Neue Rundschau

Abelke Bleken

Ein Artikel von Jarka Kubsova

 Jarka Kubsova "Abelke Bleken"

In ganz Ochsenwärder gab’s um 1530 kein schöneres Mädchen als Abelke Bleken, des reichen Bauern einziges Kind. Wer ihr rosig Antlitz sah, dem wurde auch mitten im Winter ganz frühlingslustig zu Mute. Sie war ihrer Eltern Freude und Glück, Jedermann hatte sie lieb, die jungen Burschen mochten nur mit ihr zum Tanz gehen. Freien aber wollte sie nicht. ( … ) Darüber vergingen Jahre. Die Eltern waren gestorben, Abelke hatte das Gehöfte geerbt und waltete darin wie eine verständige Bäuerin …

Mit diesen Sätzen beginnt eine Hamburger Sage. Die darin beschriebene Bäuerin Abelke Bleken gab es wirklich. Sie lebte in Ochsenwerder, einem ländlichen Hamburger Stadtteil im Gebiet der Vier- und Marschlande. Dort besaß sie einen rund neun Hektar großen Hof, der allein auf ihren Namen eingetragen war. Doch so hoffnungsfroh Abelkes Leben zu beginnen scheint, so jäh endet es: Nach einer Anklage wurde Abelke Bleken im Jahr 1583 als Hexe verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Sie ist die einzige Frau in Hamburg, von der eine gerichtliche Aussage – die sogenannte Urgicht – aus einem Hexenprozess existiert.

     Abelkes Weg zum Scheiterhaufen liest sich in der Sage wie der einer sozialen Versagerin; einer Frau, die zur sonderbaren Einzelgängerin wird und schließlich verbittert und böse das Unglück anderer Menschen herbeiwünscht. Damit entspricht die Erzählung einer noch heute existierenden und verbreiteten Vorstellung von einer Hexe. Es ist die Erzählung von der alten, bösen Frau, die anderen Schlechtes antut und deren Tod in den Flammen gerechtfertigt erscheint.

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Philipp Stengelin

     Doch ein genauer Blick auf diese Erzählung lohnt sich sehr. Wissenschaftler:innen und Ortsansässige, die sich mit Abelke Blekens Fall beschäftigt haben, konnten der Erzählung über sie zuletzt ein wichtiges Korrektiv hinzufügen. Das Bild, das sich dabei offenbart, erzählt nicht nur viel über das Schicksal der Hamburger Bäuerin, sondern auch über das vieler anderer Frauen.

     Denn ein wesentliches Ereignis unterschlägt die Sage über Abelke fast vollkommen: Im Jahre 1570 wurde ihr Grundstück sowie die Grundstücke weiterer Nachbar:innen durch die vernichtende Allerheiligenflut derart getroffen, dass der angrenzende Deich brach. Abelke und ihre Nachbar:innen waren nach der Katastrophe vermutlich nicht in der Lage, den zerstörten Deich wiederherzustellen, was nach dem damaligen Deichrecht, das in dieser Gegend herrschte, ihre Pflicht gewesen wäre. Eigentlich war es nach solchen schweren Unglücken üblich, dass die Betroffenen Hilfe etwa in Form von zusätzlichen Arbeitskräften bekamen. Ein gebrochener Deich stellte schließlich eine enorme Gefahr für das ganze Land dar, weshalb Anwohner:innen oft zu Gemeinschaftsarbeiten am Deich verpflichtet wurden. Abelke scheint diese Hilfe nicht erhalten zu haben. In ihrer Notsituation war sie gezwungen, ihren Hof abzutreten.

     Schon bald nach der Enteignung gingen Abelkes Grundstück sowie das ihres Nachbarn an den einflussreichen Hamburger Ratsherrn Johann Huge, der beide Ländereien zusammenlegte, um ein großes Gut für sich zu schaffen. Angeordnet hatte Abelkes Enteignung der damalige Deichvogt, der dabei mutmaßlich eigene Interessen verfolgte. Es ist anzunehmen, dass sowohl der Vogt als auch der Käufer Johann Huge sich an Abelkes Not bereichert haben.

