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»Seelische Bestandsaufnahme«: Aus Peter Flamms Roman »Ich?«

1959 war Peter Flamm, der eigentlich Erich Mosse und nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten amerikanisiert Eric P. Mosse hieß, nach Deutschland gekommen und hatte bei einem großen internationalen Kongress des PEN in Frankfurt am Main (Thema: »Schöne Literatur im Zeitalter der Wissenschaft«) einen Vortrag gehalten. Die Rückkehr in die alte Heimat setzte eine Beschäftigung mit der eigenen schriftstellerischen und jüdischen Vergangenheit in Gang und führte zu diesem sich selbst befragenden Rückblick. Flamms Debütroman »Ich?« erschien erstmals 1926 bei S. Fischer, die Neuauflage ist um diese Selbstbetrachtung sowie ein Nachwort von Senthuran Varatharajah ergänzt worden.

Aktuelles Peter Flamm Ich

Das Porträt von Peter Flamm hat George Grosz 1928 – also zwei Jahre nach der Entstehung von »Ich?« gezeichnet.

RÜCKBLICK

Wenn ich mich recht erinnere, war es der immer etwas saure und moralistische Ibsen, der schrieb:

Leben heißt: Dunkler Gewalten Spuk bekämpfen in sich,

Dichten: Gerichtstag halten über das eigene Ich.

[...]

Die Frage, warum ich nicht in der Deutschen Bundesrepublik lebe, ist nie ernsthaft zu den Zellen meiner Hirnrinde heraufgestiegen. Ich bin zu sehr eingefangen von der Gegenwart meines Daseins, wie es ist. Vielleicht ist das gut so. Vielleicht kann ich es mir nicht leisten, Hand in Hand mit der Vergangenheit zu leben. Dafür war sie zu schmerzhaft, und die Hand wurde zu leicht gelähmt. Ich vergesse, was ich vergessen will. Ich habe das eine konstruktive und gesunde Neurose genannt. Man kann nicht allen Ballast dauernd mit sich herumtragen. Man wirft über Bord, was stört – soweit das möglich ist. Noch einmal denn: je n’accuse personne! Psychiatrie hat mich gelehrt zu verstehen, nicht zu richten.

Gut also, für diese besondere Gelegenheit lasse ich mich mit meiner zuverlässigen Müllabfuhr verbinden und hole die verblassten Erlebnisfilme aus dem verschmutzenden Papierkasten. Ich lasse sie durch den Projektionsapparat meines Bewusstseins laufen – und hier sind sie:

Ich bin als Jude geboren, aber ich fühlte mich mehr deutsch als manche andere Deutsche. Ich sprach deutsch, ich schrieb deutsch, ich fühlte deutsch. Mein bewunderter Bruder fiel im Ersten Weltkrieg als bayerischer Leutnant vor Verdun. Er hatte sich an der Spitze seiner Kompanie für eine hoffnungslose Patrouille gemeldet, während keiner seiner Mitdeutschen mit ihm gehen wollte. In seiner Tasche fand man einen Brief mit der Zeile: »Wir wollen nicht umsonst unsere deutschen Klassiker gelesen haben.« Nein, es war nicht umsonst. Er fiel – für die deutsche Idee.

Mein Vater war der erste bedeutende jüdische Jurist, der Oberlandesgerichtsrat wurde. Seine Ernennung kostete dem Justizminister sein Amt. Mein Vater sollte ans Reichsgericht. Der neue Minister bekannte in zynischer Offenheit, dass er nicht Wert darauf lege, das Schicksal seines Vorgängers zu teilen. Aber wenn sich mein Vater taufen ließe …? »Gern«, gab der Herr Geheimrat zurück, »aber nur katholisch.« Der Minister verstand. Mein Vater wurde Ehrendoktor, ordentlicher Honorarprofessor an der Universität, Stadtrat und Stadtältester von Berlin. Es war ein gigantisches Pflaster mit vielen Schichtungen über einer Wunde, die ich nicht sehen wollte.

