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»Es ist Teil der jüdischen Kultur, dass Geschichte dramatisiert wird«: Yves Kugelmann über die neue Graphic Novel »Wo ist Anne Frank«

Mit »Wo ist Anne Frank« ist eine Fortsetzung des Graphic Diary erschienen, die Annes Geschichte in die heutige Zeit transportiert. Yves Kugelmann vom Anne Frank Fonds Basel hat das Projekt begleitet und erzählt uns im Interview, warum ein Buch über den Holocaust eigentlich eine Graphic Novel sein muss.

Das Tagebuch von Anne Frank wurde 2017 erstmals als Graphic Diary adaptiert, umgesetzt von Ari Folman und David Polonsky. Mit »Wo ist Anne Frank« ist nun eine Fortsetzung erschienen, die Annes Geschichte in die heutige Zeit transportiert und ihre imaginäre Freundin Kitty, an die sich Annes Tagebucheinträge richten, lebendig werden lässt. Im Interview verrät Yves Kugelmann vom Anne Frank Fonds Basel, wie die Idee dazu entstanden ist und warum er glaubt, dass Graphic Novels die beste Form sind, um den Holocaust zu erzählen. 

In ihrem Tagebuch schrieb Anne Frank an Kitty – eine imaginäre Freundin, der sie ihre Sorgen, Geheimnisse und Ängste anvertrauen konnte. In »Wo ist Anne Frank« wird nun die Perspektive von Kitty eingenommen: Sie lebt in der heutigen Zeit und versucht herauszufinden, was mit Anne geschehen ist. Herr Kugelmann, wie entstand die Idee, das Projekt auf diese Weise fortzusetzen?
Das Tagebuch haben wir damals von der ersten bis zur letzten Seite in ein »Graphic Diary« verwandelt. Das Tagebuch endet abrupt vor der Deportation. Die Geschichte danach, die Deportation, die Odyssee der Familie durch die Konzentrationslager, die Geschichte des Tagebuches wollten wir erzählen. Anne hat mit ihrer imaginären Freundin Kitty eine literarische Vorlage dafür geschaffen. Für uns war klar, dass Kitty das erste Mal überhaupt als Figur in Erscheinung tritt. Das zweite Buch ist somit natürlich teilweise fiktionaler und lehnt sich zugleich an den Animationsfilm an, der im Februar in die deutschen Kinos kommt: Kitty, die in der heutigen Zeit lebt und sich auf die Suche nach Anne begibt. 

Wie kam es überhaupt zu der Idee, das Tagebuch graphisch zu adaptieren?
Am Anfang stand die Frage: Wie erzählt man eine wahre Geschichte von 1942 so, dass sie heute noch Menschen erreicht, und zwar nicht aus Selbstzweck, sondern mit jenem der Aufklärung? Mit welcher Sprache erreichen wir die jungen Menschen heute überhaupt noch? Wir entschieden uns für die graphische Adaption und einen Animationsfilm mit allen Herausforderungen, die die Genres mit sich bringen. So etwa, einen Text von 400 Seiten zu kondensieren. Reduktion und Steigerung mussten also auf Augenhöhe Hand in Hand gehen.

Können Sie uns etwas über die Zusammenarbeit mit Ari Folman, David Polonsky und Lena Guberman erzählen, die die Graphic Novels umgesetzt haben?
Das war eine große Bereicherung in jeder Hinsicht und auch deshalb, weil selbst brillante literarische Texte irgendwann Botschafterinnen und Botschafter benötigen, um sie an ein neues Publikum heranzutragen. Die drei sind jeder für sich Weltklasse und zeigen letztlich, dass die Gesellschaft gerade durch Kultur und Kreativität vorankommt. Das Genre von Graphic Novel und Animation bringt ja das Ausreizen und sogar das Überschreiten von Grenzen mit sich. Die Entscheidung, mit Ari Folman zusammenzuarbeiten, war deshalb nicht nur richtig, weil wir alle begeistert von seiner Arbeit waren, sondern weil er als Kind von Holocaust-Überlebenden einschätzen kann, welche Grenzen man überschreiten kann – und welche nicht.