     Auf den ersten Blick mag Abelkes Schicksal wie ein Einzelfall erscheinen, doch Wissenschaftler:innen, wie etwa die politische Philosophin Silvia Federici, sehen Landenteignungen und Hexenverfolgungen als miteinander in Verbindung stehende Ereignisse. Denn zu der Zeit, als Abelke ihr Grundstück verlor, ereilte das gleiche Schicksal Bauern und Bäuerinnen in ganz Europa. Ausgelöst wurde dieser gewaltvolle Prozess von der Feudalklasse, die zu dieser Zeit überall auf der dringenden Suche nach Land war. Mitte des 16.Jahrhunderts kam die Enteignung und Vertreibung von Bauernfamilien von ihren Grundstücken massenhaft vor und zog eine gravierende Neuordnung sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse nach sich. Bauern und Bäuerinnen, die von ihrem Grund und Boden – ihrer Lebensgrundlage – losgerissen worden waren, gehörten nun zu einer neuen Bevölkerungsschicht von Umherziehenden, Tagelöhnern oder Bettlern.

     Federici sieht in der Entstehung des Frühkapitalismus und dem Höhepunkt der Hexenverfolgungen in der frühen Neuzeit eine gemeinsame Quelle, die an dem Punkt entspringt, die Karl Marx als ursprüngliche Akkumulation bezeichnet. Mit diesem Begriff beschreibt er den historischen Beginn der Anhäufung von Privateigentum. Für die Feudalklasse, von der die Enteignung ausging, war dieser Schritt durch eine tiefe Krise notwendig geworden: Legitimations- und Machtverluste, eine massive Inflation angesichts immenser Gold- und Silberimporte aus der »Neuen Welt« drängte Stadtbürger und Adel dazu, Land zu kaufen, Ansprüche an Grundeigentum zu stellen, uneinlösbare Pachten von den Bauern zu fordern mit der Absicht, sie zu verjagen, ihre zum Teil uralten Gewohnheitsrechte aufzuheben oder vielfach willkürlich gemeinschaftlich genutzte Flächen einzugrenzen, selbst zu bewirtschaften und in kommerzielle Güter zu verwandeln. Bauern, die durch diesen Prozess ihre Existenzgrundlage verloren hatten, mussten ihre Arbeitskraft nun verkaufen. Sie wurden Landarbeiter:innen für adelige Großgrundbesitzer, auf fremden Höfen, Lohnarbeiter:innen in der Stadt oder wurden zu umherstreifenden Vagabund:innen.

     Marx beschreibt die ursprüngliche Akkumulation am Beispiel Englands, wo sie sich in klassischer Form zutrug. Doch Landprivatisierungen wurden zur selben Zeit europaweit vollzogen. In Deutschland war dieser Prozess unter dem Begriff des Bauernlegens bekannt und verbreitet, und verfolgte auch hier den Zweck, größere und profitablere Höfe zu schaffen. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Bauern und Adel, was schließlich auch einer der mitwirkenden Faktoren für den Ausbruch des Bauernkriegs Mitte des 16.Jahrhunderts war.

     Frauen waren von der Kapitalisierung des ökonomischen Lebens am stärksten betroffen, insbesondere, wenn sie älter, alleinstehend oder verwitwet waren – oder wenn sie keine Kinder hatten, die ihnen helfen konnten oder wollten.

     Während sich die Grundherren in den meisten Fällen auf ihre Besitzrechte berufen konnten, lag die Sache in den Marschlanden anders: Bauern und Bäuerinnen in der Marsch hatten eine besondere Stellung, denn ihre Grundstücke waren nicht gepachtet, sie gehörten ihnen. Für Fremde war es nicht einfach, einen solchen Hof zu erwerben. Es ist also gut vorstellbar, dass es einer besonderen List oder Seilschaft brauchte, um Abelke Bleken ihren Hof zu entziehen, damit der Hamburger Ratsherr Huge ihn kaufen konnte.