Mein Onkel gründete das »Berliner Tageblatt«. Es hatte nichts zu tun mit Judentum. Es war deutsche aufgeklärte Demokratie; kämpfte für Völkerverständigung und Frieden. Später, als ich größer wurde, arbeitete ich unter meinem Pseudonym (Peter Flamm) hier und für Ullstein und alle großen demokratischen Zeitungen und Zeitschriften. Der Schatten über meiner Kindheit hatte sich verflogen. Ein adliger junger Herr und Mitschüler in meinem Gymnasium nannte mich einst »Judenjunge«. Ich schlug ihm in sein weißes, teigiges Gesicht, aber ich bin gewiss, dass diese erzieherische Auszeichnung ihn nicht zurückgehalten hat, später Obergruppenführer oder so etwas Ähnliches in der Nazihierarchie zu werden. Mich selber hat das nicht weiter angerührt. Ich war der Beste im deutschen Aufsatz und im christlichen Religionsunterricht. Später arbeitete ich als Arzt, und meine Patienten waren meine Freunde. Ich veröffentlichte vier Romane, und meine Leser und sogar einige Kritiker mochten sie. Ich war anderer Meinung und fragte meinen Freund Max Scheler, wie man lernen kann, in welcher Weise das menschliche Uhrwerk tickt. Er sagte: Lies Freud. Ich las Freud. Mein Freund hatte recht: Man muss etwas über seelische Röntgenbilder wissen, bevor man andere Bilder malen kann. So geriet ich in die Psychiatrie und Psychoanalyse. Es half mir selbst, und ich half anderen. Ich schrieb weiter. Für die Bühne mehrere Theaterstücke, die an einem halben Dutzend deutscher Bühnen aufgeführt wurden. Ich wurde Dramaturg in Frankfurt und Hamburg und Berlin und Regisseur in Kassel. Ich sprach und debattierte und trompetete die Sendungen meines Herzens und Hirns über alle deutschen Sender. Bis der Morgen kam, wo an einem Tage alles abbrach. Wo der Tod hart neben mir stand und wo ich ohne Geld, Heimat, Freunde und Sprache als ein Geschlagener und Gedemütigter mich aus Deutschland durch Hintertüren hinausschleichen musste. Ich war ein Preuße, kennt ihr meine Farben?

Ausblenden. Ende des ersten Teils. Meine Damen und Herren, bitte verlassen Sie nicht Ihre Sitze. Diese Pause ist mit Notwendigkeit nur eine kurze. Wenn Sie hinausgehen und sich erkälten wollen, ich schmeichle mir nicht, Sie erwärmen zu können. Hier ist, Sie in der Zwischenzeit zu unterhalten, der Conférencier. Die Amerikaner nennen ihn »commentator«. Er hat kurz dies zu sagen: »Ich war ein Preuße, kennt ihr meine Farben?« Aber das wissen wir ja nun, und warum etwas wiederholen, wenn es doch nicht verstanden wird – nicht verstanden sein wollte. Besser gehen wir gleich zum zweiten Teil über. Ich habe vorausgesagt, die Pause würde nur kurz sein. Ich habe so viel vorausgesagt, aber wie viele haben Ohren, zu hören?

[...]

Nach all dem kam ich ein paarmal nach Deutschland zurück – als Amerikaner. Ich nahm teil am Internationalen PEN-Club-Kongress in Frankfurt und hielt meine kurze Ansprache auf Englisch. Meine Freunde fuhren mich ungnädig an. War ich nicht ein deutscher Dichter? Ja, aber auch ein Mitglied der amerikanischen Delegation. Nachdenklich betrachtete ich die Ruine der Berliner Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Ich dachte, warum muss man diesen alten Willy verewigen, da es nun bessere neue gibt? Ich hörte von dem Streit, was von neuer Architektur hinzuzufügen war. Vielleicht drei Eingänge und drei Flügel, fiel mir ein: einer mit katholischer, einer mit evangelischer und einer mit jüdischer Architektur. Solche Stilmischungen bewundern wir in unseren mittelalterlichen Kathedralen. Ihre harmonische Zusammenfassung wäre ein großes Symbol gewesen, würdig einer neuen Zeit und eines neuen Geistes – wenn er wirklich vorhanden ist.

