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Der Sprengmeister der Welt – V.S. Naipaul zum 95. Geburtstag

V.S. Naipaul kam am 6. Oktober 2015 nach Wien zur Eröffnung der Erich-Fried-Tage. Erschöpft von einer langen Lesereise durch Indien mit Auftritten in Jaipur, wo er mit Hanif Kureishi und Salman Rushdie sprach, sollte es eine seiner letzten Lesungen werden – am 11. August 2018 starb er mit 85 Jahren. In Wien waren Christoph Ransmayr und Farrukh Dhondy mit auf der Bühne, der Moderator Hans Jürgen Balmes erinnert sich.

Farrukh Dhondy und V.S. Naipaul im Gespräch. Beide sitzen vor einem dunklen Hintergrund und diskutieren angeregt.
© Lukas Dostal

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Wien, Oktober 2015: Autoren seien die »Sprengmeister der Welt«, hat Mario Vargas Llosa gesagt. Mit diesem Zitat leitete der Wiener Standard den Hinweis auf eine der seltenen Lesungen von V.S. Naipaul ein, auf den der »Sprengmeister« vollkommen passte. Tatsächlich sind seine Romane und Reisebücher, seine Essays und Erzählungen höchst eigene Welteroberungen, deren Explosionen weder Freund noch Feind schonen. Sein Leben war nicht nur für ihn eine Strapaze. Es war fast so, als hätte er, ohne anzuecken, sich selbst nicht gespürt und nur sehr selten bemerkt, welche Schmerzen er anderen zufügte. Wie er bei diesen wilden Ausschlägen des Seismographen so fein kalibrierte Sätze schreiben konnte, bleibt sein Geheimnis, an dem sich die Geister scheiden.

Später wird er im Gespräch sagen, dass er als junger Autor seinem Stoff noch nicht trauen konnte – die Entkolonisierung, die sich abzeichnende Verarmung und Fanatisierung der Welt – und unsicher war, ob das Material ihm nicht ausgehe. Aber ab Ende der 60er Jahre habe er gespürt hat, dass er immer ein Buch zu schreiben habe – ein Buch im enthusiastischen Sinn als Ganzheit aus individueller Erkundung und streitbarer Axt zugleich. Selbst Leser, die sein letztes Indien-Buch erzürnte, wie zum Bespiel sein ihn in Wien begleitender Freund, der Schriftsteller Farrukh Dhondy, gaben zu, mit solcher kritischer und sarkastischer Distanz hätten zuvor nur Weiße über den Kontinent zu schreiben gewagt. Mit »You can't write about things twice. You write once and it's done«, scheint Naipaul seine Sätze den Büchern selbst in den Mund zu legen.

 

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Wir sitzen im Burgtheater, dessen dunkler Zuschauerraum sich wie eine Höhle um uns wölbt. Die Erich-Fried-Tage sind eben eröffnet, Reden von Würdenträgern und eine präzise wie leidenschaftliche Einführung von Anne Zauner in das Thema der Literaturtage: Fact und Fiction. Christoph Ransmayr sitzt da, aber er sagt, er sei nur gekommen, um zuzuhören und das Gegenüber der Geschichte zu sein. Spannung, dann Applaus, als Naipaul von seinem Freund Farrukh Dhondy im Rollstuhl auf die Bühne geschoben wird. Atemlose Stille, in die Naipaul noch tiefer in sein Tweed-Jackett zu versinken scheint, aber er lächelt. Wir beginnen unser Gespräch zu dritt, dessen Achse der beinahe stumme Naipaul ist – der aber seine Punkte durchaus setzt. Wenn er etwas einwerfen, beitragen, erzählen will, gibt er Dhondy ein Zeichen, der legt sein Ohr an Naipauls Lippen und antwortet für ihn.