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     Und vermutlich wollte sich die Marschländer Bäuerin nicht klaglos mit diesem Schicksal abfinden. Auch damit war sie nicht allein. Es ist ein Phänomen jener Zeit, dass die Vertriebenen ihre Nachfolger:innen mit unerwünschten Besuchen belästigten, sie bedrohten, ihnen Vorwürfe machten oder Flüche aussprachen. Persönliche Rache zu üben, zu drohen, Streit anzuzetteln, Dinge kaputt zu machen – das war vermutlich alles, was vielen Menschen in ihrer Verzweiflung über erlittenes Unrecht noch blieb. Die ihnen vorgeworfenen Straftaten weisen sogar deutlich darauf hin: Sehr oft ging es bei der Anklage wegen Hexerei um die angebliche Verzauberung von Schweinen, Kühen oder Pferden oder um das Verursachen von Vergiftungen, Krankheiten oder Unglücken. Die Präsenz von Frauen, die über ihr Elend erzürnt waren, von Tür zu Tür wanderten, bettelten oder Racheworte ausstießen, war vermutlich hoch und für andere durchaus ein Grund, sich zu fürchten.

     So auch in Abelke Blekens Fall: Nachdem auf Johann Huges Hof Vieh gestorben war und Kleaters Angehörige erkrankt sowie seine Ehefrau gestorben war, machte man Abelke verantwortlich. Sie habe sich rächen wollen und deshalb Schadenszauber angewendet, so die Anklage. Für Huge und Kleater mag das eine einfache Möglichkeit gewesen sein, die unbequeme Frau loszuwerden.

     Den Hexereivorwurf zu benutzen, um einen sozialen Konflikt zu lösen, war zu dieser Zeit nichts Außergewöhnliches. Im 16.Jahrhundert hatte sich das Hexenbild völlig von seinem Ursprung abgekoppelt. Entstanden war es einst aus dem des Ketzers, das die mittelalterliche Kirche heraufbeschworen hatte, um Andersgläubige zu verfolgen und zu bestrafen. Doch über Jahrzehnte hatte es einen Wandel durchlaufen: vom speziellen Vorwurf der Häresie zu dem recht allgemeinen der Hexerei. Das Bild wurde also universeller und anwendbarer, es war nicht mehr nur nützlich, um den Abfall von Gott zu bezeichnen, sondern nun auch um diverse Sitten- und Moralverstöße oder allgemein eine schlechte Lebensführung zu brandmarken. Gleichzeitig wurde das Bild weiblicher, denn im Zentrum des Vorwurfs stand noch immer das unterstellte Bündnis mit dem Teufel. Dass Frauen für die Verführbarkeit des Teufels anfälliger waren, hatte ihnen bereits die Bibel bescheinigt, im Zusammenhang mit Zauberei und Hexerei hatte das der Dominikaner und Inquisitor Heinrich Kramer in seinem Hexenhammer nochmals dramatisch zugespitzt und zementiert. Über den aufblühenden Buchdruck fanden seine Thesen Verbreitung und Anwendung.

     Vor allem der bäuerlichen Bevölkerung, die von sozialen Kämpfen und Unwetterkatastrophen besonders betroffen war, bot das neue Hexenbild eine Erklärung für erlittene Unglücksfälle, Schäden, Ernteausfälle, Brände, Hagel, Krankheiten oder allgemeine Missstände im Zusammenleben. Traktate und Flugschriften, die den Dämonenglauben ausriefen, waren im 16.Jahrhundert weit verbreitet und halfen bei der Verbreitung des neuen Hexenglaubens, der in diesem Zeitalter der Umbrüche und Krisen auf fruchtbaren Boden traf. Das 16. und 17.Jahrhundert, in die der Höhepunkt der Hexenverfolgungen fällt, waren geprägt von Wetterkapriolen (bedingt durch die kleine Eiszeit), Krankheitsepidemien, einer dramatischen Inflation, Reformation- und Gegenreformation, Neuordnungen der politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse, Aufständen sowie zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen.

