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Eine (Wieder-)Entdeckung

Im Jahr 2011 machte die Döblin-Herausgeberin Christina Althen in der Berliner Akademie der Künste eine Entdeckung. Unter den Akten des Verlags Rütten & Loening, wo Alfred Döblins ›Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende‹ 1956 erstmals erschienen war, fand sie das Originaltyposkript mit dem ursprünglichen Schluss des Romans. Nun ist dieses Typoskript, das jahrzehntelang als verschollen galt, erstmals Grundlage einer Buchausgabe.

114 Alfred Döblin
© Archiv S. Fischer Verlag
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Foto aus der Los Angeles Times © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Während der Krieg in Europa beendet war, im Pazifik aber noch tobte, begann Alfred Döblin in seinem Exilort Hollywood nach jahrelanger Materialsammlung, insbesondere von Zeitungsausschnitten aus der Los Angeles Times, mit der Niederschrift des Hamlet.

1956, zehn Jahre nach der Fertigstellung, erschien Döblins letzter großer Roman, allerdings nicht in Westdeutschland, wohin der Autor als einer der ersten Remigranten im November 1945 zurückgekehrt war, sondern in der DDR. Das war eine Sensation, denn auch auf kultureller Ebene herrschte Kalter Krieg, und Döblin hatte häufig gegen den SED-Staat Stellung bezogen. So hatte er die Teilnahme am Ersten Deutschen Schriftstellerkongress 1947 in Berlin abgelehnt, weil er nicht propagandistisch vereinnahmt werden wollte, und 1950 erklärte er bei einer PEN-Tagung in Mainz: »Wir lassen uns von keiner Staatspolitik ins Schlepptau nehmen«. 1912 aus der Berliner jüdischen Gemeinde ausgetreten, engagierte er sich 1918 im sozialistischen Spektrum und konvertierte während des Zweiten Weltkriegs zum Christentum, was bei früheren Weggefährten Unverständnis auslöste. 1946 sorgte er mit dem religiösen Lehrgespräch Der unsterbliche Mensch für Aufsehen, aber seine großen Exilromane fanden in den Westzonen wenig Echo, und nach der Währungsreform wollte kein Verleger Hamlet publizieren.

Es ist also ein bleibendes Verdienst von Rütten & Loening unter der damaligen Leiterin Irene Gysi, Döblins Hamlet-Roman verlegt zu haben. Dies geschah auf Vermittlung von Peter Huchel, der sich das Manuskript anlässlich eines Besuchs bei Döblin am 7. September 1954 geben ließ, an dem auch Hans Mayer teilnahm. In Besuch bei Alfred Döblin (1998) schildert Mayer, Döblins »nunmehr vom Trauma befreiter Hamlet mit Namen Edward Allison [habe] den Entschluß gefaßt, ins Kloster zu gehen. Es war offenbar, daß der Erzähler Alfred Döblin ihn ins Kloster abschob. [...] So empfanden es jedenfalls die Lektoren in Ostberlin, nachdem sie das Manuskript begeistert gelesen und beschlossen hatten, den Roman zu verlegen. Man schrieb an den nach Paris zurückgekehrten Romanverfasser und machte Einwände gegen jene abrupte Coda geltend.« Tatsächlich bat Rütten & Loening-Lektor Wolfgang Richter Döblin in einem Brief vom 31. August 1955 (© Deutsches Literaturarchiv Marbach), einen neuen Romanschluss zu verfassen.