Der Abend kommt ins Fließen, und wie so oft, geht es so schnell, dass ich mich an kaum etwas erinnere. Zwei Tage später ruft Christoph Ransmayr an, er hat mit anderen über den Abend gesprochen und will sich austauschen. Es war ein Schauspiel, sagt er, eine sich von selbst ergebene Inszenierung, in der jeder seine Rolle fand. Ich mit Fragen und überleitenden Kommentaren, Naipaul mit langen Pausen, in denen er nach Worten zu suchen schien, nach dem Gedanken dahinter, ein Prozess, den Dhondy transparent machte und manchmal selbst eine weitere Frage anschloss, weil er wusste, dass Naipaul ein Aspekt wichtig war. Ransmayr, hatte die Rolle des Ohrs, das die Geschichte erst in die dunkle Höhle des Theater lockte und mit dem die Geschichte einen Dialog führte. Und selbst welche hinzufügte. Es war wie um ein Lagerfeuer, sagte er.

In den poetologischen Überlegungen von Naipaul scheint der Leser manchmal keine andere Rolle zu spielen als das Publikum, das für ihn ein Spiegel war, der ihn für die Performance seiner brillanten Sätze und scharfen Urteile bewunderte. Und für den Riss, der durch ihn ging: seine koloniale Herkunft, seine Hautfarbe – ein psychologisch Unentrinnbares, an dem er litt und für das er andere so leiden ließ. »Weil ich mich als Schriftsteller sah«, so schrieb er in Rätsel der Ankunft, »verbarg ich meine Erfahrungen vor mir selbst, verbarg mich selbst vor meiner Erfahrung. Und auch als tatsächlich ein Schriftsteller aus mir geworden war, brachte ich es viele Jahre nicht fertig, mich dieser Verunsicherung zu stellen.«

Nun erlebten wir, wie Naipaul in sich hineinhorchte, wie er Fragen nicht aufgriff und lieber etwas zu erzählen begann, wieder abbrach. Es war ein Einhören in den Nachhall seiner Werke, ein Zulassen der Pausen, die unser Verhältnis zu seinen Romane neu vermaß. Seine bedächtige Langsamkeit und die Geduld, die ihm jeder schenkte, die Aufmerksamkeit machte diesen Abend unvergesslich. Es war ein auch Geschenk, das sich jeder selber machte.

Und der Unterschied von Fact und Fiction? Nach 40 Minuten ist er müde. Seine Frau Nadira erzählte, wie er bei der Recherche für sein letztes publiziertes Sachbuch, Afrikanisches Maskenspiel, nachts das Auto anhalten ließ, um einen heiligen Hain zu besuchen, der voller mythologischer Monster, aber auch voller gefährlicher Tiere war. Sie blieb im Auto und rief eine Freundin beim BBC an, um zur Sicherheit die genauen Koordinaten durchzugeben. Als er zurückkam, fragte sie, warum das nur sein musste. »Because it is not a novel.«

 

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Fünf Jahre später, zwei Jahre nach seinem Tod, kommt ein letzter, 2016 geschriebener Essay von Naipaul ans Licht: Das Rätsel der Trauer. Naipaul schloss sein Werk auf einer warmen Note ab. Er fand eine Parallele zwischen der frühen Erschütterung über den Tod des Vater und der Erfahrung des Ablebens seiner Katze Augustus: »Vor fast sechzig Jahren starb mein Vater. In jener dunklen Zeit kam meine jüngere Schwester Sati auf eine tröstliche Idee. Unser Vater war, bei all seiner Rechthaberei, ein Humorist, und so stellte Sati sich vor, unser Vater müsse während dieser Zeit seiner Familie bei ihrer Trauer zuschauen und sich gut über sie amüsieren. Etwas Ähnliches kam mir auch nach Augustus‘ Tod in den Sinn. Wir sahen ihn jetzt überall, im Haus, im Garten, in der Hecke. Ich stellte mir vor, dass Augustus alles beobachtete, was sich im Haus befand und kein Wissen mehr von ihm besaß: Nach und nach betrachtete er all das und überlegte sich auf die ihm eigene kluge Art und Weise, wie er darauf reagieren sollte.«

 

V. S. Naipaul: Das Rätsel der Trauer. Übersetzt von Jan Wilm. In: Neue Rundschau, Heft 2, 2020.

 

 

 

V. S. Naipaul wurde 1932 in Trinidad geboren. 1950 ging er mit einem Stipendium nach England. Nach vier Jahren Studium in Oxford widmete er sich ganz seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Es erschienen über zwanzig Romane und Sachbücher, darunter »Ein Haus für Mr. Biswas«, »An der Biegung des großen Flusses« und »Das ...

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