Interviews

Im Gespräch mit Frédéric Martel

Am 25. September erscheint »Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan« von Frédéric Martel. Mit seiner Lektorin Tanja Hommen spricht er unter anderem über seine Motivation, dieses Buch zu schreiben, über die Vertuschung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche und darüber, ob »Sodom« ein Plädoyer zur Aufhebung des Zölibats ist.

Was war Ihre Motivation dafür, ein Buch über Homosexualität in der katholischen Kirche zu schreiben?

Seit mindestens 50 Jahren hat sich die katholische Kirche geradezu besessen darauf versteift, Millionen von Menschen in aller Welt anzuklagen, weil sie vor der Ehe ein Sexualleben hatten, weil sie sich scheiden ließen oder weil sie homosexuell waren. Heute weiß man, dass die Mehrheit der Kardinäle aktiv homosexuell ist und ebenso die meisten Priester ein Sexualleben haben und ein Doppelleben führen. »Sodom« ist kein Buch über Skandale, es ist kein Buch gegen die Kirche. Es ist ein Buch, das eine Doppelmoral aufdeckt und eines der größten Geheimnisse der letzten 50 Jahre.
Ich habe keine Rechnung mit der Kirche offen, ich bin ein Schriftsteller, der ein gutes Buch schreiben wollte, eine umfassende Untersuchung. Ich wollte von einer Realität erzählen, die jeder erahnt und die hier nun bis in die kleinsten Details präsentiert wird.
Im Grunde haben die Katholiken dieses Geheimnis bereits erkannt, doch jetzt haben sie alle Fakten und alle Erklärungen vorliegen. Das Buch ist eine Art Puzzle, dessen Teile es Stück für Stück zusammenfügt: die Geschichten, die Personen, die Situationen, vieles, das für die Mehrheit der Katholiken bislang unklar ist und hier nach und nach Form annimmt. Am Ende zeigt sich, dass der Schlüssel die Dominanz der Homosexualität ist, und damit ist das Puzzle komplett.

Sie haben vier Jahre lang recherchiert und Gespräche mit 1500 Personen geführt. Wie kommt es, dass Ihnen Ihre Gesprächspartner diese teils brisanten und auch intimen Informationen anvertraut haben?

Wenn man ein solches Buch beginnt, weiß man von Anfang an zwei Dinge: Erstens wird man nicht alles schreiben können, selbst wenn die Menschen es einem erzählen. Und zweitens wird man nicht alles bis ins Letzte verstehen. Denn die Sexualität von Priestern ist ein Tabu-Thema. Interessant ist, dass schwule Priester über ihre Homosexualität in der 1. Person sprechen, während schwule Bischöfe oder Kardinäle eher über die Homosexualität der anderen sprechen, sehr selten über ihre eigene.
Die Schwierigkeit ist also nicht nur, die Menschen dazu zu bringen, dass sie erzählen, sondern auch das »Off« zu respektieren, ihr Privatleben. Deshalb habe ich von Anfang an beschlossen, niemanden zu outen, die Homosexualität von noch lebenden Kardinälen und Bischöfen nicht aufzudecken.
Gleichzeitig ist es aber wichtig, das System zu erklären. Die Schwierigkeit eines solchen Buches ist also vor allem: Sich einerseits an die Regeln zu halten, wie ich sie mir selbst auferlegt habe – wobei es natürlich auch rechtliche Regeln gibt –, und dabei trotzdem eine Geschichte zu erzählen, die einzig und allein auf der Realität beruht. Denn dieses Buch ist eine Reportage, ein journalistisches Buch. Es ist an keiner Stelle fiktiv. Andererseits aber muss daraus eine Geschichte werden, die für den Leser interessant ist.

Warum vertreten homosexuelle Priester und Würdenträger so häufig und rigide homophobe Positionen, die sich doch gegen sie selbst richten? Ist das nicht schizophren?

