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»Briefe an eine Unbekannte«

Im Frühjahr führte das von der Stuttgarter Akademie für gesprochenes Wort – Uta Kutter Stiftung ausgerichtete Projekt INTEResse Schriftsteller mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen zusammen, die verschieden lang in Deutschland leben. Einer davon: Nather Henafe Alali. Sein in diesem Rahmen entstandener arabischer Text wurde von Rafael Sánchez ins Deutsche übersetzt und in der »Neuen Rundschau 2019/3« veröffentlicht. Lesen Sie auch hier »Briefe an eine Unbekannte«.

114 Nather Henafe Alali
© © Michael Zargarinejad

Lass mich diesen Brief in alter Tradition beginnen: Wenn Dich das, was ich hier niedergeschrieben habe, erreicht, dann entzünde neben Dir eine Kerze. Sprüh Dir ein wenig Parfüm an den Hals und mach es Dir mit Deiner Lieblingsmusik gemütlich. Und dann fang einfach an zu lesen, fang an, wo Du willst. Ob von rechts nach links oder kreuz und quer, das spielt keine Rolle. Denn das hier ist ein Text, der fragmentiert ist, genau wie ich es bin. Sei sicher, dass ich mich nicht sonderlich bemüht habe, ihn in Form zu bringen. Was hätte das auch für einen Sinn? Was ist das Leben anderes als eine durcheinander gewürfelte Abfolge von tragisch-banalen Ersatzhandlungen? So sehr wir uns auch bemühen, eine logische Ordnung hineinzubringen, es wird doch immer unverständlich bleiben. Erlaube mir, Dich ein wenig an meinem Kummer teilhaben zu lassen. Denn wie sagt der andalusische Dichter Ibn Zaidun: »Über seine Sehnsucht zu klagen, verschafft Beruhigung. Ach, könnte ich einer mitleidvollen Seele mein Herz ausschütten.« Nichts anderes gibt mir in diesem Moment zum Klagen Anlass als die Tatsache, dass ich auf dieser Seite der Nacht gelandet bin und Du auf der meiner kleinen Welt entgegengesetzten Seite. An welches Ufer wird meine Sprache mich bringen, damit unsere Geschichten sich treffen? Du weißt ja, meine Liebe: »Das Herz ist gestorben, die Welt ist leer«, um es mit Schiller zu sagen. Nichts wird mein Herz wiederbeleben, an diesem Ort meiner Nachtwache, außer die Hinwendung zur Sprache, zur Musik … zu Dir. Während die Nacht sich nach und nach herabsenkt, und ich spüre, wie sie mein Inneres verdüstert, ist es Zeit, Dir von meinem Belagerungszustand zu berichten. Mein Gesicht und meine Sprache, sie verlieren sich in der Schwärze der Nacht wie die Stimme einer Chorsängerin. Wie sie gehe ich voll und ganz auf in der Musik, die allein mein Ich, meine Erinnerung, wieder einrenken kann, so dass ich das Lied des Lebens zu Ende zu singen oder zumindest wiederzuentdecken vermag in den Tiefen meiner selbst. Dennoch ist und bleibt das Leben ein Irrtum, auch mit dieser Musik dazu, bei der sich meine Gedanken von der Außenwelt ganz und gar entkoppeln und die mir ins Blut übergeht wie der Lauf der Zeit. Keine Erkenntnis schwingt in ihr mit, aber sie allein, die Musik, verleiht dem Schmerz eine Bedeutung. Zuflucht nehme ich zu ihr, um mich dem Verlust zu widersetzen … dem Verlust von Dir … dem Verlust des Ortes. Diese Nacht wird durch die Musik versüßt, aber sie zerrt auch mein Ich aus seinem Labyrinth heraus und reißt so in meinem Inneren tausend neue Wunden auf. Es ist, als sähe ich im Spiegel der Nacht mein Ebenbild bluten. Nichts anderes als ein langsamer, wohlschmeckender Suizid sind diese Harmonien, ein Entschwinden in jene geheimnisvolle, übersinnliche Sphäre, die ich in der Melodie entdecke. Nichts als ein Ringen zwischen dem Eigenen und der vom Rhythmus durchbebten Welt. Meine Flucht in die Musik und zu Dir ist lediglich ein Versuch, das enorme Quantum Ich zu verstehen, das sich in meinem Inneren eingenistet hat. Ein Geschöpf der Nacht bin ich nun, das sich denen, die mit reinem Gewissen träumen, vielgestaltig offenbart. Die Musik, die ich höre, ist so traurig, als würde sie die Abschiedsszene zweier Liebender in einem Garten untermalen. Was versetzt die Musik in die Lage, mit solcher Leichtigkeit das Ende einer Liebesbeziehung in die Stille zu zeichnen? Ihrem gewaltigen Spektrum an Rhythmik – von aufbrausend bis melancholisch –, an überraschenden Pausen, an klanglicher Euphonie gegenüber wirken diese Zeilen unfähig, den menschlichen Kummer zu reparieren. Und auch Du erscheinst mir in dieser musikdurchfluteten Nacht nur wie grenzenlos interpretierbare Symphonien. Aber auch die Musik erweist sich trotz ihrer Kraft und Tiefe als unzulänglich gegenüber meinem mit sich ringenden