Ich besuchte die anderen Ruinen: die menschlichen neben den andern. Der Stil ihres »Aufbaus« war nicht immer nach meinem Geschmack. Ich bewunderte die Stehaufmännchenkräfte, die konstruktive Zielsetzung, den ehrlichen Widerstand gegen neue Bewaffnung. Aber ich bemerkte mit Entsetzen, dass ehemalige Nazis in höchsten Machtstellungen saßen; dass neben einer anklagenden, sensitiven, begabten und gutwilligen Jugend immer noch ein rücksichtsloses, arrogantes und lautes Benehmen diese Entwicklung zu blockieren sucht. Ich war angerührt von dem Geschmack, dem Können und der schöpferischen Geistigkeit einer Theaterkultur, die ich nicht fähig war mit dem früheren Kulturrückschlag zu vereinen. Und ich konnte die Geste jenes Mannes nicht vergessen, der seine Arme um mich schlang, weil ihn meine Radiosendung »so sehr erschüttert« hatte. Ich schätzte seine Bewegtheit, aber während sein Körper zu nah dem meinen war, konnte ich mir den Gedanken nicht wegschütteln: Und wen hast du umgebracht?

Ich wollte das alles nicht sagen. Ich bemühe mich, das Licht zu sehen neben dem Schatten. Jedes Licht wirft seinen Schatten. Ich spreche und schreibe dies mit einer Art inbrünstiger Scham. Noch immer will die alte Liebe nicht sterben: die Liebe zur deutschen Landschaft und Sprache. Zu einer Kultur der Vergangenheit, die meine Gegenwart geblieben ist. Zu einem Leben, das sich verbunden fühlte mit Freunden, die ich bewunderte und schätzte. Manchmal gehe ich in New York in eine der deutschen Gaststätten. Ich lache über das Spießertum, über den Lärm und das Bier und die köstlichen Bratwürste. Und ich lache über mich selbst. Über eine lächerliche Wehmut und eine kleine sentimentale Traurigkeit. Dann gehe ich wieder durch diese nächtlichen Straßen und diesen Lärm voller Wunder, und ich sage jedem Stern gute Nacht. Gehn wir nach Hause! Aber wo ist das? You can’t go home again.

 

