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»Ich lebe in dem Moment, wo ich schreibe.«

Am 8. Februar 2022 starb in Graz der Schriftsteller Gerhard Roth, am 24. Juni wäre er achtzig Jahre alt geworden. Sein Lektor Jürgen Hosemann hat fast 22 Jahre mit ihm zusammengearbeitet und erinnert sich.

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Im Sommer 1987 – ich hatte gerade mein Abitur bestanden – wartete ich ein paar Monate darauf, dass mein Leben weiterging. Währenddessen las ich alle Zeitungen, die ich in meiner kleinen Heimatstadt bekommen konnte, und stieß dabei in der »Zeit« auf einen langen Artikel mit dem Titel »Der Würgegriff des Volksempfindens«, der sich mit Österreich beschäftigte – es war die Zeit der sogenannten Waldheim-Affäre. Der Name des Autors, Gerhard Roth, sagte mir nichts, aber den Artikel schnitt ich damals aus, und er hat sich bis heute erhalten: Meine Unterstreichungen, Randbemerkungen und emphatisch-zustimmend gesetzten Ausrufungszeichen erscheinen mir inzwischen wie ein wundersamer Vorgriff auf meine spätere Arbeit als Roths Lektor. Damals konnte ich über die vehement und dennoch elegant vorgetragene Attacke auf den provinziellen Biedersinn eines Landes, das sich offenbar an seine jüngere Geschichte nicht erinnern wollte, nur staunen. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in Österreich gewesen und hatte nach diesem Artikel auch keinerlei Lust, dorthin zu reisen.

Gerhard Roth und seine Verlegerin Monika Schoeller, 1992

Gerhard Roth und seine Verlegerin Monika Schoeller, 1992
Senta Roth

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Das änderte sich erst, als ich in den folgenden Jahren die psycho-topographischen Reportagen las, die Roth über Wien geschrieben hatte und die zunächst in den Magazinbeilagen der »Zeit« und der FAZ erschienen. Es waren Analysen von Gebäuden und Orten, die bisher Unbekanntes, Verschwiegenes oder Verdrängtes zutage förderten – oder aber Bekanntes in einen größeren und erhellenden Zusammenhang einbetteten. So war etwa Roths Essay über das unterirdische Wien in Wirklichkeit eine Erforschung des kollektiven Unbewussten und der über das Obdachlosenasyl, in dem Hitler als junger Mann einige Jahre verbracht hatte, eine Studie über die Ausgegrenzten der Gesellschaft. Diese Orte waren gebaute Fragmente einer Geschichte von Ungerechtigkeit, Krankheit, Gewalt, Wahnsinn und Tod. Sie lagen auf der Rückseite der schönen Stadt, in ihrem Kellergeschoss, und selbst bekannte Orte wie der Stephansdom und einige der großen Museen ließen sich mit Recht dazuzählen. Als ich 1990 das erste Mal in Wien war, hatte ich dank Roths Literatur gewordener Erkundungen nicht nur den Wunsch, die Hofburg zu sehen, sondern auch den »Narrenturm« mit seiner Sammlung medizinhistorischer Präparate, die dieser Autor so eindringlich beschrieben hatte. Als ich nach langem Suchen die unheimliche Örtlichkeit gefunden hatte, stand ich vor verschlossenen Türen: Die limitierten Öffnungszeiten machten aus dem öffentlichen Ort auf elegante und, wie mir schien, sehr österreichische Weise einen geheimen. Ein Jahr später erschienen Roths literarische Reportagen unter dem Titel »Eine Reise in das Innere von Wien« als Buch. Diese Tür konnte niemals verschlossen werden, und auch die Türen der von Roth beschriebenen Institutionen waren danach nie mehr so zu verschließen, wie sie zuvor verschlossen waren.
 