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Die letzte Seite des Roman-Typoskripts © Akademie der Künste, Berlin

Aus einer Notiz Döblins vom 7. September 1955 wissen wir, dass der schwerkranke Autor dieser Aufforderung des Verlags postwendend folgte, damit der Roman endlich veröffentlicht würde. Sein Freund Robert Minder, der die Druckfahnen korrigierte, schrieb: »Unter ökonomisch-sozialem Druck mußte dieses Kloster der Urfassung gestrichen werden.«

Aber auch der neue Schluss fand noch vor Drucklegung Widerspruch, wie einem heute zugänglichen Gutachten vom »Kulturellen Beirat für das Verlagswesen« in Ostberlin vom 16. März 1956 zu entnehmen ist, das aus der Feder der (noch Jahrzehnte von Autoren gefürchteten) Zensorin Carola Gärtner-Scholle stammt. Diese wusste zu dem Zeitpunkt zwar, dass die politische Entscheidung zugunsten der Publikation gefallen war, legte aber trotzdem ihr Veto gegen Döblins Manuskript ein, weil es dem Aufbau der »neuen Gesellschaft« nicht dienlich sei. Der »vom Verlag angeleimte« neue Schluss mache gar nichts besser. Sie bezeichnet den ursprünglichen Schluss als für den Roman einzig logischen und den abgeänderten Schluss als eine vom Verlag zu verantwortende Fälschung. Eine solche Vorgehensweise dürfe in der DDR auf keinen Fall Schule machen.

Hamlet erschien im September 1956 mit dem abgeänderten Schluss. Die Lizenzausgabe, die 1957 in Westdeutschland erschien, folgte dieser Ausgabe. Auch Walter Muschg übernahm 1966 für eine Neuauflage im Rahmen der Ausgewählten Werke in Einzelbänden den neuen Schluss, denn die Originaldruckvorlage von 1954 war nicht zugänglich und galt dann als verschollen. Sie wurde erst vor kurzem wiedergefunden, und so erscheint mit 60 Jahren Verspätung Döblins Hamlet im Fischer Taschenbuch Verlag in der Urfassung.

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Ringbuchseite mit Fotos aus der Los Angeles Times © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Eine weitere Neuigkeit ist der Fund eines Ringbuchs im Nachlass, das für die Gesamtkonzeption des Romans produktionsästhetischen Aufschluss gibt. Döblins Exilort Hollywood spielt dabei eine weit größere Rolle als bislang angenommen. Dieses Ringbuch enthält eine Zeitungsausschnittsammlung aus den Jahren 1943 bis 1945. Dabei handelt es sich um Fotos mit Bildunterschriften aus der Los Angeles Times, die Hass, Streit, Rachsucht, Diebstahl, Gewalt und Mord dokumentieren.

In Döblins Sammlung geht es nicht wie später in Kenneth Angers Hollywood Babylon (1959) um eine abschreckende chronique scandaleuse; Döblin interessierten Meldungen von Unbekannten ebenso wie die von Stars, er schnitt Bilder aus von vernachlässigten Kindern, Streit um Kinder vor Gericht, Verzweiflungstaten von Individuen neben Bildern von dem pazifischen und europäischen Kriegsgeschehen, akutem Kampf ebenso wie Gräberfeldern in allen Teilen der Welt und Fotos von Hitler und Mussolini. Das Ringbuch schließt mit Aufnahmen von Ordensschwestern, die in Ruinen aufräumen.

Aus Döblins Fluchtautobiographie Schicksalsreise wissen wir, dass er The great Dictator sah und Charlie Chaplins Vaterschaftsprozess in Hollywood verfolgte. Details gehen in Hamlet ein: Die Hauptfigur Gordon Allison teilt nicht nur den eigentlichen Vornamen Charles mit Chaplin, sondern auch dessen ›Dickens'sche‹ Jugend. Populär war damals auch Tennessee Williams, dessen Glasmenagerie 1944 uraufgeführt wurde. Das Kapitel Die moderne Hexenküche im Fünften Buch des Hamlet greift dasThema der Verwechslung von Freiheit mit dem Idol der Selbstverwirklichung in ähnlicher Weise auf.

