2
Das änderte sich erst, als ich in den folgenden Jahren die psycho-topographischen Reportagen las, die Roth über Wien geschrieben hatte und die zunächst in den Magazinbeilagen der »Zeit« und der FAZ erschienen. Es waren Analysen von Gebäuden und Orten, die bisher Unbekanntes, Verschwiegenes oder Verdrängtes zutage förderten – oder aber Bekanntes in einen größeren und erhellenden Zusammenhang einbetteten. So war etwa Roths Essay über das unterirdische Wien in Wirklichkeit eine Erforschung des kollektiven Unbewussten und der über das Obdachlosenasyl, in dem Hitler als junger Mann einige Jahre verbracht hatte, eine Studie über die Ausgegrenzten der Gesellschaft. Diese Orte waren gebaute Fragmente einer Geschichte von Ungerechtigkeit, Krankheit, Gewalt, Wahnsinn und Tod. Sie lagen auf der Rückseite der schönen Stadt, in ihrem Kellergeschoss, und selbst bekannte Orte wie der Stephansdom und einige der großen Museen ließen sich mit Recht dazuzählen. Als ich 1990 das erste Mal in Wien war, hatte ich dank Roths Literatur gewordener Erkundungen nicht nur den Wunsch, die Hofburg zu sehen, sondern auch den »Narrenturm« mit seiner Sammlung medizinhistorischer Präparate, die dieser Autor so eindringlich beschrieben hatte. Als ich nach langem Suchen die unheimliche Örtlichkeit gefunden hatte, stand ich vor verschlossenen Türen: Die limitierten Öffnungszeiten machten aus dem öffentlichen Ort auf elegante und, wie mir schien, sehr österreichische Weise einen geheimen. Ein Jahr später erschienen Roths literarische Reportagen unter dem Titel »Eine Reise in das Innere von Wien« als Buch. Diese Tür konnte niemals verschlossen werden, und auch die Türen der von Roth beschriebenen Institutionen waren danach nie mehr so zu verschließen, wie sie zuvor verschlossen waren.
3
Erst allmählich begriff ich, dass Roths polemischer »Zeit«-Artikel über Österreich und seine alternative Stadtführung durch Wien Teile eines viel größeren literarisch-gedanklichen Zusammenhangs waren, der in den sieben Bänden des Zyklus »Die Archive des Schweigens« (1980–1991) seine vielgestaltige Form gefunden hatte. Die Jahre des Nationalsozialismus in Österreich erschienen darin nicht als klassische Geschichtsschreibung, sondern in Form sehr unterschiedlicher literarischer Texte, denen drei Bände mit Materialien – protokollierte Erinnerungen, Dokumente, Fotografien – zur Seite standen. Es war ein Buch der Opfer in sieben Teilen, errichtet auf dem Fundament einer verdrängten Geschichte. Aber es ging, spürte ich beim Lesen immer deutlicher, nicht nur um Österreich und auch nicht nur um den Nationalsozialismus, es ging um einen dunklen Kern im Wesen der Menschen, den dieser Autor – Sohn eines Arztes, zehn Semester Medizinstudium – mit Akribie und Forschungsdrang herauszupräparieren versuchte.
4
Es war nie leicht, Gerhard Roth in der Südsteiermark zu finden. Das kleine Anwesen versteckt sich in ihren sanften Hügeln, die durch ein Gewirr von schmalen Straßen erschlossen werden. Wer es geschafft hatte, durfte Platz nehmen am großen Holztisch unter dem Nussbaum. Die Kater Aleph und Pinocchio erschienen – trotz ihrer Namen keineswegs aus der Welt der Literatur zugelaufen, sondern aus der Nachbarschaft – und erinnerten sofort an die Bedeutung der »Tierheit«, an deren Geschichte Roth in allen seinen Büchern geschrieben hat. Man hörte das beruhigende Läuten von Kuhglocken, das Krähen eines Hahns, das Rauschen des Windes – die Geräusche der Stille. Nur gelegentlich wurde diese Stille – für den lärmempfindlichen Autor die schönste Musik – unterbrochen von einer Detonation im wenige Kilometer entfernten Steinbruch, der mit seinen stufenförmigen Terrassierungen wie die Dante’sche Hölle erscheint, die Hölle im Paradies. Nachts ist man in dieser Gegend den Sternen näher als in Frankfurt, aber dafür ist die Dunkelheit auch dichter, und der Rand der Welt scheint nah wie das Grenzgebirge zu Slowenien.