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All die Romane, die ich beinahe geschrieben hätte

Mehr als einmal hat Andrew Sean Greer sich um ein Guggenheim-Stipendium beworben, mit mehr als einer Romanidee. Die hat der Pulitzer-Preisträger jetzt noch einmal hervorgeholt – mit kopfschüttelndem Vergnügen.

Andrew Sean Greer
© © ANDREAS LABES

Vor kurzem habe ich ein Stipendium bekommen, um das ich mich schon seit mehr als fünfzehn Jahren bewerbe. Ich sage »mehr als«, weil ich auf meinem Computer nur Dateien finde, die bis 2001 zurückreichen; diese Dateien muss ich alle paar Jahre updaten, damit meine Textverarbeitung sie weiterhin lesen kann. So uralt sind sie. Und weil ich mich gerne mit irgendetwas anderem beschäftige, wenn ich eigentlich an einem Roman arbeiten sollte, habe ich mir in meiner Freude über das Stipendium noch einmal meine früheren Bewerbungen durchgelesen. Das heißt: Ich habe mir die Projekte angesehen, die ich im Laufe der Jahre vorgeschlagen habe. Die Romane, die ich angehen wollte. Einige davon habe ich tatsächlich geschrieben – ohne das Stipendium –, und andere, na ja, sind auf der Strecke geblieben. Manche hatte ich komplett vergessen. Manche hatte ich mir, fürchte ich, spontan ausgedacht. Ich glaube, jeder Schriftsteller hat eine Liste von Romanen, die er nie geschrieben hat – und niemals vorhat zu schreiben. Manche sind ganz unmögliche Träumereien. Manche sind gute Ideen, die einem bei einer schlechten Flasche Wein kommen. Und manche sind, seien wir ehrlich, ganz einfach schlechte Ideen. Richtig schlechte Ideen. 

Hier also ein bescheidener Ratschlag...

1.
Wie man leben und was man tun sollte
How to Live, What to Do

Die Grundidee dieses Buches war, einen Tag im Leben dreier Menschen zu beschreiben – den 04. April 2000. Und das Gleiche dann noch zwei weitere Male: in den Jahren 1950 und 1900. Dieselben Figuren, aber in einer anderen Epoche. Es sollte ein Experiment darüber sein, wie unterschiedlich ein Leben verlaufen kann, je nachdem, in welcher Zeit man geboren wurde, und ich hatte insbesondere Frauen, homosexuelle und farbige Menschen vor Augen. Ich erinnere mich, wie ich mit diesem Projekt loslegte und mir sehr schnell klar wurde, dass ich mich zunächst durch einen kompletten Tag im Jahre 2000 würde kämpfen müssen, bevor ich irgendeine Art von Ergebnis erwarten durfte. Also startete ich einen neuen Versuch, diesmal, indem ich die verschiedenen Epochen abwechseln ließ und sie – jetzt kommt's – durch verschiedenfarbige Tinte voneinander absetzte. Leider kann ich diesen frühen Entwurf nirgendwo finden. Trotzdem scheine ich mich ein Jahr darauf mit einer Variante davon erneut beworben zu haben, unter dem Titel Ein liederliches Leben (Loose Life), und dann noch einmal mit einer weiteren Variante unter dem Titel Die anderen Leben des Newton Wicks (The Other Lives of Newton Wicks). Diese schien von einem kleinen Jungen zu handeln, dessen Freund von einem Zeitalter in ein anderes wechseln kann – glaube ich. Ich weiß es nicht. Ich habe stattdessen einen anderen Roman geschrieben: Geschichte einer Ehe. Und doch... das Konzept behielt ich fast zehn Jahre lang im Hinterkopf, und meine Leser mögen darin vielleicht den Ursprung meines Romans Ein unmögliches Leben aus dem Jahr 2014 erkennen. Also war die ganze Mühe doch nicht umsonst. Aber trotzdem ... verschiedenfarbige Tinte?