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Erst allmählich begriff ich, dass Roths polemischer »Zeit«-Artikel über Österreich und seine alternative Stadtführung durch Wien Teile eines viel größeren literarisch-gedanklichen Zusammenhangs waren, der in den sieben Bänden des Zyklus »Die Archive des Schweigens« (1980–1991) seine vielgestaltige Form gefunden hatte. Die Jahre des Nationalsozialismus in Österreich erschienen darin nicht als klassische Geschichtsschreibung, sondern in Form sehr unterschiedlicher literarischer Texte, denen drei Bände mit Materialien – protokollierte Erinnerungen, Dokumente, Fotografien – zur Seite standen. Es war ein Buch der Opfer in sieben Teilen, errichtet auf dem Fundament einer verdrängten Geschichte. Aber es ging, spürte ich beim Lesen immer deutlicher, nicht nur um Österreich und auch nicht nur um den Nationalsozialismus, es ging um einen dunklen Kern im Wesen der Menschen, den dieser Autor – Sohn eines Arztes, zehn Semester Medizinstudium – mit Akribie und Forschungsdrang herauszupräparieren versuchte.
 

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Es war nie leicht, Gerhard Roth in der Südsteiermark zu finden. Das kleine Anwesen versteckt sich in ihren sanften Hügeln, die durch ein Gewirr von schmalen Straßen erschlossen werden. Wer es geschafft hatte, durfte Platz nehmen am großen Holztisch unter dem Nussbaum. Die Kater Aleph und Pinocchio erschienen – trotz ihrer Namen keineswegs aus der Welt der Literatur zugelaufen, sondern aus der Nachbarschaft – und erinnerten sofort an die Bedeutung der »Tierheit«, an deren Geschichte Roth in allen seinen Büchern geschrieben hat. Man hörte das beruhigende Läuten von Kuhglocken, das Krähen eines Hahns, das Rauschen des Windes – die Geräusche der Stille. Nur gelegentlich wurde diese Stille – für den lärmempfindlichen Autor die schönste Musik – unterbrochen von einer Detonation im wenige Kilometer entfernten Steinbruch, der mit seinen stufenförmigen Terrassierungen wie die Dante’sche Hölle erscheint, die Hölle im Paradies. Nachts ist man in dieser Gegend den Sternen näher als in Frankfurt, aber dafür ist die Dunkelheit auch dichter, und der Rand der Welt scheint nah wie das Grenzgebirge zu Slowenien.

Kater Aleph, Wohnhaus Gerhard Roths in der Steiermark

Kater Aleph sitzt vor einem Fenster des Wohnhauses von Gerhard Roth in der Steiermark
Senta Roth

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Gerhard Roth hat diese ländliche Welt immer wieder festgehalten, in seinen Romanen »Der stille Ozean«, »Landläufiger Tod« und »Grundriss eines Rätsels« und in Bänden, die eine Auswahl seiner Fotografien zeigen, wie der »Atlas der Stille« oder der Bild-Text-Band »Im tiefen Österreich«. Auf den Bildern sieht man Menschen bei der Mais- und Kürbisernte, beim Holzmachen und Fischen, den Imker mit seinen Bienen. Ein Leitmotiv ist die Jagd: eine Strecke erlegter Enten, der mit dem Messer abgetrennte Kopf eines Rehbocks, die Rückkehr der Jäger von der Treibjagd auf Füchse. Roths Fotografien, entstanden als »optische Notizen« aus einem Gestus lakonischer Dokumentation, zeigen Schönheit und Schrecken, oft gleichzeitig. Es ist eine archaische Welt, ein letztes Mal festgehalten in den Jahren ihres langsamen Verschwindens. Noch gibt es die Aufbahrung der Verstorbenen im Haus, aber der Farbfernseher und mit ihm die Außenwelt hat schon Einzug gehalten.