Man könnte auch annehmen, dass ein so ernstes Thema nicht in einen Comic passt. Warum würden Sie da widersprechen?
Die jüdische Erinnerungs- und Erzählkultur hat da wenig Berührungsängste. Schon während der Schoah haben etwa Ernst Lubitsch, Israel B. Singer und viele andere auch die Schoah dramatisiert. Otto Frank hat ja letztlich entschieden, das Tagebuch zu publizieren, hat das Tagebuch auf den Broadway und nach Hollywood gebracht und Anne Franks Cousin Buddy Elias, der langjährige Präsident des Anne Frank Fonds, war über Jahrzehnte Schauspieler und ein ebenso begnadeter Erzähler auch der Familiengeschichten. Zum einen stehen wir da also in der Familientradition, zum anderen war es auch ein Experiment: Diese Form ist nicht nur eine moderne Entwicklung, die heute zeitgemäß ist, sondern sie öffnet auch verschiedene Ebenen, eine Geschichte zu erzählen. 

Wo liegen denn die Grenzen der Umsetzung – graphisch und inhaltlich? Ist man vielleicht sogar freier als bei einem anderen Medium?
Man landet natürlich schnell bei der Frage: Wie stellt man das Grauen dar, in diesem Fall eben den Holocaust? Das ist eine große Debatte in der Kunst: Welcher Film konnte den Holocaust transportieren, welcher ist am Thema gescheitert? Darf ästhetisiert werden und wie? Es stellt sich die Frage, ob man überhaupt einen klassischen Live-Action-Spielfilm machen kann, in dem man den Holocaust und Konzentrationslager nachspielt. Gerade da bietet die Form der Animation eine andere Möglichkeit. Ari Folman hat mit «Waltz with Bashir» das Gerne des dokumentarischen Animationsfilm begründet und gezeigt, dass die Animation einen absoluten kongenialen Mehrwert erbringt. Im Übrigen hat Art Spiegelman mit »Maus« ja 1986 schon einmal den Beweis geliefert, dass man das beste Buch über den Holocaust eigentlich als Graphic Novel schreiben muss. 

Eine Geschichte über den Holocaust passt also besser in einen Animationsfilm als in ein Live-Action-Drama?
Das jetzt auszudiskutieren, da wären wir wohl bei einem Kolloquium der Philosophie von Film und Theater. Die Idee, dass Schauspieler das Grauen in einem KZ nachspielen könnten, ist in der Realität meist frontal gescheitert und endet oft im kitschigen Unsinn. Das gilt für viele andere Themen auch, wo der klassische Filme an seine Grenzen gelangt. Dank der Verfälschung und Veränderung durch die Animation bekommt man andere Möglichkeiten, das zu visualisieren. 

Glauben Sie, dass das Tagebuch heutzutage weniger gelesen wird, und dass durch die Graphic Novel vielleicht mehr junge Menschen einen Zugang dazu finden?
Das ist von Land zu Land sehr unterschiedlich, aber das Tagebuch wird tatsächlich eher stärker gelesen, und das Graphic Diary ist da eine Ergänzung. Inzwischen ist es ein Bestseller, in über 30 Sprachen übersetzt. Hinzu kommt, dass es einen Unterschied gibt zwischen Comics für Kinder, wie »Mickey Mouse« oder »Asterix und Obelix«, und dem Genre der Graphic Novel. Die Qualität und Menge an Graphic Novels in Frankreich, Italien oder Großbritannien, bis hin zu grafischen Wochenzeitungen, ist erstaunlich. Da sind wir wieder beim Thema Grenzen: In unserer Gesellschaft wird alles mögliche popkulturalisiert, sei es für die reine Unterhaltung oder für eine Art der popkulturellen Kunst, die ihre eigene Qualität und ihren eigenen Wert hat. Insofern sind Erwachsene auf jeden Fall mit angesprochen, sowohl bei dem Animationsfilm als auch bei den Graphic Novels – im Prinzip sind das Produkte für die ganze Familie. 

Was glauben Sie, woran es liegt, dass sich der deutsche Literaturbetrieb mit Graphic Novels so schwertut?
In Deutschland wird sehr viel mehr separiert zwischen Unterhaltungs- und Hochkultur. Eine künstliche Unterscheidung, die anders als im angelsächsischen Raum hoch gehalten wird. Doch auch in Deutschland kommt eine Buchhandlung nicht mehr ohne ein Abteilung mit Graphic Novels aus. Das geht jetzt, glaube ich, relativ schnell – je besser die internationalen Produktionen werden, desto mehr wird auch Deutschland einen Zugang dazu finden. 

Wird es noch weitere Fortsetzungen geben?
Nein. Das Tagebuch und die Geschichte danach ist erzählt. Der Anne Frank Fonds muss das nicht ausreizen. Anne Frank ist kein Produkt, sondern ein Zeitzeugnis. Wir haben die Geschichte erzählt: Besser wird es nicht mehr. 

Yves Kugelmann, geboren 1971 in Basel, ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG und Filmproduzent. Das Interview führte Marit Blossey.

Anne Frank: Die Graphic Novels

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