Die meisten Leute, die dieses Buch lesen oder die sich für den Katholizismus interessieren, sind überrascht, sogar schockiert von dieser massiven, mehrheitlichen Homosexualität und der gleichzeitigen Homophobie. Das ist ein Widerspruch. Wie kann man gleichzeitig homosexuell und homophob sein? In Wirklichkeit, und das ist der Schlüssel, ist es gar kein Widerspruch. Es ist folgerichtig. Man ist homophob, weil man homosexuell ist. Man will seine Homosexualität verbergen, und das gelingt doch am besten, indem man eine Homophobie bestärkt, die dazu beiträgt, das Geheimnis zu wahren.
Tatsächlich ist diese Homophobie, diese homophobe Homosexualität oder diese Homophobie von Homosexuellen, geradezu klassisch. Man braucht nur in die Literatur zu schauen, zum Beispiel Marcel Proust, vielleicht Thomas Mann, aber es gibt zahlreiche weitere Persönlichkeiten der internationalen Literatur … Also, zum Beispiel J. Edgar Hoover, der ehemalige Direktor des FBI, der seine Zeit damit verbringt, Listen von Homosexuellen zu erstellen, und versucht, sie zum Reden zu bringen. Dabei hat er selbst mit seinem Boyfriend zusammengelebt. Wir haben hier also eine Art Paradox, aber tatsächlich handelt es sich um eine ganz rationale Erklärung. Ein Homosexueller, der Angst hat, seine Homosexualität aufzudecken, tendiert dazu, sich in der Öffentlichkeit extrem homophob zu zeigen. So ist es eben auch im Katholizismus, das ist es, was der Heuchelei und Schizophrenie zugrunde liegt. Man ist nach außen sehr homophob – doch im Innern des Systems macht man, was man will.

In Ihrem Buch schildern Sie ein System des Schweigens und der Geheimhaltung. Welche Rolle spielt dieses System in Bezug auf die Vertuschung von sexuellem Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche?

Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass Homosexualität nicht automatisch mit sexuellem Missbrauch verknüpft ist, ganz und gar nicht. Sexueller Missbrauch ist, soweit man aus aktuellen Studien weiß, in erster Linie und überall auf der Welt heterosexuell. Tatsache ist, dass es Mädchen und Frauen betrifft, sehr oft innerhalb der heterosexuellen Kernfamilie, auch in Schulen, es sind Heterosexuelle, die Mädchen sexuell missbrauchen. Es stimmt allerdings, dass es in der katholischen Kirche eine spezielle Situation gibt. Denn hier sind nach Studien zu 40 bis 45 % Jungen oder sehr junge erwachsene Männer betroffen, häufig Seminaristen. Warum? Das Problem liegt nicht in der Homosexualität, das Problem liegt in einer verdrängten, abgelehnten, unterdrückten Sexualität. Dies ist die eigentliche Basis für die Lüge bezüglich der Sexualität von Priestern, die sie anderen, aber auch sich selbst gegenüber aufrechterhalten. Und damit auch für deren schizophrenes Leben, das in manchem Fall bis ins Pathologische gehen kann. Dabei zeigt sich dann, dass das Gelübde, zölibatär zu leben, das Keuschheitsgelübe, häufig eine Fiktion ist, nicht extistent ist. Zum Glück führt dies keineswegs immer zu sexuellem Missbrauch, vielen gelingt es, ihre Sexualität zu beherrschen.
Der Schlüssel also, der all dem zugrunde liegt, ist nicht die Homosexualität, es ist eher die Verknüpfung mit dem Geheimnis, das gewahrt werden soll. Dies ist die Ursache dafür, dass sexueller Missbrauch vertuscht wird. Wenn ein Fall sexuellen Missbrauchs bestraft wird, der Täter verurteilt, ins Gefängnis gesteckt oder auch therapiert wird, wird er den Missbrauch nicht wiederholen. Tatsächlich kann der Missbrauch immer wieder begangen werden, weil das System und die katholische Hierarchie seit Jahrzehnten den Missbrauch geschützt, vertuscht, ja, darüber gelogen hat, und daraus sind diese großen Skandale entstanden. Und obwohl – zum Glück – nur wenige Priester, es heißt 2 bis 3 %, in Fälle von Missbrauch verwickelt sind, haben wir sehr viele Opfer, die betroffen sind.

