Auszug aus »Das Bernstein-Amulett« von Peter Prange

Es war Richards Idee gewesen, daß Lilo Bauer ihn heute begleitete. Richard meinte, an einem solchen Tag müsse ein Mann eine vorzeigbare Frau an seiner Seite haben, und wenn er sich eine auslieh. Richard hatte gut reden, er hatte ein Dutzend Freundinnen – aber Alex? Zum Glück war Lilo Bauer so, wie sie war. Sie hatte auf seine Frage, ob sie den Sonntag für ihn und die Firma opfern wollte, sofort ja gesagt, in ihrer unkomplizierten, patenten Art, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. Den verunglückten Kuß vor ihrer Haustür hatte sie in all den Wochen mit keinem Wort erwähnt, sondern sich weiterhin um ihn und Tinchen wie zuvor gekümmert, mit derselben natürlichen und unbekümmerten Freundlichkeit, als wäre sie nie etwas anderes als seine Sekretärin gewesen.

Alex bewunderte sie. Wie schaffte sie das nur? Oder hatte sie keine Gefühle? Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte: Er selbst empfand für Lilo viel, viel mehr, als er für sie empfinden sollte. Er konnte sie in der Firma nicht ansehen, ohne rot zu werden, so daß er sie am liebsten gar nicht sah, doch sobald sie fort war, suchte er nach einem Vorwand, um sie in sein Büro zu rufen. Und wenn sie ihm eine Akte reichte oder er ihr einen Text diktierte, passierte es immer wieder, daß sie sich berührten, und wenn sie sich berührten... Jetzt malte sie mit dem Lippenstift die Konturen ihres Mundes nach, den sie dabei einen Spalt weit geöffnet hielt, wie zum Kuß... Alex ließ seinen Redetext auf den Schoß sinken, damit sie nicht die Aufwölbung seiner Hose bemerkte. Wenn das so weiter ging, mußte er ihr irgendwann kündigen. Oder sie in den Arm nehmen und küssen...

Der Mercedes bremste so plötzlich ab, daß Alex fast vom Sitz rutschte. Als er aufblickte, sah er, daß aus einer Querstraße Hunderte von aufgeregten und wütenden Menschen die Straße kreuzten.

„Was ist denn das für eine Demonstration, am Sonntag? Die Wahlen sind doch erst in einem Monat! Gibt es irgendwo ein wichtiges Fußballspiel?“

Der Chauffeur drehte sich zu Alex herum.

„In einer Minute kommen die neuesten Nachrichten, Herr Direktor. Soll ich das Radio einschalten?“

„Nein“, sagte Lilo, bevor Alex antworten konnte. „Lassen Sie das Radio aus. Herr Dr. Puttkamer möchte sich konzentrieren.“

Mit über einer Viertelstunde Verspätung erreichten sie den Bauplatz. Trotzdem waren die Stuhlreihen vor dem Podium nicht mal zur Hälfte besetzt. Die beiden Westphals, Senior und Junior, warteten zusammen mit Alex’ Intimfein, Ministerialdirigent Luschnat bei dem Gerüst, an dem die Grundsteinlegung erfolgen sollte, und schienen alles andere als begeistert. Richard betrachtete nervös seine Hände, und Alfred hatte seine Daumen in die Westentasche gesteckt und trommelte mit den Fingerspitzen auf seinem Bauch.

„Ich bin unterwegs in eine Demonstration geraten...“, entschuldigte Alex sich.

„Ja, ja, ja“, erwiderte Alfred mit einem Gesicht, als hätte er zwei Tage nichts zu essen bekommen. „Alles wegen dieser Granatenscheiße in Berlin!“ 

„Der Staatssekretär hat auch schon abgesagt“, ergänzte Luschnat. „Konnten die Arschlöcher nicht einen Tag länger warten?“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, sagte Alex irritiert.

„Ja, haben Sie denn noch keine Nachrichten gehört?“ 

„Nein, weshalb sollte ich?“ 

Luschnat zog ein bestürztes Gesicht. „Das ist mir jetzt aber peinlich, daß ausgerechnet ich Ihnen diese Mitteilung machen muß.“ Bevor er weitersprach, leckte er sich genüßlich die Lippen. „Die Kommunisten haben diese Nacht eine Mauer quer durch Berlin gezogen.“

„Eine was?“ rief Alex.

„Ja, Sie haben richtig gehört, eine Mauer, mit Stacheldraht und allem Drum und Dran... Der Osten hat den Laden dicht gemacht, aus und vorbei, da kommt keine Maus mehr raus...“ 

Alex hörte nicht, was Luschnat weitersagte. Es war wie ein Film, bei dem jemand den Ton abgedreht hatte. Während er in Luschnats Gesicht starrte und sah, wie seine Lippen sich bewegten, hatte er nur einen Gedanken: Barbara... In ein paar Tagen, so war es ausgemacht, sollte sie kommen, zusammen mit den Jungen. Und er, Alex, hatte sie aufgefordert, bis nach der Grundsteinlegung zu warten, trotz Hildes Tod. Damit er bei ihrer Ankunft Zeit für sie hätte...

„Ja, das ist ein Drama“, sagte Luschnat. „Doch Kopf hoch! Ihre hübsche Begleiterin wird Sie schon trösten. Wie war gleich ihr Name?“