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»Wir werden das Recht schon irgendwann und irgendwo finden«

Anfang Oktober 2018 bestätigte das türkische Gericht in einer Revisionsverhandlung die erschwerte lebenslange Haft für Ahmet Altan. Er hatte auf ein Urteil gehofft, das dem Recht, der Verfassung und den Gesetzen entspricht. Lesen Sie hier seine Verteidigungsrede.

Ahmet Altan
© (c) NIHAT ODABASI

Verehrter Richter,

die Schmierenkomödie hier, die mit »unterschwelligen Botschaften« begann, mit »ideeller Gewalt« fortsetzte und schließlich in der Anschuldigung des Revisionsstaatsanwalts gipfelte, wir hätten eine »abstrakte Gefahr geschaffen«, hat uns einige Tatsachen vor Augen geführt:

Erstens, dass irgendjemand den krankhaften Wunsch hat, uns weiter in Haft zu sehen.

Zweitens, dass dieser Wunsch mit legalen Mitteln nicht zu verwirklichen ist.

Drittens, dass gewisse Vertreter der Gerichtsbarkeit angesichts der Kollision dieses Wunsches mit den juristischen Tatsachen inzwischen so verzweifelt sind, dass sie nicht mehr davor zurückschrecken, den absurdesten Unfug zu verbreiten, sich öffentlich lächerlich zu machen und sogar Straftaten zu begehen.

Werfen wir zunächst einen Blick auf den juristischen Blödsinn im Plädoyer des Staatsanwalts, der während der ganzen Verhandlung lieber mit seinem Telefon spielte, als sich die Verteidigung auch nur eines Angeklagten anzuhören.

Die erste fallbezogene Feststellung des Staatsanwaltes, der auf verschärfte lebenslange Haft für uns plädiert, lautet wortwörtlich:

»Die begangene Straftat blieb ohne materielle Auswirkungen.«

Ich frage sämtliche hier anwesenden Juristen:

Was ist das – eine »Straftat ohne materielle Auswirkungen«?

Wenn eine »Straftat« keine materiellen Auswirkungen hat, welche Auswirkungen hat sie dann?

Existiert in der Rechtsprechung der Begriff einer »Straftat mit immateriellen Auswirkungen«?

Lässt sich anhand juristischer Kriterien begründen, dass eine »Straftat ohne materielle Auswirkungen« dennoch eine Straftat ist?

Wenn ja, was sind diese Kriterien?

Schon mit der ersten Formulierung aus der Anklage des Staatsanwalts verlassen wir also den »materiellen« Bereich des Rechts und begeben uns in die unbestimmten, abstrakten, nicht beweisbaren Gefilde des »Immateriellen«.

Überhaupt ist uns während dieses gesamten Prozesses noch kein einziger Vertreter der Gerichtsbarkeit begegnet, der von »handfesten« oder »konkreten« Beweisen gesprochen hätte.

Wäre ja auch nicht möglich gewesen.

Alle Anschuldigungen beruhen schließlich auf »Immateriellem« und »Abstraktem«.

Es ist, als urteilten hier nicht Richter und Staatsanwälte, sondern Magier, die Nachrichten aus dem Jenseits empfangen.

Ihre Verzweiflung lässt diesen Leuten keinen anderen Weg, als Unsinn zu reden.

Die zweite Feststellung des Staatsanwalts ist sogar noch seltsamer als die erste.

Er sagt, unsere »Aktionen« seien »darauf ausgerichtet, eine wenn auch nicht zwangsläufig konkrete, so doch abstrakte Gefahr zu schaffen«.

Es wird einige geben, die nicht glauben können, dass der Staatsanwalt so etwas gesagt haben soll, weshalb ich nochmals darauf hinweise, dass ich seine Aussage im Wortlaut dem Sitzungsprotokoll entnommen habe.

Ich frage jetzt: Was ist eine »abstrakte Gefahr«?

Gibt es den Straftatbestand der »Schaffung einer abstrakten Gefahr«?

In welchem Paragraphen ist er geregelt?

Kann man wegen »Schaffung einer abstrakten Gefahr« zu verschärfter lebenslanger Haft verurteilt werden?

Kann man deswegen überhaupt verurteilt werden?

Existiert ein solcher Begriff in der Rechtswissenschaft?

Der Staatsanwalt, der von einer »Straftat ohne materielle Auswirkungen« und von einer »abstrakten Gefahr« spricht, behauptet zudem, über »Beweise« zu verfügen.