Woher rührt die Opposition gegenüber Franziskus und seinem Vorstoß, die Positionen der Kirche in sexuellen Fragen zu liberalisieren?

Franziskus ist, würde ich sagen, ein Reform-Papst, er hat etwas von Gorbatschow, auch wenn ich ungern einen Anachronismus bemühe, aber ich meine es so: Er ist ein Papst, der nicht angetreten ist, das System zu zerstören, die katholischen Kirche zu beschädigen. Er ist in erster Linie jemand, der die Institution schützen will. Gleichzeitig hat er – im Unterschied zu seinen Vorgängern Johannes Paul II. und inbesondere Benedikt XVI. – verstanden, dass er die Institution verändern muss, um sie zu schützen. Und so verfolgt er eine Politik der kleinen Schritte, ziemlich langsam und vorsichtig. Man kann das natürlich als zu langsam und nicht weitgehend genug ansehen, aber verglichen mit seinen Vorgängern ist es eine enorme Veränderung, und er hat dies mit seinen Synoden gezeigt und mit seiner Art zu reden, die empathisch ist, sowohl in Bezug auf Frauen als auch auf Homosexuelle, vor allem aber auch gegenüber den Gläubigen, wer auch immer sie sind. Die gläubigen Katholiken können die archaischen, anachronistischen, rigiden Positionen der Kirche nicht nachvollziehen. Franziskus versucht, diese Dinge zu ändern, um so die Institution zu bewahren.
Es ist offensichtlich, dass es eine sehr starke Opposition gibt, getragen vor allem von Kardinälen der äußersten Rechten, die sehr homophob und sehr misogyn sind. Sie werfen Franziskus seinen sexuellen Liberalismus vor, ebenso seine Positionen in Bezug auf Migranten, auf die Armen, die Todesstrafe oder die Befreiungstheologie etc. Sie wollen, und es ist das erste Mal in der Geschichte, dass sich so etwas auf dieser Ebene abspielt, ihn zum Rücktritt zwingen. Übrigens sind ebendiese Kardinäle in vielen Fällen selbst homosexuell. Das hat der Papst angedeutet, er prangert sie an, er prangert eine Opposition aus rigiden Kardinälen an, die ein Doppelleben führen. Er erzählt uns diese Geschichte, der Papst Franziskus. Um also die Geschichte des Vatikans zu verstehen, und insbesondere dieses Pontifikat, muss man ein bisschen kontra-intuitiv denken, die Kirche und ihr System genau umgekehrt sehen. Die homophobsten Kardinäle sind homosexuell, und die liberalsten Kardinäle sind ziemlich schwulenfreundlich (wie auch Franziskus, zumindest verglichen mit seinen Vorgängern Johannes Paul II. und Benedikt XVI., in meinen Augen ist es noch zu wenig), sind selbst aber nicht von der Homosexuellenfrage betroffen.

Welche Bedeutung hat Ihrer Ansicht nach diese Macht, dieses Netz im Herzen des Vatikans für die katholische Kirche als Institution?