Doch, ich habe es auch gehört, ich habe es auch gehört

NACHWORT ZU PETER FLAMMS ROMAN »ICH?«

von Senthuran Varatharajah

DER MUND

Ich möchte reden, wenn ich doch reden könnte, alles dieser Hand sagen

Der Mund. Der Strich. Das Glas. Der Nabel. Nicht ich; nicht ich. Nicht ich, sondern ein anderer. Die Erde vor Ver­dun: muss schwarz gewesen sein. Nach den Granaten und dem Ende des Lärms, nachdem die Maschinen auch den Körper widerlegt hatten und das Blut vom Boden nicht mehr zu unterscheiden war, wendet sich ein verspäteter Mensch an seine Richter, ein Toter: ist wiederauferstan­den. Ein Toter: spricht aus meinem Mund. Sein Gesicht: ist ein anderes geworden. Seinen Namen: ließ er im Krieg zurück. Sein Leben: gehört der Vernichtung, der er nicht entkam. Ihre Mitte: hat das erste Wort. Sie können das nicht verstehn. Sie glauben, das muss doch ein Lebender sein, das ist doch ein Mensch, der da redet – oder ein Irrsinniger. Ich bin nicht irrsinnig, ich weiß nicht. Aber ich liege seit zehn Jah­ren in der Erde, meine Glieder sind verfault, meine Knochen graues Pulver, mein Atem – ich habe keinen Atem mehr. Es ist alles stumm. Es ist alles vorbei. Er stürzt: durch zerbrochene Spiegel, aus dem Rand der eigenen Gattung, in das Zittern der Sprache hinein. Mit einer Hand, über den Körper, über Schmutz, über klebriges Blut, wendete er die Schwerkraft. Er fiel: von unten nach oben. Das Tuch, das ihn aus der Falte seines halbierten Namens rief, legte er dort ab. Den Stern: hatte er in dieser Nacht in einer Brusttasche gefunden. Der Mond über ihm: zeigte dem Erzähler seine Gestalt. Ein Mensch, der nicht starb, ist deshalb nicht am Leben. Hier: werden Kreuze stehen. Mit einer program­matischen Negation, die in den ersten beiden Sätzen sechsmal wiederholt wird, lässt der Schriftsteller und Psy­chiater Erich Mosse unter dem Pseudonym Peter Flamm seinen Roman beginnen; mit einer rätselhaften Verteidi­gungsrede, unverständlich, und hilflos wie die Nacht, aus der sie kam, nachdem alles bereits verloren war; nicht ein­mal, aber in zweifacher Hinsicht: Nicht ich, meine Herren Richter, ein Toter spricht aus meinem Mund. Nicht ich stehe hier, nicht mein Arm, der sich hebt, nicht mein Haar, das weiß geworden, nicht meine Tat, nicht meine Tat. Er fängt mit sechs Negationen an: mit dem verzweifelten Insistieren auf eine Verneinung, in deren kurzem, aber tiefer werden­den Schatten der Verneinte, als sich selbst Verneinender, nicht nur semantisch, sondern auch syntaktisch steht; mit jemandem, der beteuert, jemand anderes zu sein; mit einem ich, das nicht ich geworden war. Der Roman geht von einem doppelten Ende aus: vom ersten Tag nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sowie vom erschöpften Ende der Ereignisse, die noch erzählt werden müssen. Er ordnet die Sprache: nach dem Maß der Vernichtung, die ihr vor­ausging und die der Erzähler in der Einsamkeit der wörtlichen Rede, die folgt, nachholen wird. Der Mund ist eine verwundbare Stelle. Durch ihn spricht ein Mensch, der sich selbst annulliert; ein Mensch, der sich auch in den Sät­zen nicht ertragen kann: sechsmal Nichts; dann das Perso­nal- und Possessivpronomen. Das Fragezeichen im Titel weist darauf hin: ein Mann wurde erschüttert. Ein Überlebender: kehrt als Toter zurück. Mit einer Handbewe­gung: ist der Bäcker Wilhelm Bettuch zum Arzt Hans Stern geworden. Mosse erzählt davon, unter einem anderen, gleichlangen Namen: auch als ein anderer; als ein Mann, der fast brennt; als Flamm: von einer Wunde, aus der zwei Stimmen sprechen. Wie soll ich das erzählen, mit einer Zunge, die nicht meine, in einem Mund, der nicht meiner?

DER STRICH

Hätte ich ihren Leichnam wirklich gefunden, ich hätte ihn vielleicht mit Rosen bekränzt

