicht darauf abzielt, es zu sein. Sobald sie darauf abzielt, wird sie zu Propaganda oder Pädagogik und hört auf, nützlich zu sein, und hört auf, Literatur zu sein. Zumindest gute Literatur.
Denn ein Roman stellt Fragen, aber er ist nicht befugt, sie zu beantworten, zumindest nicht auf eine eindeutige, endgültige Weise. Seine Antworten sind immer mehrdeutig, komplex, facettenreich, im Grunde ironisch: Die Antwort ist letztlich die Suche nach einer Antwort, ist die Frage selbst, das Buch selbst. Ist Rache legitim, wenn die Justiz uns keine Gerechtigkeit widerfahren lässt?
»Die Hälfte eines Romans kommt von dem, der ihn schreibt«, sagt der Franzose in Terra Alta, »die andere Hälfte von dem, der ihn liest.« Das stimmt: Ein Roman ist eine Partitur, und es ist die Leserin, der Leser, die oder der sie interpretiert, und jede und jeder interpretiert sie auf eigene Weise; das ist der Zauber oder ein großer Teil des Zaubers der Literatur. Deshalb ist der eigentliche Protagonist der Literatur nicht der Autor, sondern die Leserinnen und Leser, die die Romane wirklich zu Ende schreiben. Nur sie kennen die endgültige Antwort auf die Frage, die Die Erpressung stellt.

 

Aus dem Spanischen übersetzt von Corinna Santa Cruz.

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Javier Cercas, geboren 1962 in Ibahernando in der spanischen Extremadura, lebt als Schriftsteller, Publizist und Universitätsdozent in Girona. Mit seinem Roman »Soldaten von Salamis« wurde er international bekannt. Heute ist sein Werk in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Für »Der falsche Überlebende« (S. Fischer 2017), erhielt er u.a. den Prix ...

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