Neue Rundschau

Allgemeine Gedanken zur Utopie

Ein Text von Ilija Trojanow

Neue Runschau Trojanow

     Was ist Utopie?

Das Ausloten des menschlichen Potentials.
Visionen des »Nicht-Unmöglichen«.
Ein noch nicht realisierter Tagtraum.
Eine Beschwörung mit der kreativen Kraft der Phantasie.
Die Vorwegnahme von Veränderung im Reich der Imagination.

»Das kann doch nicht alles gewesen sein?«, fragt seit jeher die Utopie.
Und stellt die herrschenden Verhältnisse auf den Kopf, stülpt sie um.
Was im vertrauten Alltag gilt, ist im Gedankenexperiment außer Kraft gesetzt.
Die Utopie entfaltet das freieste Denken, um Alternativen zu ersinnen.

Alle schöpferischen Ideen sind zu ihrer Geburtsstunde Utopien.
Seit Aristoteles gibt es den festen Glaube an die Möglichkeit einer grundsätzlichen Verbesserung der Verhältnisse.
Die klassische Utopie war ein Angriff auf die Idee der Erbsünde des Menschen.
Ohne den Erfindungsreichtum der Utopie wären unzählige Errungenschaften der Menschheit nicht zustande gekommen.

Wahre Utopie zähmt das Engstirnige und Einseitige der Ideologie.
Der Niedergang des utopischen Denkens hat die Fähigkeit des progressiven, emanzipatorischen Denkens, Hoffnung und Zuversicht zu wecken, schwer beschädigt.
Die Freiheit, über Alternativen nachzudenken, ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.

Utopie ist ein Antidepressivum.
Utopische Kultur schafft Raum für etwas, das zuvor keinen Platz hatte.
Eine Versöhnung mit sich selbst, ohne Zwangsjacken der Identität.

Utopie muss sowohl individuell als auch gesellschaftlich gedacht sein.
Eine rein gesellschaftlich definierte Utopie verliert ihre Freiheit, wenn sie nicht den Menschen im Sinn hat. Die individuell definierte Utopie verliert ihre Wahrheit, wenn sie die Gesellschaft nicht im Sinn behält.


     Kritik an der Utopie

1. Vergeblichkeit

Der übliche Vorwurf, seit Jahrhunderten: eine reine, im besten Fall schöne Fiktion. Doch die real existierende Welt basiert in ihren herrschenden Prinzipien ebenfalls auf Fiktionen, auf Mythen. Auf willkürlichen Konstrukten, die wir aus einem einzigen Grund ernst nehmen – weil sie schon etabliert sind. Die Unfähigkeit, sich eine Welt vorzustellen, in der vieles anders ist, zeugt allein von mangelnder Vorstellungskraft, nicht von der Unmöglichkeit der Veränderung. Die herrschenden Verhältnisse haben den unermesslichen Vorteil der Faktizität. Kraft ihrer Existenz übertrumpfen sie alle erträumten und imaginierten Welten. Die verschmutzte Luft »funktioniert«, wir haben uns an sie gewöhnt, die saubere Luft, die wir uns wünschen, ist hingegen eine Fata Morgana. Die herrschenden Verhältnisse gelten als gelungen, die Alternativen als un-gelungen, weil sie erst sein werden. Deswegen ist die Klimakatastrophe plausibler als eine tatsächlich nachhaltige Umgestaltung unseres Wirtschaftens und Konsumierens.


2. Gefährlichkeit

Es sei ein Fehler der Utopien anzunehmen, dass ihre idealisierte Gesellschaft für alle funktionieren würde. Egal, wie sie imaginiert sei, manche Menschen werden sie verabscheuen. Daher sollten wir einsehen, dass eine gesamtgesellschaftliche Vision unweigerlich zu anderen Missständen führen werde. Ergo belassen wir es lieber bei den uns vertrauten. Dieser Vorwurf verwechselt Utopie mit Ideologie. Das Gemeinwohl kann individuelle Pluralität ermöglichen. Erst eine gewisse Gleichheit (an Rechten und Ansprüchen) ermöglicht die freie Entfaltung des Eigenen und Eigenwilligen in uns. Utopie kann radikal pluralistisch sein.