Wie hat man sich Beweise für eine »Straftat ohne materielle Auswirkungen« und für eine »abstrakte Gefahr« vorzustellen?

Kann es für eine »abstrakte Gefahr« »konkrete Beweise« geben?

Der Staatsanwalt kann jedenfalls keinen einzigen solchen Beweis vorlegen.

Wie sollte er auch?

Hätte er konkrete Beweise finden können, wäre er wohl kaum gezwungen gewesen, sich in derartigen juristischen Blödsinn zu versteigen.

Indem der Staatsanwalt einfach behauptet, über Beweise zu verfügen, ohne freilich ein einziges Beispiel zu nennen, missachtet er zugleich das Urteil, welches das Verfassungsgericht über Mehmet Altan gesprochen hat.

Er erwähnt es mit keiner Silbe.

Dabei hatte das Verfassungsgericht, nachdem es sämtliche angeblichen »Beweise« in diesem Fall einzeln geprüft hatte, entschieden, dass diese eben keinen Beweischarakter trügen und man auf ihrer Grundlage niemanden inhaftieren, geschweige denn verurteilen könne.

Das Verfassungsgericht erläuterte seine Entscheidung, dass die Beweise keine Beweise seien, in einer konkreten, auf Recht und Gesetz fußenden Begründung.

Weder das Schwurgericht, von dem wir zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, noch der hier anwesende Revisionsstaatsanwalt haben dieser konkreten Begründung konkrete Argumente entgegenzusetzen.

Da man zwar keine konkreten Beweise hatte, uns aber dennoch inhaftieren wollte, ignorierte man das Verfassungsgericht geflissentlich.

Haben für einige Richter und Staatsanwälte innerhalb des Justizsystems die Verfassung und das Verfassungsgericht keine Gültigkeit mehr?

Haben wir es hier mit Richtern und Staatsanwälten zu tun, die es ablehnen, sich an die Verfassung zu halten?

Wenn sich aber die Gerichte, vor die man uns stellt, nicht an die Verfassung halten, nach welchen Regeln und Gesetzen gehen sie dann vor?

Verfahren diese Richter und Staatsanwälte, welche die Verfassung ablehnen, nach geheimen Gesetzen, die nur ihnen selbst bekannt sind?

Ein Richter, der die Verfassung und das Verfassungsgericht ablehnt, existiert als Begrifflichkeit nicht.

Wer die Verfassung und das Verfassungsgericht ablehnt, wäre kein Richter, sondern ein Straftäter.

Der konkrete Beweis für seine Straftat ginge überdies aus der Anklage des Staatsanwalts und dem Urteil des Richters deutlich hervor.

Weshalb missachtet der Staatsanwalt das Verfassungsgericht und dessen Entscheidungen?

Auf diese Frage muss er eine ehrliche Antwort geben.

Doch nicht nur er muss diese Frage beantworten, sondern auch der Präsident des Hohen Rates für Richter und Staatsanwälte sowie der Justizminister, von denen er benannt wurde.

Wieso habt ihr einen Staatsanwalt, der die Verfassung und das Verfassungsgericht missachtet, mit diesem Prozess betraut?

Wusstet ihr etwa nicht, dass er die Verfassung und das Verfassungsgericht missachtet?

Oder steckt ihr mit ihm unter einer Decke?

Wenn ihr so erpicht darauf seid, Menschen ohne konkreten Beweis ins Gefängnis zu bringen, bleibt euch ja gar nichts anderes übrig, als euch strafbar zu machen.

Das ist die Situation, mit der wir es hier zu tun haben.

Ich denke, die angeführten Beispiele waren deutlich genug.

Aber es gibt noch eine weitere juristische Ungeheuerlichkeit:

Der Staatsanwalt, der verschärfte lebenslange Haft für uns fordert, hat nicht einmal die ihm vorliegende Akte gelesen.

Er spricht von den »Aussagen der während der Strafverfolgung angehörten Zeugen und verdeckten Zeugen«.

Man hat den Fahrer des bedauernswerten Alaaddin Kaya als verdeckten Zeugen in die Akte aufgenommen und seine Lügen und Widersprüche geschluckt, ohne sie zu hinterfragen – so viel haben wir verstanden.