Ein Mann bekennt sich; er weint aus seinem Mund. Der Name, den er unter den Toten fand, trägt er in seiner Brusttasche: wie ein zugefallenes Versprechen, das er jetzt halten muss; wie ein nachgereichtes Herz, aus Seiten und dem dünneren Papier. Den Namen: hatte sich seine Hand gegeben. Das kleine graue Heft: zieht ihn in eine an­dere Richtung; in eine andere Stadt; dorthin, wo er noch nie war, aber gewesen sein wird. Bettuch sitzt im Zug. In Frankfurt wartet seine Mutter, seine Schwester: hört nicht auf, auf ihn zu warten. Ein anderer Stern wird nach Hause kommen, bis zur Kenntlichkeit entstellt. Der Roman er­zählt die Tränen dieses Geständnisses. Bettuch fährt nach Berlin. Der Pass, der Name des andern, der Name hat das andere nachgezogen (…), unlösbar Gesicht und Name, und nun bin ich der andere und muss seinen Tod zu Ende leben, sein Leben während er draußen liegt unter der Erde im Schlamm, und gehe ein in sein Leben wie in einen Rahmen, aber ich weiß alles, ich stehe wie ein Zuschauer dahinter, ich bin trotzdem ich selbst und schaue mir zu, der ich der andere bin und doch ich, ein Mensch hinter seinem Bilde. Er spricht um sein Leben, im doppelten Sinn: um sein Leben herum und um sein Leben zu retten. Flamm beschreibt diese Szene wie die anderen auch: wie einen Traum; wie eine Überwäl­tigung; wie einen Wahn. Der Roman folgt ihrem Gesetz; den Trümmern eines Menschen, den sie sich wie eine Fa­milie teilen. Betttuch ist das zerstörte Objekt seiner Erfah­rung geworden: ein Mann, dem ein Leben zufiel; ein Erzäh­ler, dem ein Leben widerfährt. Die Bilder des Schmerzes lösen sich ab: geräuschlos und mit einer unbestechlichen Konsequenz, bis in die äußerste Stille der Sekunden hinein, dort, wo es nicht mehr weh tut: vielleicht ist es nur das erregte Blut in meinem Ohr, oder die Granaten aus der Schlacht, viel­leicht bin ich auch tot und träume das nur, es kratzt jemand an meinem Sarg, es ist immer noch Krieg, splitternde Mauern, Mörtel und Lehm, ich will die Tür wieder schließen (…). Diese Bilder: bleiben nicht allein. Kein Bild: steht nur für sich selbst. Bettuch: darf bei ihnen nicht stehen bleiben. Flamm überblendet sie: sie gehen ineinander über; sie verdrängen sich; sie sprechen sich aus. Ein verzögertes Wort, plötzlich, und fast wie eine Erinnerung, ein Wort: nach dem anderen. Der Rhythmus zerschneidet die Zeit. Nur ein Mensch: kann diese Bilder ertragen. Bettuch erzählt hypotaktisch. Er stürzt durch die Interpunktionen. Die Sätze: biegen ihn. Die Sätze müssen ihn aus der schwarzen Erde holen. Die Entfernung zum Satzanfang: wird in den Sätzen größer. Der Anfang aber: findet immer zurück. Kein Gott wird Bettuch helfen. Ein Mensch: steht hinter den Bildern. Gott, der am Kreuz hängt, der die Sünden der Welt trägt: eine Woge hat mich erfasst und trägt einen fort, lässt mich nicht mehr los, man kann nicht mehr zurück, man kann nichts ungeschehen machen, die Küste entschwindet, hinaus aufs schwindelnde Meer, ohne Halten – es flammt mir vor den Augen. Der Strich: kommt aus der Atemnot der Stimme, wie ein verlassener Horizont; der Mund unterbricht sich; er bricht ab. Er streicht die Wörter, die Bettuch nicht sagen kann: bis sie sich selbst verraten. Im Strich äußert sich die unverfügbare Absicht des Schweigens, in die Flamm langsam den Sinn lenkt, zwei Lippen, versiegelt für weniger als einen Augen­blick. Die Wörter aber: müssen weitersprechen. Nur in einem Traum: gehört ein Wort sich selbst. Das ist kein Trost.

