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»Die Familie ist eine begrenzte und eine begrenzende Technologie«: Sophie Lewis über die Abschaffung der Familie

Die Autorin und unabhängige Wissenschaftlerin Sophie Lewis entwirft eine feministische Kritik des idealisierten Konzepts der Familie. In ihrem Beitrag plädiert sie für eine Abschaffung der Familie als Lösung für die sogenannte »Care-Krise«.

Sophie Lewis
© Sophie Lewis

In den Sozialwissenschaften besteht seit mindestens 15 Jahren Einigkeit darüber, dass sich die überentwickelte Welt in einer »Care-Krise« befindet: Die Lebenserwartung sinkt, fast alle arbeiten sich krank, nur wenige können sich eine angemessene Wohnung bequem leisten und unsere Regierungen haben Sozialdienste wie Obdachlosenunterkünfte, Alterspflege, Behindertenpflege, Psychotherapie und Unterstützung für queere Jugendliche abgebaut. Die Pandemie war dafür verantwortlich, dass zahllose Menschen in der häuslichen Sphäre eingeschlossen waren. Dadurch wurde die Belastung bemerkbar, der lokale Netzwerke der gegenseitigen Unterstützung (sowie der unbezahlten Pflege durch Verwandte) schon seit Jahren ausgesetzt sind. Weiterhin hat die Pandemie die Zerbrechlichkeit der globalen Ketten kommodifizierter Care-Arbeit offengelegt. Auch wenn sie durch COVID-19 verschlimmert wurden, existierten die sogenannten »Schatten-Pandemien« – Missbrauch an Älteren, häusliche Gewalt, Vereinsamung, Erschöpfung der Gemeinschaften, sexuelle Gewalt in der Familie, psychische Krankheiten und das von der UNICEF beschriebene Problem der »kindlichen Regression« – offensichtlich schon länger. Bekannte Journalist:innen fingen an, sich lang und breit zu fragen, »ob die Kernfamilie ein Fehler war«.

Die Expert:innen sind sich anscheinend einig darüber, dass sich der Markt in letzter Zeit zu sehr von den (immer noch sehr geschlechtsspezifischen) Diensten des Privathaushalts abhängig gemacht hat. Doch die Lösungen, die üblicherweise vorgeschlagen werden – kauft einen größeren Esstisch, lasst Oma und Opa einziehen –, sind zu zaghaft und scheuen zu sehr davor zurück, staatliche Förderung für universelle kostenlose Kitas und Pflegeheime zu fordern, geschweige denn eine tiefergehende Entprivatisierung der Sorgearbeit in Erwägung zu ziehen.

Das verstehe ich: Sich eine Welt nach der Familie vorzustellen, ist beängstigend! Die Familie »zu erweitern« hört sich für die meisten von uns sicherlich sympathischer an, als sie »abzuschaffen«. Es macht aber keinen Sinn, sich um die Erweiterung von etwas zu bemühen, das im Grunde ein System der organisierten Knappheit darstellt. Die Familie ist eine begrenzte und eine begrenzende Technologie, die durch die Geschichten, die wir über die Biologie erzählen, sowie durch die administrativen Normen der Ehe und die genetischen Normen des Sorgerechts, des Zusammenwohnens und des Erbrechts zutiefst naturalisiert worden ist. Mahlzeiten, saubere Kleidung und Kinder könnten auch ganz anders produziert werden. Die Überarbeitung, die wir in (und wegen) dem Privathaushalt erleben, ist zwar bekannt, sie ist aber nicht unvermeidbar.

Für immer mehr junge wie alte Menschen – darunter manche, die sich am antiproduktiven Massentrend, der als »Großer Rücktritt« bzw. »Great Resignation« bekannt geworden ist, beteiligt haben –, macht es im Jahr 2023 intuitiv Sinn, die alte revolutionäre Forderung nach »Familienabschaffung« unvoreingenommen wieder aufzugreifen. War es nicht gerade die ökonomische Ideologie der »Familie«, die Lohnarbeiter:innen paradoxerweise dazu trieb, das Leben ihrer geliebten Menschen zu riskieren, indem sie ihnen zuliebe während der Pandemie arbeiten gingen? In der Tat sind Familienwerte kapitalistische Ökonomie im Kleinen. Das hat die australische Politikwissenschaftlerin Melinda Cooper gezeigt. Seit einigen Jahrhunderten dient die Familie den Chef:innen und dem Staat als Quelle fast unbegrenzter kostenloser Arbeitskraft. Warum sollten wir weiterhin auf diese isolierte Weise wohnen und uns reproduzieren, wenn wir dadurch eigentlich nur erpresst werden sollen, (»unseren« Kindern zuliebe) bis zum Tod in miesen Jobs zu arbeiten?

Dystopische Zeiten haben das Potenzial, utopische Diskussionen darüber zu inspirieren, wie wir unsere Tage eigentlich gerne verbringen würden, wie wir kochen, schlafen, Städte planen, Lebensmittel anbauen und mit der nichtmenschlichen Welt zusammenleben wollen. Im englischsprachigen linken Kontext und in der Kunstwelt habe ich bemerkt, dass der französische Familienabolitionist Charles Fourier und die bolschewistische Theoretikerin der »roten Liebe« Alexandra Kollontai gewissermaßen neu entdeckt werden. Ich spüre, dass der leise und doch unverkennbare Wunsch in der Luft liegt, Sorgearbeit zu »kommunisieren«.