Während der Strafverfolgung allerdings wurde kein einziger Zeuge angehört. In der Anklageschrift findet sich die Aussage eines Zeugen, der während der Ermittlungen angehört wurde, aber während der Strafverfolgung ist dieser Zeuge kein einziges Mal aufgetaucht. Er hatte so viel gelogen, dass er sich einfach nicht traute.

Welchen Zeugen meint also der Staatsanwalt, wenn er sagt, dieser sei »während der Phase der vom erstinstanzlichen Gericht vorgenommenen Strafverfolgung angehört« worden?

Einen solchen Zeugen gibt es gar nicht.

Und so ein Mann, dem nicht einmal die ihm vorliegende Akte vertraut ist, fordert, ohne mit der Wimper zu zucken, verschärfte lebenslange Haft für uns.

Sollen wir derartigen Schlendrian jetzt etwa Gerechtigkeit nennen?

Im Plädoyer des Staatsanwalts, das doch bloß eine Seite umfasst, hakt es an allen Ecken und Enden. Doch ich will mich nicht in Details verlieren, sondern nur noch ein letztes Beispiel geben.

Ich zitiere wortwörtlich:

»Das Gericht möge beschließen, dass jegliche durch die Angeklagten mittels diverser medialer Kanäle zur Sprache gebrachten Aussagen und Ansichten geeignet sind, die Menschen mit der Gefahr eines Putsches insofern zu bedrohen und zu erpressen, als dass ihrem Lebensrecht, ihrer körperlichen Unantastbarkeit bzw. ihrem Leib und Eigentum Schaden in erheblichem Maße zugefügt wird.«

Auf den schmerzlichen Umstand, dass ausgerechnet ein Vergewaltiger des Türkischen dazu auserkoren wurde, einen Schriftsteller anzuklagen, der dieser so reichen und schönen Sprache sein Leben gewidmet hat, gehe ich hier nicht weiter ein.

Wir sind hier vor Gericht.

Hier muss jede Anschuldigung durch konkrete Beweise belegt werden.

In welchem meiner Texte oder mit welcher meiner Aussagen habe ich je die körperliche Unantastbarkeit eines Menschen bedroht? Oder ihn mit der Gefahr eines Putsches erpresst?

Wieso sollen wir diese Anschuldigung einfach so als gerechtfertigt hinnehmen?

Der Staatsanwalt beantwortet diese Fragen nicht. Als Beleg für seine Behauptung verweist er auf das, was wir in einer Fernsehsendung gesagt haben.

Verehrter Richter,

das Verfassungsgericht hat das Fernsehgespräch, auf das der Staatsanwalt sich bezieht, Satz für Satz untersucht und für strafrechtlich irrelevant befunden. Es hat dieses Urteil anhand diverser Paragraphen konkret begründet.

Der Staatsanwalt macht sich wieder desselben Vergehens schuldig, das Verfassungsgericht und dessen Entscheidungen zu missachten.

Artikel 153 der Verfassung ist sehr klar und deutlich.

Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind für jedermann bindend. Judikative, Legislative und Exekutive haben die Entscheidungen des Verfassungsgerichts zu befolgen.

Aber hier in diesem Gericht werden das Verfassungsgericht und seine Entscheidungen missachtet.

Sagen Sie es doch einfach frei heraus:

Haben die Verfassung und die Entscheidungen des Verfassungsgerichts vor diesem Gericht Gültigkeit oder nicht?

Sind wir hier der Verfassung und den Entscheidungen des Verfassungsgerichts unterworfen – ja oder nein?

Wenn dieses Gericht an die Verfassung und die Entscheidungen des Verfassungsgerichts gebunden ist, wieso nimmt sich der Staatsanwalt dann das Recht heraus, Aussagen zu formulieren, mit denen er die Verfassung und das Verfassungsgericht missachtet?

Wenn dieses Gericht nicht an die Verfassung und die Entscheidungen des Verfassungsgerichts gebunden ist, aus welcher Quelle bezieht es dann seine Legitimation?

Die Aussagen und Anschuldigungen des Staatsanwalts werfen einen düsteren Schatten über dieses Gericht wie auch über das ganze Justizsystem.

Dieser Schatten gehört beseitigt.

Mit Bezug auf das vom Verfassungsgericht für strafrechtlich irrelevant befundene Fernsehgespräch sagt der Staatsanwalt: »In diesem Fall wurde bestätigt, dass das zur Last gelegte Verhalten den Tatbestand der Gewaltanwendung erfüllt.«

Wie wurde das bestätigt?

Wer hat das bestätigt?

Warum wurde das bestätigt?