     Als im Jahr 1532 im gesamten Reich mit der Constitutio Criminalis Carolina eine einheitliche Gesetzesordnung eingeführt wurde, galten für Hexereivorwürfe besonders strenge Regeln: Schon ein anonymer Hinweis reichte, um ein Ausnahmeverfahren einzuleiten, den sogenannten Processus Extraordinarius, in dem Zeug:innenaussagen als Beweismittel behandelt wurden. Anders als vielfach verbreitet, wurden derartige Prozesse in der frühen Neuzeit fast ausschließlich vor weltlichen Gerichten verhandelt. Sie folgten einer festgelegten Ordnung und standardisierten Verhörkatalogen, an deren Ende zwingend ein Geständnis stehen musste. In der Regel kam dieses durch brutale Folter zustande. Diese Prozesse waren das Werk von Richtern und nicht (wie immer noch oft behauptet wird) von entfesselten Kirchenvertretern – wenngleich die Kirche oft das notwendige ideologische Fundament lieferte. Einer, der besonders scharf und hartnäckig gegen vermeintliche Hexen zu Felde zog, war der Reformator Martin Luther. »Zauberinnen sollst du nicht leben lassen« ist nur ein Zitat aus einer seiner vielen Hexenpredigten. In Hamburg fanden fast alle Hexenprozesse nach der Reformation statt.

     Unter Verdacht gerieten Menschen vor allem durch Gerüchte, Denunziation und Verleumdung. Meistens kamen die Anschuldigungen aus dem direkten Umfeld: von Nachbar:innen, sogar Familienmitgliedern. Es ging um Grundprobleme des Zusammenlebens: Verteilungskämpfe um knappe Güter, Konflikte um Ehre, Vergeltung für Demütigungen, erlittene Schäden. Der Hexereivorwurf bot ein unerschöpfliches Potenzial der Anwendung auf praktisch jede Person, so dass der Historiker Walter Rummel sicher nicht unrecht hat, wenn er Hexereiverfolgung als Ultima Ratio des Bemühens um Kompensation sozialer Unterlegenheit bezeichnet. Begleitet wurden die Vorwürfe zudem oft von vehementen Rufen nach Verfolgung und Bestrafung, um Menschen und ganze Dorfgemeinschaften aus dem Griff vermeintlicher Dämonen zu befreien.

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     Doch betont werden muss, dass tatsächliche Verfolgungen und Verurteilungen nur dann stattfanden, wenn sie von den regionalen Obrigkeiten geduldet wurden – oder ihnen sogar recht kamen. Es gab durchaus Gemeinden, deren Landesherrscher Verfolgungen nicht duldeten, im Keim erstickten oder nach kurzer Zeit beendeten. Hexenverfolgung war nie der oft behauptete Flächenbrand, sondern viel mehr ein regionales Aufflammen dort, wo zwei Voraussetzungen gegeben waren: Der Glaube an finstere Mächte, aber auch die Bereitschaft der Obrigkeiten, die Verfolgung zu unterstützen. Und trotzdem waren die Motive in der Regel unterschiedliche. Die Historikerin Rita Voltmer sieht in der Verfolgung von Hexen eine Art doppelte Nutzung: Während Familien und Nachbar:innen den Hexereiverdacht zur Lösung sozialer Konflikte einsetzten, gewannen lokale Hexenjäger wie Gerichtsbeamte oder Landesherrscher durch sie nachweislich wirtschaftliche und soziale Vorteile und verquickten herrschaftliche Interessen mit persönlichen. Sich an der Verfolgung zu beteiligen konnte ein Glücksfall für die persönliche Karriere oder den sozialen Status sein: Einzelpersonen wie Büttel, Scharfrichter, Ausschussmitglieder, Richter, Schreiber, Notare, Amtsleute oder Hexenkommissare wurden je nach persönlichem Eifer oft mit enormen Verdienstmöglichkeiten – manchmal in Form von Kopfgeldern – belohnt. Entsprechend kam es zu Falschaussagen von Zeug:innen, Fälschungen, Unwahrheiten, Bestechungen und Bezichtigungen.

   Regierende zogen noch einen anderen Nutzen aus den Hexenprozessen: Sie dienten ihnen als flankierende Methoden, um Herrschafts- und Territorialansprüche zu demonstrieren oder zu bekräftigen. »An den Richtplätzen wurde Macht visualisiert und bewusst inszeniert«, schreibt Voltmer.