DAS GLAS

Aber innen ist eine dunkle Höhle, da sind wir drin und können uns niemals sehen

In Berlin: hält eine Mutter Bettuch für ihren Sohn. Eine Frau: glaubt, ihr Mann sei zurückgekehrt. Jeder Name: verändert den Sinn, die unsichere Ordnung des Körpers, der auf ihn hören wird, das langsame Zögern der Hände wie die Trauer eines beschädigten Gesichts, auf die er sich berufen kann, bis in das älteste Geheimnis der Muskeln hinein; dort, wo sie reißen können, und der schmalen blauen Adern, die der Krieg bespricht. Ein Name: sagt, was er be­deutet. Ein Name: verwandelt das Fleisch. In diese para­doxe Lage hatte Bettuch sich gebracht. Er wusste nicht, worauf er sich einließ. Er kannte die Bilder wie den Schat­ten eines Schattens, aber die Vehemenz des Namens kannte er nicht: nicht sein Wille geschehe, sondern der andere. [E]in anderer ist der Arzt, und ich erleide alles, alles geht über mich weg, während ich doch auf der Welle schwimmen will, auf dem Ozean ganz frei, ganz frei – Der Strich setzt die Rede außer Kraft: an den Stellen, die er sich sucht; an den Stellen, die er für richtig hält. Die Sprache scheitert im Menschen. Die Wörter beißen in den Rachen. Ein Komma: ist ein Mal auf der Stirn. Das ist die Würde der Verzweif­lung: zwei Stimmen verneinen sich in einen Mund. Mit einem limitierten Register unauffälliger Motive erzählt Flamm vom Fall eines Menschen, der bereits zerfiel: um weiterzerfallen zu können. Das Glas gehört zu diesen Mo­tiven. Das Glas verbindet die Dinge, die es trennt, aber an­ders; es operiert anders als der Strich: der Strich bricht den Satz. Das Glas: zerbricht nicht von selbst. [W]ieder fühle ich eine Glasscheibe vor meinen Augen, man sollte sie zerschla­gen, aber man kann nicht hindurch, kann nicht hindurch – Es geht schon weiter, man hat gar keine Zeit zum Nachdenken, es ist wie ein Bilderbuch (…). Das Glas ist nicht nur die technische Materialisierung einer symbolischen Grenze, sondern eine soziale Kategorie; es steht zwischen ihren Namen; das Glas definiert die Entfernung, die es sichtbar macht. Bettuch zerfällt: er stürzt, von unten nach oben. Sein Name: ist ein Gebrauchsgegenstand; der Stoff, auf dem man liegt. Ist das ein Name? Name eines Menschen? Bettuch? (…) Komm, wir klopfen dich aus! Du bist ja ganz schmutzig! (…) [I]ch wollte ja nur heraus aus dem Dreck, (…) ich habe schon so viel verloren, ich habe immer gewollt und ge­wollt, heraus aus mir, es ging nicht, es ist ungerecht, ich könnte schreien, warum ist (…) jener reich und ich bin Proletarier, nein, ich bin beides (…). In einer Szene: spricht Stern zu ihm, aus beiden Richtungen; aus der leisesten Gegend, aus der sein Name gekommen war, wie aus dem zuverlässigen Geräusch in seinem Brustkorb. Bettuch und Grete: besu­chen ein Observatorium. Als er durch das Fernrohr sieht, in die Demut und Gnade der Nacht, bis in das Innenmaß der ausgeschnittenen Dunkelheit über ihm, kann er Stern hören, wie ein Echo; mit Verzögerung: kommt eine Stimme von draußen, aus dem weiten, leeren Weltraum, eine einsame, jammernde Seele, die klagt, die mich ruft und keine Ruhe fin­det. Entsetzen fasst mich, es ist grauenhaft, da aus der Kälte, mein Herz krampft sich zusammen, ein eisiges Gefühl stockt in den Adern, vielleicht höre ich es nur in mir, aber nun ist es ein deutliches, herzzerbrechendes Weinen, wie bei einem Kind, ein Toter, der weint, ich selber, der weint, es flimmert mir vor Augen, eine (…) Scheibe zittert im Glas. Diese Haut: kann zwei Namen kaum halten. Wohin Bettuch auch flieht: Er flieht darauf zu. Vor sich selbst: gibt es kein Entkommen.

DER NABEL

Wie still es in den Bäumen ist, es ist wohl spät, was ist denn Zeit, es gibt gar keine Zeit