Wohnhaus von Gerhard Roth in der Steiermark

Außenaufnahme des Wohnhauses von Gerhard Roth in der Steiermark
Senta Roth

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Im Mai 2011 fuhr ich gemeinsam mit Gerhard und Senta Roth nach Gugging, früher Teil des Niederösterreichischen Krankenhauses für Psychiatrie und Neurologie, seither ein international renommierter Ausstellungsort der Art Brut. Gerhard Roth kam seit 1976 an diesen Ort. Er hat hier die schizophrenen Dichter Ernst Herbeck und Edmund Mach besucht, die Maler August Walla, Johann Hauser, Oswald Tschirtner und viele andere. Der umfangreiche Band »Im Irrgarten der Bilder«, ein Jahr nach unserem Besuch in Gugging erschienen, erinnert daran und gibt Auskunft über Roths lebensbegleitende Beschäftigung mit dem Schöpferischen, das man in Gugging mit Händen greifen zu können glaubt. Ich erinnere mich an das kunterbunt bemalte »Haus der Künstler« und den schneeweißen Anbau, der gerade fertig geworden war. Ich erinnere mich an das vollständig mit Symbolen, geometrischen Mustern und Schriftzeichen ausgemalte Zimmer von August Walla, das wir wie das Arbeitszimmers eines abwesenden Zauberers betraten. Ich erinnere mich an Leonhard Fink und seine fein schraffierten Landkartenbilder anderer Wirklichkeiten. Ich erinnere mich an das breite Lachen von Günther Schützenhöfer, der uns in einem Gang entgegenkommt. Ich erinnere mich an Johann Garber, einen der Letzten aus der ersten Generation der Gugginger Künstler, und die Holzkreuze und Schnapsfläschchen, die er, mit bunten Tupfen und Kreisen bemalt, zum Kauf anbot. Auf der Rückfahrt hielten wir vor dem ehemaligen Sanatorium in Kierling, in dem Kafka am 3. Juni 1924 gestorben war, und das heute neben einem Supermarktparkplatz liegt. Im bleichen Nachmittagslicht des schwülen Tages erfasste uns eine seltsame Müdigkeit und Trauer, die erst wieder von mir wich, als ich am Abend das Glasfläschchen auspackte, das Johann Garber mit dicken roten Punkten bemalt hatte.

Gerhard Roth mit August Walla im Haus der Künstler, Gugging

Gerhard Roth mit August Walla in dessen Zimmer im Haus der Künstler, Gugging
Senta Roth

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»Durch die weite Welt« heißt ein Band mit Fotografien, die Gerhard Roth von seinen zahlreichen Reisen mitgebracht hat. Durch die weite Welt treibt es (treibt er) auch die Helden seines zweiten Romanzyklus »Orkus«. Kommt Paul Eck in »Der See« nur bis zum Neusiedler See im Burgenland, so schafft es Konrad Feldt in »Der Plan« bis nach Japan, Viktor Gartner in »Der Berg« bis auf den griechischen Athos, Thomas Mach in »Der Strom« nach Ägypten und Philipp Stourzh in »Das Labyrinth« nach Spanien und Portugal. Alle diese Reisenden – zu denen in den letzten drei Bänden des Zyklus auch Gerhard Roth selbst tritt – sind Gefährdete und mit Fehlern Behaftete. Sie machen die Erfahrung schneeflockengleicher Einsamkeit, und ihre Fremdheit im Leben geht einher mit dem Wunsch, sich selbst zu vergessen oder sich vom eigenen Ich zu befreien. Auf ihrem Weg durch die Welt verirren sie sich, aber auf eine Weise, die sie näher an die Geheimnisse des Lebens führt. Diese Reisenden spüren, dass es noch eine andere Wirklichkeit geben muss, eine zweite Welt, die wir betreten können mit Hilfe der Verwandlungskraft anderer Orte, der Kunst und der Liebe, der Träume und Drogen, eines eigenen inneren Lebens und der Phantasie. Ihnen in den Texten nachreisend, spürte ich es auch. Ich habe nach der Lektüre dieser Romane die Welt anders gesehen als zuvor.

Venedig, 2019

Gerhard Roth in Venedig vor der Mauer des Franz-von-Assisi-Klosters
Senta Roth

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Am 28. Januar 2022 habe ich das letzte Mal mit Gerhard Roth gesprochen, am Telefon. Mehr als drei Stunden lang hat er mir an diesem Freitagnachmittag Korrekturen und Textänderungen zu seinem Roman »Die Imker« durchgegeben – es war ein Arbeitsgespräch, kein Abschiedsgespräch. Und doch war das Dringliche unüberhörbar: Unbedingt wollte er den Text bis zu seiner drei Tage später anstehenden Operation durchgesehen haben, unbedingt wollte er die Ergebnisse dieser Durchsicht seinem Verlag übermitteln, unbedingt wollte er die Arbeit an dem Buch, das nun sein letztes geworden ist, abschließen.
 

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»Das Schreiben bedeutet alles für mich. Ich lebe in dem Moment, wo ich schreibe.« (Gerhard Roth)

Über die Bedeutung des Unbewussten

Zum Buch

Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens« und den nachfolgenden Zyklus »Orkus«. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«, ...

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