     Durch die Anwendung der Folter wurde die Hexenverfolgung regional einerseits oft endemisch, weil man lange Listen von Mittäter:innen erpressen konnte, aber dabei blieb es nicht. Denn sie zog auch eine furchtbare Schneise der Entsolidarisierung nach sich, führte zu immer weiteren Denunziationen. Sie vertiefte die Spaltung zwischen Männern und Frauen auf dramatische Weise. Aufkeimende Widerstandsbewegungen der Bauern und Bäuerinnen gegen die neue Herrscherklasse oder individuelles Unrecht wurden im Keim erstickt. Diese Spaltung vollzog sich zwischen Menschen, die zusammen hätten kämpfen können – und sie vollzog sich vor allem innerhalb des Zusammenhaltes und der Freundschaften von Frauen.

     Auch aus Abelke Bleken wurden unter Folter Namen vermeintlicher Mittäter:innen erpresst. Wenige Monate nach ihrem Tod wurden fünf weitere Menschen aufgrund des Hexereiverdachts hingerichtet, darunter waren vermutlich diejenigen Personen, deren Namen in Abelkes Urgicht auftauchen.

     Dass in Ochsenwerder nach den Hinrichtungen all dieser Menschen Ruhe einkehrte, muss bezweifelt werden. Nach vielen Jahren der Hexenforschung kommt Rita Voltmer zu dem Schluss, dass das gegenseitige Anklagen in keinem der Fälle etwas besser machte. Die Verfolgungen, Festnahmen, Hinrichtungen stellten nie die ersehnte Ordnung her. Ganz im Gegenteil: Es entstand ein Klima der Angst und der Verunsicherung. Alles war hinterher viel schlimmer als zuvor, so Voltmer.

     Silvia Federici ist überzeugt, dass die neuen sozialen und ökonomischen Bedingungen vor allem das Verhältnis von Frauen neu ordneten. Im feudalen, mittelalterlichen Dorf waren Frauen ständig von anderen Frauen umgeben gewesen und hatten miteinander kooperiert. Sie wuschen zusammen die Wäsche, bestellten gemeinsam Felder und Gärten, sie hatten soziale Netzwerke und Räume, in denen sie sich gegen männliche Autorität behaupten konnten und die ihnen Macht und Schutz verliehen. Das soll frühere Zustände keinesfalls beschönigen. Frauen hatten schon damals Mehrbelastungen zu tragen: Sie leisteten Feldarbeit zusätzlich zur Kindererziehung, zum Kochen, Waschen und Spinnen sowie zur Pflege des Gartens. Doch der wesentliche Unterschied zu später und heute war: Ihre häuslichen Tätigkeiten wurden nicht abgewertet. Jede Arbeit trug zum Lebensunterhalt der Familien bei. Erst seit dem Aufstieg des Kapitalismus gibt es Arbeit, die vermeintlich nichts wert ist, und Arbeit, die entlohnt wird.

     Auch in den Städten herrschte im Mittelalter ein anderes Bild, als wir es uns häufig machen: Selbständige Handwerkerinnen, Händlerinnen, Ärztinnen waren keine Seltenheit. Das Handwerk des Bierbrauens etwa war einst fest in Frauenhand. Wenn sich heutzutage jemand einen spitzen schwarzen Hut aufzieht, um sich als Hexe zu verkleiden, dann schmückt er sich eigentlich mit dem Symbol der bierbrauenden Frauen in England, den sogenannten Alewifes. Seinerzeit war dieser Hut ihr Erkennungszeichen auf den Märkten, damit Kund:innen leicht und schnell erkennen konnten, wo es selbstgebrautes Bier gab.

     Doch Schritt für Schritt wurde Frauen im Laufe der Zeit das Recht entzogen, Meisterbetriebe zu führen. Aus den Heilberufen wurden sie nach und nach verdrängt, was nicht nur mit der Dämonisierung der Heilpraxis zu tun hatte. Die Kulturwissenschaftlerin Evke Rulffes bezeichnet diesen Prozess in ihrem Buch Die Erfindung der Hausfrau als Dequalifizierung: In dem Moment, in dem sich ein Beruf professionalisierte und als lukrativ erwies, wurde er für Frauen eingeschränkt.

