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Çiğdem Akyol über die Wahlen in der Türkei

In ihrem Buch »Die gespaltene Republik. Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan« zeichnet Çiğdem Akyol die Geschichte der Türkischen Republik nach. Anlässlich der anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei wirft sie einen Blick auf das politische und gesellschaftliche Panorama im Land.

cigdem akyol
© privat

Erst kann ich es überhaupt nicht glauben, dass Herr XYZ auf meine Mail reagiert und für ein Interview für mein Buch zusagt. Er ist ein renommierter Türkeikenner, ein Wissenschaftler, dessen Werk in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Freudig rufe ich ihn an, um letzte Details für das Gespräch zu klären. Dabei hört er mir geduldig zu, fragt neugierig nach, um schließlich mit sehr höflicher Stimme abzulehnen: »Turkey was good to me«, sagt er. »I want it to stay that way. That’s why I don’t want to have anything to do with the current president.«


»That’s why I don’t want to have anything to do with the current president.« Der Satz schallt noch Monate später bei mir nach – und ich verstehe den Mann sehr gut. Drei Jahre habe ich in Istanbul als Korrespondentin gearbeitet. Aus journalistischer Perspektive war es eine hochspannende Zeit: Es fanden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt; es folgte der Putschversuch im Sommer 2016 mit all seinen grässlichen Folgen. Nebenher entdecke ich eine Türkei, die in unserer Berichterstattung oftmals untergeht: Eine dynamische Kulturszene, großartige Landschaften abseits der Touristenpfade, ein unglaublich guter sarkastischer Humor, der sich in den Satiremagazinen niederschlägt. Vieles ist aber persönlich oftmals schwer zu ertragen. Ich erlebe viele traurige Geschichten, die mich einfach nicht loslassen.
 

Als ich 2014 an der syrisch-türkischen Grenze stehe, um über den Vormarsch des Islamischen Staates zu berichten, werden Kinder in ein Notzelt getragen. Eine Mine ist in ihrer Nähe hochgegangen, ein Kind wird später seinen Verletzungen erliegen. Gleichzeitig stolpern Tausende Flüchtlinge in schwacher Verfassung über die Grenze, mit Matratzen, Koffern und teilweise auch mit Alten auf dem Rücken. Doch in den Online-Kommentaren darüber lese ich puren Hass. Meine Fassungslosigkeit über diese Menschenverachtung kann ich nicht in Worte fassen. Ich treffe Türken, welche die Regierung kritisierten und deswegen ihre Existenzbasis verloren haben. Dann diejenigen, deren Angehörige bei Terroranschlägen ums Leben gekommen sind und die nicht mehr wissen, wie sie diese Trauer aushalten sollen. Schon während meiner Korrespondentenzeit wird es für uns Journalisten immer schwieriger, Interviewpartner zu finden – denn die Konsequenzen von Kritik können verheerend sein.Als ich im Sommer 2022 für mein Buch »Die gespaltene Republik« nach Istanbul zurückkehre, ist die Stimmung im Land noch schlechter geworden, als sie es ohnehin schon war. In einem Jahr sollen Wahlen stattfinden, die Wirtschaftskrise hält an, in der Ukraine herrscht Krieg, niemand weiß, wie es weitergehen wird. Es ist noch mühsamer geworden, Gesprächspartner zu finden. Immer wieder bekomme ich Zusagen, doch dann reagieren die Angefragten nicht mehr, oder sie autorisieren das Interview nicht – ihre Aussagen sind für mich also nicht verwendbar. Den Leuten scheint es zu riskant, mit Journalisten zu sprechen. »Was habe ich davon, in einem Buch vorzukommen, wenn ich danach in Angst leben muss?«, ist ein Satz, den ich immer wieder höre. In meinem Umfeld sagen einige, dass die Türken endlich Widerstand leisten sollten gegen die Regierung – dann verdrehe ich innerlich die Augen. Denn was in den hiesigen Medien oftmals nur eine Schlagzeile ist, eine Zahl, das sind Menschen, die sehr viel zu verlieren haben – Aktivismus vom Wohlstandssofa aus zu fordern
ist doch arg ignorant.

 

Wenn es morgens früh um drei Uhr an der Tür klopft und ich sicher sein kann, dass es der Milchmann ist, dann weiß ich, dass ich in einer Demokratie lebe, so lautet eine Aussage des ehemaligen britischen Premierministers Winston Churchill. Weil es in der Türkei oftmals
nicht der Milchmann ist, der in der Früh an der Türe klopft, gilt: »I don’t want to have anything to do with the current president.«

Die gespaltene Republik

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