Wie können gesprochene Worte, die das Verfassungsgericht für strafrechtlich irrelevant erachtet, den Tatbestand der Gewaltanwendung erfüllen?

Nicht nur die Verfassung und das Verfassungsgericht, sondern auch das Strafgesetz und das Parlament, das dieses Gesetz verabschiedet hat, bringen deutlich zum Ausdruck, dass weder das geschriebene noch das gesprochene Wort eine Gewalttat darstellen kann.

Der Staatsanwalt fegt Verfassung, Verfassungsgericht, Parlament und Gesetz mit einem Handstreich beiseite.

Wenn es die Verfassung, das Verfassungsgericht, das Parlament und das Gesetz nicht gibt, dann existiert auch dieses Gericht nicht.

Es kann kein Gericht geben ohne Verfassung und ohne Gesetz.

Der Staatsanwalt missachtet auch dieses Gericht.

Aber wenn es dieses Gericht nicht gibt, wo sind wir dann hier?

Womit und mit wem haben wir es zu tun?

Ihr Urteil und dessen Begründung werden Klarheit in diese Fragen bringen.

Verehrter Richter,

einen Menschen zu bestrafen, ihn ins Gefängnis zu stecken und in eine dunkle Zelle zu sperren, ist einfach.

Man braucht dazu nicht mehr als zwei bewaffnete Männer.

Waffen reichten schon aus, um den Strafvollzug zu gewährleisten, selbst ohne Verfassung und ohne Gesetz.

Einen Menschen zu verurteilen dagegen ist schwierig.

Bestrafen und verurteilen sind zwei unterschiedliche Dinge, zwei unterschiedliche Konzepte.

Um einen Menschen zu verurteilen, muss der Richter tief in das dunkle Chaos des Lebens hineingreifen, die glänzende, glasklare Wahrheit ausfindig machen, sie herausziehen und den Leuten anhand konkreter Beweise darlegen, dass es die Wahrheit ist.

Wenn er dieses Wunder vollbringt, erwirbt er sich die Hochachtung und den Respekt der Menschen. Sie glauben dann, dass der Verurteilte schuldig ist.

Wenn ein Richter dagegen einen Menschen bestraft, ohne ihn verurteilen zu können, verliert er seine Legitimation.

Das Gericht, vor das ich zuletzt gestellt wurde, hat mich ins Gefängnis gesteckt.

Aber konnte es mich verurteilen?

Konnte es die Wahrheit zutage fördern und sie den Menschen anhand konkreter Beweise augenscheinlich machen?

Nein, das konnte es nicht, weshalb denn die Menschen dieses Gericht auch nicht respektiert haben. UN-Vertreter haben es offiziell als »Theater« bezeichnet.

Die Verteidigungsrede, die ich vor diesem Gericht gehalten habe, wurde in alle wichtigen Weltsprachen übersetzt, in Italien erschien sie als Buch, die Union der Richter und Staatsanwälte von Neapel ließ sie bei einer Sondersitzung verlesen, und das römische Kulturfestival startete in einem zweitausend Zuhörer fassenden Amphitheater mit einer Lesung daraus.

Wenn all das jener Verteidigungsrede auch einen eigenen Wert zubilligte, so betonte es doch vor allem das Unrecht und die Unzulänglichkeit des Gerichts.

Wären die Richter, die mich ins Gefängnis gesteckt haben, im Recht gewesen und hätten sie mich anhand konkreter Beweise verurteilen können, so hätte niemand meine Verteidigungsrede ernst genommen oder für wichtig befunden.

Alle Verteidigungsreden der Justizgeschichte, die in Buchform erschienen sind, hatten sich gegen Richter gewendet, die im Unrecht waren.

Ein Richter bezieht seine Macht zur Bestrafung aus den ihm unterstellten Gendarmen und Waffen. Seine Macht zur Verurteilung dagegen bezieht er aus dem, was kollektive Vernunft und das Gewissen der Menschheit als Recht anerkennen.

Wo kein Verbrechen ist und keine Beweise sind, kann man bestrafen, aber nicht verurteilen.

Alle Richter auf dieser Erde sollten sich, bevor sie ihre Entscheidung treffen, die Frage stellen: »Wenn ich das zu fällende Urteil vor den Professoren und den Studenten einer angesehenen juristischen Fakultät im Streitgespräch mit dem Angeklagten verteidigen müsste, hätte ich dann die stärkeren Argumente auf meiner Seite? Würde mir damit der Respekt der dort anwesenden Juristen zuteil?«

Wenn wir im Hörsaal einer juristischen Fakultät ein Streitgespräch über den heutigen Fall führen würden, könnten Sie mich dann verurteilen?