2.
Die dunkle Zeit
The Dark Ages

Wow, war ich damals düster drauf. Offenbar wollte ich einen Roman über ein Amerika schreiben, in dem die Sonne – aus unbekannten Gründen – plötzlich erloschen war. Ich unterhielt mich sogar mit einem Klimatologen aus Berkeley, um zu erfahren, wie sich der Mangel an Sonnenlicht auf Pflanzen, Vögel usw. auswirken würde. Aber natürlich interessierte mich am meisten, wie die Menschen mit der permanenten Dunkelheit umgehen würden. Ich stellte mir natürlich vor, dass wir unsere Menschlichkeit verlieren und aufeinander losgehen würden. Diese Idee hatte ich eindeutig von Saramagos Die Stadt der Blinden. Ich glaube, ich habe nie mit dem Roman angefangen, aber ich habe eine Kurzgeschichte veröffentlicht, die »Dunkelheit« heißt und die es, obwohl mein Agentin nicht wirklich etwas damit anfangen konnte, in Best American Non-Required Reading schaffte. Vielleicht ist das ein Beispiel einer Idee, die einfach nicht groß genug für einen Roman ist. Falls Sie die Geschichte lesen wollen, sie ist kostenlos auf meiner Webseite zu finden.

3.
Tagebuch eines Pestjahres
Journal of a Plague Year

Hieran erinnere ich mich kaum, aber ich weiß noch, dass ich damals absolut hin- und hergerissen war, ob ich an diesem oder an dem Roman arbeiten sollte, der später Geschichte einer Ehe wurde. Alles, was ich noch weiß, ist, dass es eine Aeneis im amerikanischen Westen im Jahre 1918 werden sollte. Ja, richtig gelesen. Ich kann beim besten Willen nicht mehr nachvollziehen, was ich mir dabei dachte. Wieso die Aeneis? Wieso der amerikanische Westen? Wieso 1918? Ich glaube, es sollte um die Heimkehr eines Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg gehen, so wie Aeneas von Troja zurückkehrte. War es vielleicht meine Version von Unterwegs nach Cold Mountain? Ich weiß jedenfalls, dass ich wochenlang mit mir rang. Ich habe einen ersten Entwurf gefunden. Das hier war der erste Satz – nur zum Spaß: »Wir überlebten den Schnee, wie manche einen Brand überleben: durch den Beistand der Götter.« Oh Mann. Ich habe oft das Gefühl, dass ich etwas »Wichtiges« schreiben sollte, und dann überkommt mich manchmal irgendeine dumme Idee, die mir »wichtig« erscheint, und ich verschwende ein paar Wochen darauf. Aber im Ernst: die Aeneis?

4.
Du schon wieder
You, Again

»Dieselben zwei Personen treffen sich immer wieder, in unterschiedlichen Situationen, unterschiedlichen Epochen, mit unterschiedlichem Alter und Geschlecht und ethnischem Hintergrund, aber immer sind es eindeutig dieselben Personen.« So beschrieb ich es in meiner Bewerbung. Vielleicht sollte es ein Roman über Wiedergeburt werden? Ich bin nicht weit damit gekommen. Ich schrieb einen schnellen Entwurf für ein italienisches Literaturfestival. Es war sehr ernst, aber dann habe ich den Zugang dazu verloren. Ich glaube, es könnte höchstens als Komödie funktionieren; eine Art Benedick und Beatrice, die sich quer durch die Weltgeschichte zanken. Aber ich sehe zugleich den gewaltigen Zeitaufwand an historischer Recherche, alte Seelen in jungen Körpern, wechselnde Beziehungen ... Diese Logistik-Hölle habe ich schon ZWEI MAL hinter mir: Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli und Ein unmögliches Leben. Vielleicht dachte ich mir, ich sollte eine Trilogie Zeit-verdrehender Romane schreiben? Gott sei Dank kam ich nie dazu. Und doch, wenn ich es mir heute ansehe, juckt es mich schon wieder in den Fingern... Werde ich je dazulernen?