Historisch gesehen waren es aber nicht nur sozialistische Utopist:innen der 1820er (Fourier) und 1920er Jahre (Kollontai), die forderten, Care-Arbeit zu entprivatisieren. Während des Zweiten Weltkriegs stellten Ernährungs- und Lebensmittelexpert:innen der britischen Regierung öffentlich fest, dass die Produktion individueller Mahlzeiten von einzelnen Hausfrauen »verschwenderisch« sei, »sowohl wirtschaftlich als auch ernährungstechnisch«. Außerdem haben uns die Feministinnen der 1970er Jahre wiederholt daran erinnert, dass die Familie das Hauptquartier der meisten Gewaltformen ist, einschließlich des Mords, der Körperverletzung und der Vergewaltigung. Niemand wird dich mit höherer Wahrscheinlichkeit ausrauben oder ungewollt anfassen als die Familie. Folgerichtig sollte die Absicht, jemanden »wie Familie« behandeln zu wollen (wie sie von so vielen Fluggesellschaften, Warenhäusern, Banken und Arbeitgeber:innen geäußert wird), als Drohung verstanden werden.

Trotzdem denkst du vielleicht: Wie kann irgendwer nach der »Abschaffung der Familie« verlangen, wo doch gerade in dieser Zeit so viele Familien (auch noch nach Trump) an den US-amerikanischen und europäischen Grenzen zerrissen, kriminalisiert und unmenschlich inhaftiert werden? Diese sehr berechtigte Frage würde ich mit dem Hinweis darauf beantworten, dass das Familienregime an sich viel mit diesen gegenwärtigen Leidensformen zu tun hat. Grenzschutzbeamt:innen inspizieren Heiratsurkunden und führen manchmal sogar genetische Tests durch, um zu prüfen, ob Migrant:innen die »authentische« Familienform verkörpern, die ungeachtet ihrer Abstammung auf europäischem oder nordamerikanischem Boden zumindest theoretisch willkommen ist. In Wirklichkeit wissen wir, dass rassifizierte Menschen mit niedrigem Einkommen selten genug als »Familien« gelten, um sie vor der Polizei zu schützen. Deswegen waren Solidaritätsbekundungen wie »Keine Familientrennungen mehr!« oder »Familien zusammenhalten!« unter Trump weniger effektive Kampfansagen an den staatlichen Rassismus als die umfassenderen Alternativen: »Gefängnisse abschaffen«, »Die Polizei abschaffen«, »No Borders« (die auch implizieren: Schluss mit der Trennung der Menschen voneinander, lasst Menschen miteinander zusammenbleiben, die miteinander sein wollen).

Es lohnt sich zu wiederholen: Wenn wir die Familie irgendwie wegzaubern könnten, und Klasse, Sexismus, Rassismus und Imperialismus beibehalten, wäre das keine Familienabschaffung. Es würde einfach zum Massentod führen. Tatsächlich ist es für viele Menschen (insbesondere LGBTQ-Jugendliche) heutzutage ein Todesurteil, keine Familie zu haben. Deswegen scheint es dringend nötig, genau zu wissen, was die Familie ersetzen könnte, nachdem die Gesellschaft schrittweise revolutioniert und der Kapitalismus überwunden worden ist. Doch die britischen Soziologinnen Michèle Barrett und Mary McIntosh weigerten sich entschieden, diese Frage zu beantworten. »Wir würden die Familie durch nichts ersetzen«, schrieben sie in The Anti-Social Family (1982). »Es geht nicht darum, eine Alternative zur Familie aufzubauen, sondern darum, die Familie weniger notwendig zu machen.«

Indem wir uns darum bemühen, dass alle mit einem Mindestmaß versorgt werden – Wohnraum, medizinische Versorgung, Essen, Bewegungsfreiheit über Grenzen hinweg –, zielt die Familienabschaffung darauf ab, die Zwangselemente und die Angst (vor der Alternative) aufzuheben, die zurzeit unsere »freien Entscheidungen« prägen, wenn es darum geht, wo, wie und mit wem wir leben. Wenn die meisten Ressourcen der Pflegearbeit entprivatisiert wären – von Wäschereien bis zu Küchen –, hätten Menschen in jedem Alter viel mehr Freiheit, ihren Haushalt zu wählen und aktiv zu gestalten.

Bei der Familienabschaffung geht es also nicht darum, Menschen voneinander zu trennen, sondern darum, uns miteinander zu verbinden. Es hat nichts damit zu tun, im luftleeren Raum das für viele Menschen einzige wirklich zugängliche Hilfsnetz wegzunehmen. Stattdessen ist es eine Forderung nach Bedingungen, die das Gedeihen und die Erweiterung unserer Beziehungen möglich machen würden. Es ist nicht möglich, lediglich die Familie abzuschaffen und alles andere so zu lassen, wie es ist. Das Gute ist allerdings, dass jede Kampagne und jeder Kampf – ökologische Kämpfe, Kämpfe gegen Gefängnisse, queere Kämpfe – von der Erkenntnis profitieren kann, dass die Familie eigentlich ein Dieb ist und das Fließen der Care-Arbeit blockiert, statt ihre unübertroffene Quelle zu sein. Eine andere Art der Reproduktion ist möglich.

 

Aus dem Englischen von Lucy Duggan.

Sophie Lewis ist Autorin und unabhängige Wissenschaftlerin. Sie lehrt soziale und kritische Theorie am Brooklyn Institute for Social Research und ist Gastdozentin am Feminist, Queer and Transgender Studies Center der Universität von Pennsylvania. Ihre Texte erscheinen in der »Boston Review«, der »New York Times«, der »Feminist Theory« und der »London ...

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Die Familie abschaffen

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