Das könnten Sie nicht.

Niemand könnte das.

Das läge nicht an der Unzulänglichkeit des Richters. Es läge an der Unzulänglichkeit der Akte.

In dieser Akte findet sich kein einziger konkreter Beweis.

Deshalb blamiert man sich ja jetzt auch mit Absurditäten, die in Recht und Gesetz keinerlei Entsprechung haben, wie »Unterschwelligem«, »ideeller Gewalt« und »abstrakter Gefahr«.

Weil man verzweifelt ist.

Weil man mich bestrafen will, aber keine rechtliche Grundlage dafür findet.

Und weil man auch nie eine finden wird.

Denn ich bin im Recht.

Daraus beziehe ich schließlich auch meine Kraft und meine Entschlossenheit.

Ich sehe, dass meine Kontrahenten im Unrecht sind und dass sie verzweifelt sind. Nicht nur ich, jeder sieht das.

Seit Jahren sitze ich im Gefängnis.

Die Menschen fragen mich, warum ich keine Angst vor dem Gefängnis habe, warum es mir nichts ausmacht, mein Leben in einer Zelle zu verbringen.

Es macht mir deshalb nichts aus, weil ich mich fühle, als würde ich mich durch einen Comic bewegen.

Nichts erscheint mir mehr schlimm oder furchterregend.

Wenn Sie eine Strafe auf »Unterschwelligem«, auf »ideeller Gewalt« und »abstrakter Gefahr« errichten, dann verliert diese Strafe all ihren Schrecken.

Denn niemand hat genug Kraft, mir mit solchen Dingen Angst einzujagen.

Angst hätte ich bloß davor, im Unrecht zu sein.

Wenn mir einer Angst einjagen will, dann würde ihm das nur gelingen, indem er anhand konkreter Beweise mein Unrecht belegt.

Verehrter Richter,

das Gericht, von dem ich zu verschärfter lebenslanger Haft verurteilt wurde, ging in seiner Begründung auch ausführlich auf Zeitungsmeldungen über den sogenannten »Balyoz-Plan« ein, die sechs Jahre vor dem versuchten Staatsstreich vom 15. Juli erschienen sind und mit diesem Prozess in keinerlei direktem Zusammenhang stehen.

Dieser seltsame Umstand verleitet mich zu der Annahme, dass sich unter denen, die mich bestrafen wollen, auch Beteiligte des Balyoz-Plans sowie Elemente des als »Ergenekon« bezeichneten »tiefen Staates« befinden.

Daher werde ich mich mit Ihrer Erlaubnis auch kurz mit dem Thema »Balyoz« befassen.

Bei einem Seminar der 1. Armee über den Notstand wurden im Jahr 2003 Gespräche geführt und Dokumente erstellt, die wir 2010 in der Zeitung Taraf veröffentlichten, obwohl uns der Generalstab das strikt untersagt hatte.

Diese Gespräche und Dokumente belegten eindeutig, dass man Vorbereitungen für einen Staatsstreich traf.

Später wurde behauptet, bei den schriftlichen Dokumenten handele es sich um Fälschungen.

Auf die Gespräche dagegen ging fast niemand ein.

Diese Gespräche, die auf Anweisung ihres Kommandanten von den Seminarteilnehmern mitgeschnitten worden waren und deren Echtheit vor Gericht bestätigt wurde, haben sich seltsamerweise nur sehr wenige Menschen angehört.

Einer, der sie sich angehört hat, ist, soweit ich verstanden habe, Recep Tayyip Erdoğan. Er erklärte, er sei »schockiert gewesen«.

Ein anderer, der sich die Gespräche angehört hat, ist der Generalstaatsanwalt des Kassationshofs, der in ihnen klare Beweise für einen geplanten Staatsstreich sah und eine Bestrafung der Verdächtigten beantragte.

Dieser Prozess am Kassationshof dauert noch an. Bisher wurde kein Urteil gefällt.

Auch Binali Yıldırım, Ministerpräsident der letzten Legislaturperiode, sowie dessen Justizminister Bekir Bozdağ haben Balyoz als versuchten Staatsstreich bezeichnet.