Also, worum handelt es sich, wenn man von Homosexualität im Vatikan spricht? Ich glaube nicht, dass es ein Netz ist, ich glaube auch nicht, dass es eine Lobby ist. Ich denke, es ist eine, ich würde sagen, schweigende Mehrheit. Und warum keine Lobby? Weil eine Lobby bedeuten würde, dass diese homosexuellen Kardinäle voneinander wüssten, dass sie homosexuell sind, und dass ihr Ziel wäre, die Kirche im Sinne dieser Frage zu verändern, also in Bezug auf ihre Positionen gegenüber den Homosexuellen. Aber genau darum handelt es sich eben überhaupt nicht. Diese Kardinäle sind alle sehr isoliert, sie sprechen niemals mit anderen über ihre eigene Sexualität, und sie sind, um diese Sexualität zu verbergen, sehr homophob. Es ist also das Gegenteil einer Lobby. Es ist ein System der Geheimhaltung, eine Kultur der Lüge, eine Kultur des Doppellebens. Übrigens beschuldige ich die Priester und Kardinäle nicht, sie seien dafür verantwortlich. Ich empfinde eher Empathie für diese Priester. Mich stört es ganz und gar nicht, wenn ein Kardinal, ein Bischof oder ein Priester schwul ist, ich denke, es sollte einfach eine von mehreren Optionen sein. Es ist offensichtlich, dass das eigentliche Problem – und der Gegenstand meines Buches – die Heuchelei ist, das System der Lüge, der Schizophrenie, das zahllose, ja, die große Mehrheit der schwulen Priester, Bischöfe und Kardinäle zwingt, in ihrem Versteck zu verharren. Sie sind für dieses Versteckspiel nicht verantwortlich, sie sind eher dessen Opfer. Und damit ist es ein tragisches Geschehen, ist die Geschichte, die ich erzähle, letztendlich ziemlich traurig. Aber sie ist auch hoffnungsvoll, denn sie erzählt auch von Liebe, viele haben Geliebte, führen ein glückliches Leben, ein Liebesleben, wie ich sagen möchte, sie leben nicht im strikten Zölibat. Es ist wichtig zu verstehen, dass Keuschheit gegen die Natur ist. Was wir verstehen müssen, ist, dass sie gegen die Natur ist. Die Menschen, die Priester, ertragen die Keuschheit nur schwer. Daher ist sie meistenteils eine Fiktion. Sie haben Liebesbeziehungen, und ich meinerseits denke, es ist doch wünschenswert, dass sie konsensuale Beziehungen mit einer Frau oder einem erwachsenen Mann haben anstatt dass missbräuchliche Situationen entstehen.

Ist Ihr Buch also ein Plädoyer zur Aufhebung des Zölibats?

Ist dieses Buch ein Plädoyer dafür, das Zölibat der Priester, die Keuschheit abzuschaffen? Ohne Zweifel. Aber ich bin doch vor allem ein Schriftsteller, ein Journalist, ein Forscher, ich habe keine politische Agenda. Ich habe ein Buch geschrieben, das eine Geschichte erzählt, die einzig und allein auf Fakten beruht, es gibt keine Inszenierungen, keine fiktiven Elemente, alles ist wahr. Gleichzeitig gibt es aber natürlich Dinge, die ich nicht erzählen kann, Dinge, die ich nicht sagen will. Aber es beruht alles auf Tatsachen. Was folgt aus diesem Buch, das Tausende von Artikeln und Blogs in aller Welt nach sich gezogen hat, das angegriffen und verteidigt wurde, das gehasst wurde und geliebt? Es ist ein Buch, das eine weltweite Debatte ausgelöst hat. Es ist Sache der Kirche, was sie daraus macht, zu entscheiden, ob sie daraus Konsequenzen bezüglich des Zölibats und der Keuschheit zieht oder nicht. Und so zu handeln, wie es die Wahrheit – wie ich sie sehe – verlangt, eine Wahrheit, ein Ansinnen, das dem von Papst Franziskus entspricht.

Das Gespräch führte Tanja Hommen

 

Frédéric Martel

Frédéric Martel

Frédéric Martel, geboren 1967, ist Journalist und Soziologe und selbst homosexuell. Er ist katholisch, steht aber der Kirche nicht besonders nah. Er hat vier Jahre recherchiert, 1.500 Informanten befragt, darunter 41 Kardinäle und 52 Bischöfe. Sein Motiv, dieses Buch zu schreiben, war der Wunsch, das System von Schweigen und Doppelmoral aufzubrechen und den Vatikan zu »outen«. Ganz in der Tradition des investigativen Journalismus – aufdecken, aufklären, verändern.

  • Sodom
    Frédéric Martel

    Sodom

    Eine fesselnde Reportage aus dem Innersten des Vatikans: Der französische Journalist Frédéric Martel beschreibt, wie katholische Priester, Kardinäle und Bischöfe die rigide, homophobe Sexualmoral verteidigen. Obwohl die meisten von ihnen selbst homosexuell sind.
    Warum diese Doppelmoral? ...

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