Der Roman ist durch eine Rahmenhandlung und zehn Binnenerzählungen strukturiert. Döblins Hamlet spielt an keinem königlichen Hof, sondern in einer gutsituierten Durchschnittsfamilie in England. Die Rahmenhandlung ist eine Familiengeschichte: Der 1945 bei einem Kamikazeangriff schwerverletzte Marinesoldat Edward Allison kehrt in sein Elternhaus zurück, und die Eltern wollen ihm helfen, seine Traumata zu überwinden. Ihn quält die Frage nach der Schuld am Krieg und grundsätzlich, wie es überhaupt zu Kriegen kommt. Daher entwickelt man den Gedanken einer Redekur: Man will Edwards (Hamlets) Fragen in Erzählabenden auf den Grund gehen. In den Erzählungen der Familienmitglieder entfaltet sich ein historisches, soziologisches und psychologisches Menschheitspanorama. Virtuos erzählt etwa die Binnenerzählung Die Prinzessin von Tripoli – ohne den Begriff der Kollektivschuld zu gebrauchen – davon, welch enorme Dynamik Gruppendruck hat. Edward wie dem Leser wird klar, dass keine Epoche und keine Person vor den Auswirkungen des jeweiligen Zeitgeistes gefeit ist, auch weil Ausgrenzungsmechanismen immer greifen.

Schuld begegnet in Hamlet als Bestandteil der menschlichen Natur, als Handeln wider besseres Wissen und als unfreiwillige Verstrickung (Ödipus). Besonders bekannt wurde die Binnenerzählung Die Mutter am Montmartre, das grandiose Porträt einer Mutter, die vergeblich auf ihren verschollenen Sohn wartet. Stoff zu seinem Roman fand der Autor in Büchern der Los Angeles Public Library, im eigenen familiären Umfeld und vor allem eben in der täglichen Zeitungslektüre.

Döblin, der mit Schriftstellerkollegen eines Cafés in Hollywood verwiesen wurde, weil sie Deutsch sprachen, blieb in zwölf Jahren Emigration bei seiner Muttersprache. In für ihn typischer Stilvarianz von Ironie über Pathos bis hin zum Grotesken führt der Hamlet-Erzählreigen universal gültige anthropologische Konstanten vor. Eine erfrischend erzählte Version des Mythos von Pluto und Proserpina veranschaulicht, dass Schuld sich auf dem Niveau der heidnischen Götter perpetuiert, wenn Umkehr und Versöhnung ausbleiben.

Wie bei Shakespeares Hamlet scheinen die Hindernisse auf dem Weg zu Einsicht, Vergebung und Versöhnung unüberwindlich zu sein. Tyrannen müssen ausgemerzt werden, lautet die Botschaft der großen Erzählung vom König Lear; aber Selbstsucht, Gier und Manipulation prägen auch engste menschliche Beziehungen und führen im Fall von Alice, der Mutter Edwards, zur Selbstzerstörung. An ihrem selbstgewählten Schicksal wird deutlich, dass Schuld nicht nur von Gott entfremdet, sondern vor allem auch vom eigenen wahren Selbst.

Es hat wenig Zweck, den Anderen verändern zu wollen, sagt die Geschichte der Theodora. Man muss mit Umkehr und Versöhnung bei sich selbst anfangen, dem Hass und der Lieblosigkeit durch liebevolle Zuwendung zum Nächsten begegnen – dafür steht das Klostermotiv am Ende der Binnengeschichten und auch der Rahmenerzählung. Und es hilft auch nicht, den Himmel wegen der Zustände auf der Erde anzuklagen. Die Humoreske Im Himmel / Der Erzengel Michael konterkariert Goethes Prolog im Faust; auch im Himmel ist nichts wohlgeordnet, sondern Michael ist auf den Heroen Herkules eifersüchtig, und er hat falsch daran getan, Adam und Eva aus dem Paradies zu jagen. Um die Schuld der Väter zu überwinden, braucht es eine zweite Chance.

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ›Berlin Alexanderplatz‹. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich ...

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