Über die angeblich gefälschten Dokumente dagegen hat unlängst Alper Görmüş einen hochinteressanten Artikel geschrieben.

In dem Artikel zitiert er zunächst einen Abschnitt aus der Urteilsbegründung des Kassationshofs, der das erste Urteil über die Balyoz-Verdächtigen bestätigt hatte.

Dieser Abschnitt lautet wie folgt:

»Schauen wir uns die Zahlen an, so sehen wir, dass fast fünftausend Offiziere und Unteroffiziere als das Personal vorgesehen waren, das in Sonderoperationen und Verhören, an Notstandsgerichten, im Strafvollzug, in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen, bei privaten Krankenhäusern, in Arzneimitteldepots, beim Zoll usw. eingesetzt werden sollte. Zudem sind in diversen Kategorien dreizehntausend Zivilpersonen samt ihrer Arbeitsstellen und einiger persönlicher Angaben sowie die Adressen von zweitausend Institutionen aufgelistet. Behauptungen, diese aus dem Jahr 2003 stammenden Daten über rund zwanzigtausend natürliche und juristische Personen seien allesamt manipuliert, falsch oder schlicht erfunden, sprechen dem Umfang der Akte und dem gesunden Menschenverstand Hohn. Die Akribie, mit der alles erstellt wurde, die haargenaue Abstimmung von Aufgaben, Titeln, Einsatzbereichen der Verdächtigen – all diese detaillierten Informationen hätten von Fälschern Jahre später niemals in solcher Masse zusammengetragen werden können.«

Görmüş stellt dann die Frage, warum die angeblichen Fälscher dieser Papiere nicht hätten gefunden werden können.

Eine berechtigte Frage.

Wenn die Dokumente gefälscht sind, wo sind dann diejenigen, die sie erstellt haben?

Warum treibt man sie nicht auf?

Müsste diese Frage nicht eigentlich das Gericht stellen, das mich bis zu meinem Tode wegsperren will, weil es mir vorwirft, immer noch daran zu glauben, dass Balyoz ein Putschversuch gewesen ist?

Ist es Aufgabe der Justiz zu hinterfragen, was ich glaube, oder die Wahrheit ans Licht zu bringen?

Verehrter Richter,

vor Ihnen liegt eine Akte, die keinerlei konkrete Beweise enthält, dafür aber jede Menge unsinniger Begriffe, die in Recht und Gesetz keinerlei Entsprechung besitzen, wie »unterschwellig«, »ideelle Gewalt«, »Glaube« oder »abstrakte Gefahr«.

Dass wir hier sind, haben wir Staatsanwälten und Richtern zu verdanken, welche die Verfassung, das Verfassungsgericht, die Gesetze und das Parlament missachten.

Ich weiß nicht, ob Sie die Verfassung, die Entscheidungen des Verfassungsgerichts, die Gesetze und den Willen des Parlaments, das die Gesetze verabschiedet, respektieren werden oder nicht.

Nachdem ich so viele Vertreter der Gerichtsbarkeit erlebt habe, die Recht und Verfassung missachten, ist mir klar geworden, dass man die Entscheidungen der Justiz leider nicht zuverlässig voraussagen kann.

Mein Vorschlag an Sie und alle anderen Richter: Stellen Sie sich vor, Sie müssten das von Ihnen zu fällende Urteil an der juristischen Fakultät einer angesehenen Universität vor Professoren und Studenten erklären.

Wägen Sie ab, ob Ihr Urteil von Ihren Kollegen weltweit mit Achtung aufgenommen würde oder nicht.

Ich hoffe, dass Sie ein Urteil fällen, das dem Recht, der Verfassung und den Gesetzen entspricht.

Sollten Sie das nicht tun, würde mir das auch nicht viel ausmachen.

Wir haben uns mittlerweile daran gewöhnt, auf Unrecht zu stoßen.

Wir würden unsere abenteuerliche Suche nach dem Recht fortsetzen.

Irgendwann und irgendwo werden wir es schon finden.

Ob heute oder an einem anderen Tag.

 


Aus dem Türkischen von Johannes Neuner

Ahmet Altan, geboren 1950, ist mit seinen Romanen und Essaybänden in Millionenauflage einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Türkei. Und einer der bekanntesten Journalisten des Landes. Seine kritische Berichterstattung brachte ihn immer wieder in Konflikt mit der Regierung. Ahmet Altan arbeitete als Kolumnist für zahlreiche namhafte türkische Medien und gründete 2007 ...

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