Flamm lässt Bettuch in der Sprache der Verzweiflung sprechen, in deren Mitte sich eine Zahl verbirgt: ruhelos, und abrupt. Vor Verdun: sind zwei Männer gestorben. In Frankfurt und Berlin: sterben zwei Mütter. Zwei Familien: zerstört dieser Roman im Krieg. Auch nach seinem forma­len Ende bleibt niemand von ihm verschont; weder die, die ihn sehen mussten, noch die, die warten. Bettuchs Schwes­ter: wird ihren Bruder nicht wiedererkennen. Die Erde, die schwarz ist und aus Blut, dauert an. Das Ende eines Krie­ges: ist nicht das Ende der Vernichtung. Hier: stehen Kreuze. Flamm erzählt davon: bis zuletzt. In diesem Ro­man kann es keine Kapitel geben. Er besteht aus Bettuchs bestürzender wörtlicher Rede und aus der wörtlichen Rede der anderen, die beide ihrem Prinzip nach wiederholte, wiederherholende Reden sind: Der Roman ist die verzwei­felte Verteidigungsrede eines verlassenen Mannes, der vor seinen Richtern spricht und der im Präsens erzählt, was er nicht versteht, als wäre keine Zeit vergangen; als wäre nichts geschehen; als würden die Sätze nur eine formende Zeit kennen, nur diese eine imaginierende Permanenz, nachdem alles bereits verloren war; nicht einmal, sondern in zweifacher Hinsicht. Bettuch: will verzweifelt nicht er sein, und verzweifelter jemand anderes. Der Stern, den er gefunden hatte und der ihn erlösen muss, von der Armut seines Namens und von sich selbst, war kein Stern der Er­lösung, sondern ein entfernter Spiegel in einem Stern. Der Tod konstituiert Bettuchs Sprechen. Er ist das Objekt, und Subjekt, der einsame Gott seiner Sprache: der Kons­tituierte und der Konstituierende; die Konstitution. Hier hat die Welt gebrannt, hier sind Millionen verkohlt und ver­blutet, hier liegen unsere Brüder, hier liegt Europa, hier liegt die Menschheit, hier bin ich, hier liege ich, hier liegt mein Le­ben, hier sind Gräber, Gräber, Gräber, Kreuz neben Kreuz, Erde neben Erde, (…) wer ist dieser Gott, der unser Leben biegt – gegen uns (…). Der Mund: weint nur in Wörtern. Der Strich: hält seinen Atem an. Das Glas: ist eine Wand; bis zum Ende, bis Bettuch sie zerbricht; zweimal, und an zwei verschiedenen Stellen. Das erste Mal als Wunsch, das letzte Mal als dessen zu späte Erfüllung: ich zerschlage die Scheibe, ich zertrete das Glas, das zwischen ihm ist und mir (…), jetzt trete ich es mit den Füßen ein (…). Das Glas: ist auch im Spiegel. In ihm sieht Bettuch sich spiegelverkehrt; als ein Mensch, ohne Abbild; als ein Toter, vor einem Bild: niemand, es ist niemand im Zimmer außer mir, ich bin ganz allein, ich bin einsam, grauenhaft allein, ich taste meinen Körper entlang, Arme, Gesicht, eine Hand streift über die andere: Ich, ich, ich, ein anderer ist ich, ich bin der andere, der Tote, der nun lebt, Gesicht, Körper ein anderer, Muskeln, Fleisch, Därme, Gehirn und Seele. Bettuch rekonstruiert die Ereignisse, die ihn erzählen und die er im Erzählen wiedererlebt, so, wie ein traumatisierter Mensch sich erinnert: allein; ohne den Trost der Gattung. In einer Szene liegt er neben Grete im Bett; sie sieht, was ihm fehlt. Er sagt, wie er sich selbst sieht: [i]ch habe keinen Nabel, ich habe keine Mutter, ich habe kein Kind, ich bin nicht eingereiht in die Kette, die durchgeht durch alle Leiber vom ersten zum letzten Menschen. Aus keinem Schoß geboren, Körper und doch kei­ner, ich und doch ein anderer, ein Name, ein Schicksal und doch kein Mensch. Zwei Tote teilen sich einen Mund. Ich? Nicht ich; nicht ich. Nicht ich. Und auch kein anderer.

 

 

Dieser Text ist ein Auszug aus Flamms Debütroman »Ich?«, der erstmals 1926 bei S. Fischer erschien.
Die Neuauflage ist um diese Selbstbetrachtung sowie ein Nachwort von Senthuran Varatharajah ergänzt worden und erscheint am 29.11.2023.

Peter Flamm, bürgerlich Erich Mosse, 1891 in Berlin geboren, begann schon während seines Medizinstudiums, in den Zeitungen seines Onkels Rudolf Mosse Feuilletons und kleinere Erzählungen zu veröffentlichen. 1926 sorgte sein psychologischer Debütroman »Ich?« bei S. Fischer für Furore. In den folgenden Jahren verfasste er neben seiner medizinischen Praxis drei weitere ...

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