Ich, von dem ein Teil abgetrennt worden zu sein scheint. Die Musik versetzt mich nicht in die Lage, zu dem einen Kern vorzudringen, von dem aus ich den Konflikt mit mir selbst, mit Dir und mit jedem Gegenüber beilegen könnte. Und hier bin ich nun, angewiesen auf rasche Kompensation, um jenen verlorengegangenen Teil meines Ichs wiederzufinden, indem ich mich darin übe, nebulöse Wörter anzuhäufen und Bedeutungen in geschriebene Form zu bringen. Die Sprache ist streng, und ich würde sie gern flexibler machen, um klarer zu sehen. Du bist die Feder, die mir dabei helfen kann. Wenn Du Dich fragst, warum ich dir trotz meines Belagerungszustands schreibe: Ich bin nicht nur ein Nachtgeschöpf, sondern mittlerweile auch ein Wesen, das sich geographischen Begrenzungen entzieht. Ich bin ganz und gar überzeugt davon, dass eine einzige Sprache nicht reicht, um mit Dir zu korrespondieren, also ergänze ich meine Sprache durch Deine, durch eine andere Sprache. Ich bemühe mich, herauszufinden, welche Bedeutungen sich in verschiedenen Sprachen hinter einem Wort wie »Haus« verbergen, versuche, ihre emotionale Wirkung auf mich zu spüren. Doch das, was an meinem Inneren nagt, hat allem seine Gefühlsintensität geraubt. Ich weiß nicht, ob das Sinn hat oder nicht, aber worin ich mir absolut sicher bin: Es hat keinen Sinn, jenes angenagte »Ich« zu reparieren, solange Du nicht dieses rauschende Fest mit mir teilst. Indem ich Dir schreibe, schreibe ich in erster Linie mir selbst und zögere damit das Ende der Nacht hinaus. Mittels Sprache und Musik wandere ich von Galaxie zu Galaxie. Denn jede Galaxie hat ihre eigene Sprache und ihre eigene Melodie. Und beides – Sprache und Melodie – erschafft wiederum eine Vielzahl neuer Galaxien. Es ist wie bei einem Zauberwürfel, bei dem nichts jemals endgültig ist. Was ich damit sagen will: Ich bin noch keineswegs am Ende meines Lebens angelangt. Und nichts läge mir ferner als aufzugeben. Du denkst wohl, das sei schön und aufregend – aber es tut weh. Ja, es verstärkt noch den Schmerz, der mich umgibt. »Das Herz ist gestorben, die Welt ist leer.« Während Du, meine Liebe, jeden Tag die Sonne anlachst, ohne Dich um mich zu scheren. Ich habe eigentlich keinen Nerv dafür, mich gewählt auszudrücken, will nicht ständig die Schönheit meiner dichterischen Sprache unter Beweis stellen müssen, wenn ich mit Dir spreche. Solltest Du etwas dagegen einzuwenden haben, dann lies eben nicht, was ich schreibe. Aber ich bitte Dich: Hör nicht auf, Deine Lieblingsmusik zu hören. Vielleicht treibt Dich die Musik eines Tages dazu an, ein kleines Stückchen Nacht mit mir zu teilen. Dann kann ich mich bei Dir ausruhen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel: Ich bin einsam und isoliert auf einer Insel, die nach wie vor eine schöne Küste hat. Wenn Du nur den Versuch unternähmest, mir nachts zu schreiben. Falls Du meinen Wunsch zu unverschämt findest, dann vergiss ihn. Du kannst sicher sein, dass es mich glücklich macht, Dich Tag für Tag mit der Sonne flirten zu wissen. Mir reicht es aus, mir das Szenario vorzustellen, während ich still in mich hineinlache in der Nacht und auf ihre ausgedehnte Leinwand diesen Dialog schreibe:  Es klagt die Oud, von inneren Blutungen entkräftet: Ich bin Du, o Frau, und ich bin Du, o Mann. In Dir bin ich präsent, und in Deinem Bewusstsein. Daraufhin das Cello, als es die Klänge vernimmt: Und ich, ich nehme Deine Sehnsucht wahr, o Frau, o Mann. Und stünde es in meiner Macht, so würde ich Dir eine zusätzliche Saite verleihen. Glaubst Du etwa, die Musik ist etwas anderes als ein Einschmelzen dieses Ichs, wenn wir uns ihre Vielfalt vor Augen führen, die ihren Ursprung in der Sprache hat? Wie auch immer: Wenn wir uns treffen am Ende der Nacht, durch Zufall, dann wird es keinen Zweck mehr haben, all dies zu deuten. Und es wird nutzlos sein, sich in die Notwendigkeit irgendeiner gemeinsamen Existenz hineinzusteigern.

 Dein Nather

114 Nather Henafe Alali Schrift
© Bild: Ausschnitt »Neue Rundschau 2019/3«
Nather Henafe Alali, geboren 1989 in Deir Azzor, Syrien. 2012 wurde er vom Assad-Regime inhaftiert, seine Familie kaufte ihn aus dem Gefängnis frei und er musste sein Studium der Zahnmedizin abbrechen. Er arbeitete für syrische Hilfsorganisationen und internationale NGOs zwischen Syrien und der Türkei. Er war als Feldreporter tätig ...
Zum Autor
  • Raum ohne Fenster
    Nather Henafe Alali

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