3. Perversität

Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben das utopische Denken diskreditiert. Doch stellt sich die Frage, ob Stalinismus und Nazismus und Faschismus die Folgen einer gewalttätig verwirklichten Utopie waren, oder eher auf althergebrachte Denkmuster gründeten: Hierarchie, Patriarchat, Machtkonzentration, Militarismus, völkischer Nationalismus, Imperialismus, Bürokratisierung, Staatskapitalismus. Eine genauere Betrachtung der russischen Revolution zeigt auf, wie früh Lenin und die Bolschewiken die Arbeiterräte bekämpft und alle utopischen Sozialisten verfolgt haben. Wer auf Utopie beharrte, wurde ermordet. Die Mittel waren reaktionär, auch wenn manche der Ziele utopisch waren.
 

     Kritik an der Dystopie

  1. Intellektuelle Faulheit. Die Dystopie ist eine Zuspitzung existierender Missstände. Sie benötigt wenig Vorstellungskraft.
  2. Sie ist dröge. Sie öffnet keine Fenster aus dem Zeitgeist heraus. Sie lähmt das Denken mit Fesseln der Angst, anstatt sich einer verspielten Kreativität zu überlassen. Sie kann nicht beglücken.
  3. Sie dient dem neoliberalen Weltsystem, da sie dieses als alternativlos darstellt (egal, wie extrem die Apokalypse imaginiert wird, Gewalt und Geld sind stets dominant).
  4. Sie ermöglicht ein gemütliches Einrichten in apokalyptischen Visionen: grausig-behagliche Popcorn-Phantasien.
  5. Sie funktioniert ohne Zukunft.
  6. Sie stärkt den pathologischen Egoismus. Die Devise lautet: Rette sich, wer kann.
  7. Sie verursacht eine vor-traumatische Belastungsstörung.
  8. The apocalypse will not be televised.

 

     Ausblicke

Das große Paradox unserer Epoche ist: Wir wagen es nicht mehr, uns die Zukunft vorzustellen. Marc Augé

Auch die Bewohner von Utopia träumen von Utopia.

Aus jeder Vollendung entstehen Bedingungen, die es notwendig machen, über sie hinauszuwachsen. Walt Whitman

Die Utopie ist keine religiöse Vorstellung. Sie erwartet uns nicht am Ende aller Tage. Sie ist ein Gipfel, von dem aus höhere Gipfel sichtbar werden.

Wir sind aus der Barbarei herausgetreten, in der ihr versunken wart […]. Nach und nach wurde der Geist herangebildet. Wir müssen noch mehr tun, als wir bisher geschafft haben. Wir haben nicht viel mehr erreicht als die Hälfte der Leiter. Louis Sébastien Mercier

Die Utopie kann nicht das Produkt eines vorformulierten Plans sein, sie entsteht dynamisch und organisch.

Eine Weltkarte ohne Utopie ist keines Blickes wert, denn sie unterschlägt die Küste, an der die Menschheit immer wieder anlandet. Und wenn die Menschheit dort angekommen ist, schaut sie in die Ferne, und wenn sie ein besseres Land sieht, setzt sie die Segel. Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien. Oscar Wilde

Die Vorstellungskraft, ergo die Fähigkeit, die Dinge so zu betrachten, als ob sie anders sein könnten, benötigt tägliche Übung. Wahrnehmung ermöglicht Phantasie, Phantasie erweitert die Wahrnehmung.

Es ist schändlich, glücklich zu sein unter Unglücklichen. Nur diejenigen, die mehr erstreben als nur ihr eigenes Glück, können wirklich glücklich sein.

 

 

Dieser Text entstand exklusiv für die NEUE RUNDSCHAU 2023/3

Ilija Trojanow, geboren 1965 in Sofia, floh mit seiner Familie 1971 über Jugoslawien und Italien nach Deutschland, wo sie politisches Asyl erhielt. 1972 zog die Familie weiter nach Kenia. Unterbrochen von einem vierjährigen Deutschlandaufenthalt lebte Ilija Trojanow bis 1984 in Nairobi. Danach folgte ein Aufenthalt in Paris. Von 1984 bis ...

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