     Im 16.Jahrhundert, mitten in diesem Prozess, erfreuten sich Puppenhäuser großer Beliebtheit. In Nürnberg wurde ein solches Haus sogar öffentlich ausgestellt. Zum Spielen waren diese Puppenstuben jedoch nicht gedacht, vielmehr dienten sie dazu, Mädchen und Frauen an eine ordentliche Haushaltsführung heranzuführen. Sie sollten früh lernen, in welche Sphäre sie gehörten und was ihre Aufgaben waren.

     Frauen erlitten im Zuge des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus einen einzigartigen Prozess sozialer Degradierung, der für das Funktionieren des Kapitalismus bis heute grundlegend ist. Sie wurden zunehmend auf Reproduktionsarbeit – also auf Kindererziehung, Kochen, Haushaltsführung – festgelegt. Und das geschah parallel zu einer vollständigen Abwertung dieser Tätigkeiten – ein Zustand, der bis heute andauert.

     Wenn also im Hier und Jetzt eine Mutter erschöpft von der Doppelbelastung durch einen Job – den sie wahrscheinlich maximal in Teilzeit ausüben kann und für den sie schlechter als ein Mann bezahlt wird – sowie von der Hauptlast für Kinder, Haushalt und der daran hängenden Mental Load sich am Ende des Tages fragt: »wie bin ich hier eigentlich hineingeraten?«, dann ist die Antwort tatsächlich in genau jener Zeit zu suchen, als eine neue kapitalistische Ordnung die Frauen auf ihre Plätze zwang, während Anklagen und Scheiterhaufen diesem Prozess als Durchsetzungsinstrumente dienten. Aus der Folter und den Hinrichtungen, die die Opfer der Hexenprozesse erleiden mussten, lernten andere Frauen, dass sie fügsam und still zu sein hatten, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden.

     Ernstzunehmende Schätzungen gehen allein in Deutschland zwischen dem 16. und 17.Jahrhundert von 50000 bis 60000 ermordeten Menschen aus, die meisten waren Frauen. Angesichts von so viel Leid und Tod ist es schwer nachzuvollziehen, warum unsere Vorstellung von vermeintlichen Hexen noch immer so oft trivialisiert – neuerdings wieder idealisiert – und derart mit Stereotypen aufgeladen wird. Manche Schauplätze der Verfolgungen werden als Touristenattraktionen vermarktet oder dienen der Unterhaltung: Walpurgisnacht-Partys, der massenhafte Verkauf runzliger, höckernäsiger Figuren auf Besen und unterhaltsame Führungen zu Richtplätzen erscheinen nicht nur unangebracht, sie bagatellisieren Folter und Mord. Außerdem tragen sie zur Verbreitung von Stereotypen über die betroffenen Frauen als vermeintlich »alte und hässliche« Frauen bei, ganz dem männlichen kapitalistischen Blick folgend. So werden die Opfer noch immer abgewertet und diskreditiert.

     Zum Glück gibt es aber auch Gegentendenzen; Bemühungen, die Geschichten dieser Opfer richtigzustellen. Immer mehr Städte und Regionen setzen sich für Zeichen der Rehabilitierung ein; neue, würdevolle Gedenkorte werden geschaffen. Auch für Abelke Bleken gibt es seit einigen Jahren einen Erinnerungsstein. Er steht im Garten der Frauen, einem bewegenden Ort des Gedenkens an bedeutende Hamburgerinnen auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Der Stein ist aus schwarzem Basalt gefertigt, in seinem Inneren brennt ein ewiges Licht.

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Philipp Stengelin

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Dieser Text entstand exklusiv für die NEUE RUNDSCHAU 2023/2

Jarka Kubsova wurde 1977 in Tschechien geboren, seit 1987 lebt sie in Deutschland. Sie arbeitete als Journalistin bei »Financial Times Deutschland«, »Stern« und »DIE ZEIT« sowie als Co-Autorin mehrerer erfolgreicher Sachbücher. 2021 erschien ihr Debütroman »Bergland«, der auf der Jahresbestsellerliste stand. Jarka Kubsova lebt in Hamburg. Für »Marschlande« tauchte sie ...

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