5.
Komm, zieh ein, und sei mein Schatz
Come Live with Me and Be My Love

Alle paar Jahre, wenn ich gerade einen Roman beendet habe, glaube ich, dass ich als nächstes dieses Buch schreiben werde. Jedes Mal. Also, seit 2000. Es taucht regelmäßig in meinen Bewerbungen auf. Erst vor ein paar Tagen habe ich darüber nachgedacht und eine Woche damit verbracht, einen Plot auszuarbeiten. Es basiert auf einer meiner Kurzgeschichten, die noch immer zu meinen Lieblingstexten gehört: Ein junger Mann und eine junge Frau in den 1950er-Jahren, er schwul, sie lesbisch, beschließen zu heiraten – als gegenseitige Fassade. Der Text beschreibt ihre Liebesleben und auch ihre Ehe, ihre Trennung, sobald die politische Landschaft sich wandelt, und die Erkenntnis des Mannes, dass sie, auf eine Art, die Liebe seines Lebens war. Schön, oder? Aber, Leute, als Roman will es mir einfach nicht gelingen. Vielleicht irgendwann einmal. Vielleicht auch nie.

6.
Hymne ans Leben
Hymn to Life

Okay, das ist ein wenig gemogelt, denn auf eine Art habe ich diesen Roman geschrieben. Aber in meiner Bewerbung schreibe ich, dass der Roman einen Tag im Leben eines 50-jährigen Schwulen in San Francisco begleitet und eine Hymne auf die Generation von Männern ist, die vor ihm kamen, die, die an AIDS gestorben sind, und dass er einen möglichen Weg für die Männer beschreibt, die überlebt haben, ohne jedes Vorbild fürs Älterwerden. Es sollte eine bittersüße Reise durch den Tag sein – ein »Spazierbuch«, nennt ein Freund das –, sowie eine Meditation über die Liebe und den Tod. Dieses Buch habe ich nicht geschrieben. Auch wenn ich es versucht habe! Ich habe mindestens ein Jahr mit dieser Fassung verbracht, bevor ich aufgab. Aber ich habe tatsächlich einen Roman über einen Mann geschrieben, der 50 wird, und über das Erwachsenwerden nach AIDS: Das ist mein neuester Roman, Mister Weniger, der allerdings eine Komödie über die Reise eines Mannes um die Welt geworden ist. Zwei Abschnitte sind noch geblieben aus dem Jahr, das ich mit der ersten Fassung verbracht habe. So läuft das manchmal. 
*
Ich bin sicher, es gab noch mehr, mit denen ich mich nie zu bewerben getraut habe, und die nie über eine Zeile in einem Notizbuch hinauskamen. Und die Romane, die ich tatsächlich geschrieben habe, die aber nie veröffentlicht wurden, zähle ich gar nicht mit. Auch davon gibt es einen ganzen Stapel – das Abenteuer in der versunkenen Stadt, die Cowboy-Komödie, den Hollywood-Gespensterroman –, aber die wird niemand, NIEMAND, jemals zu Gesicht bekommen. Genau wie niemand je die Romane zu Gesicht bekommen wird, die ich nicht geschrieben habe. Vermutlich. Aber man kann nie wissen. Sie hier zu beschreiben fühlt sich ein wenig so an, wie das Facebook-Profil seines Ex anzusehen. Es ist schon so lange her, dass man nicht mehr verbittert ist, weder niedergeschlagen, noch stolz. Stattdessen blickt man zurück und denkt: Was hatten wir doch für eine schöne Zeit. Und vielleicht sogar ein bisschen: Was wäre wohl, wenn wir uns jetzt begegnen würden ...

Aus dem amerikanischen Englisch von Tobias Schnettler

Andrew Sean Greer hat einen eineiigen Zwillingsbruder, wuchs in einem Vorort von Washington D.C. auf und lebt mittlerweile in San Francisco. Schon mit seinem zweiten Roman »Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli« gelang ihm der internationale Durchbruch. Für »Mister Weniger« wurde Andrew Sean Greer 2018 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Auf ...

Zum Autor
  • Mister Weniger
    Andrew Sean Greer

    Mister Weniger

    »Mister Weniger« ist eine schreiend komische Liebeskomödie, die sich nicht um Konventionen schert, ein Wundermittel gegen Liebeskummer und Trost für alle, die schon gemerkt haben, dass die Liebe manchmal seltsame Wege geht.

    Der Schriftsteller ...

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