Ein paar Bemerkungen zum Lesen
Es lohnt sich, in Ezra Pounds ›How to Read‹ (1928) oder das berühmtere ›ABC of Reading‹ (1934) zu schauen. Ob frau oder man den darin enthaltenen Leseempfehlungen folgen mag, sei dahingestellt. Pound behauptet nicht, es gäbe einen ewigen Kanon. Dass etwas klassisch würde, heißt bei ihm, es bewahrt seine Frische. Es lohne sich, dies und das wegzulassen und anderes an seiner Stelle zu genießen. Er stellt fest, dass es Maßstäbe gibt und dass er sie kennt und danach auswählt. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Es gibt sie! Basta! Sie stehen nicht in der Zeitung. Sie haben auch nichts zu tun mit Kampagnen, die unter Umständen für Gedichtbände in unserem Land eine Murkel-Blase hervorbringen auf dieselbe Art und Weise, wie weltweit Monster-Blasen des Finanzmarkts entstehen. Jan Wagner klebt seit Frühjahr 2015 als Etikett vorne auf einer Kampagne. Möge es ihm und den anderen Betroffenen nicht schaden.
Vielleicht geht es um Maßstäbe, wenn Tomas Tranströmer stirbt, mit Nobelpreis, und das hie und da bei uns bemerkt wird (Freunde schrieben in den Zeitungen), oder 2009, als Inger Christensen starb (»galt jahrzehntelang als Kandidatin für den Nobelpreis«, höhnt es aus der Wikipedia), und dort, wo der Nobelpreisträger von 1980 ein Dichter von absolutem Weltrang (Czesław Milosz), die Nobelpreisträgerin von 1996, Wisława Szymborska, eine sicher feine polnische Dichterin war. Um wessen Maßstäbe sollte es jeweils gehen, wenn nicht um die eigenen? Leserin und Leser entscheiden selbst. Die Voraussetzung ist nur Lesen. Und dieses Lesen ist immer Hören, beginnend mit dem auf die eigene, innere Stimme, ganz physiologisch. »Poetry begins to atrophy when it gets too far from music«, warnt Pound, und fügt an: »Bach and Mozart are never too far from physical movement.« Das Gedicht ist ein körperliches Wesen. Lesen wird ihm gerecht als Hören.
Jetzt habe ich die Hälfte des Platzes verbraucht für Verweise. Ein paar werden sogar noch folgen! Das liegt an der Scheu, etwas zu gestehen. Ich persönlich bin ein ganz schlechter Leser. Ich träume mich durch ein Gedicht, die Aufmerksamkeit ist selten 100%. Ich hangle oft wie Tarzan von Zeile zu Zeile, will sagen, ich hänge auch Verbindungen von Wort zu Wort nach, die vorderhand nicht zu existieren scheinen, die ich selbst lesend herstelle. Ich hänge länger in den Lücken, oder ich fliege drüber hin, die Wenden des Versbruchs nehmen mich mit, an der Überraschung einer Redensart in einem sonst originellen Kontext halte ich mich auf. Ein Bruch, eine »Fügung«, ein ungrammatisches Beieinander, real oder von mir nur als solches gesehen, binden mein Interesse über Gebühr. Eine ironische Pointe bei Heinrich Heine (»Und ein Narr wartet auf Antwort.«) fixiert mich lesend und wiederlesend (im selben Gedicht die »Hieroglyphenmützen« sind ein großer Magnet!) für mein Lebtag. Ich erwähne Heine schon deshalb, weil ich den flüssigen Verse-Schreiber, diesen Verräter der hohen Muse, zum Zeugen brauche, dass es für das seltsame Tun dieses Lesens nicht der äußerlich schwierigen Schöpfung bedarf, weder des späten Rilke noch Saint-John Perse, weder René Chars durchaus hermetischer Partisanen-Texte aus den Marken noch, um die Kurve zu kriegen, der Cantos von Ezra Pound.
Ich tue mit den Cantos gelegentlich etwas, das aussieht wie Bibelstechen. Ich schlage sie an einer zufälligen Stelle, dem Beginn irgendeines der 118 Gesänge auf und beginne zu lesen. Ich mache allerdings keinen Gebrauch davon wie bei dem, irgendwie unerlaubten, Wahrsagen nach Bibelstellen oder den Zufallsoperationen mit dem I Ging, denen sich John Cage hingab. Ich lese, ich lese mich fest, ich lese lang oder kurz, überblättere Stellen, die mir unverständlich oder uninteressant sind, deren Englisch, Latein, Griechisch, Chinesisch mir nicht zugänglich sind, ich finde Worte, die ich nachschlage, verliere mich in Lexika, Wörterbüchern und sonstiger Verweisliteratur (auch mal in William Cooksons ›A Guide to the Cantos…‹). Soweit nicht schlecht, ein Luxus des Lesens, ein Anhalten der Welt, Stillestehen der Zeit, ein Eintauchen in Jahrtausende zwischen Ostasien und mythischer Unterwelt, in die Hallräume des universalen Denkens von Pound. Was mich herausreißt, ist das eigene Schreiben. Das macht nicht der große Zusammenhang, das macht auch nicht die Botschaft von der bösen Wirkung der Gier in der Welt in den Usura-Cantos, nicht die Flut von Zusammenhängen, die überwältigend un-nachvollziehbar bleiben wie ja auch jene der »Göttlichen Komödie«, wenn Leser/in nicht ab sofort das ganze Leben daran hängt und alles andere Gedruckte ignorieren will… Es ist die körperliche Berührung durch Worte.
Es kann sein, dass mir erst anhand von Pound (auch seiner Masken, seiner »Personae«) klar wurde, dass ich ohne Lesen gar nicht schreiben würde, nie geschrieben hätte. Jedes Gedicht scheint mir seit dem Blick durch diese Brille im Nachhinein und von nun an eine Frage zu sein, ein Hort, ein Mikrokosmos von Fragen, die zu beantworten ich jeden Tag antrete im eigenen Schreiben. Hier ist nicht die Rede von irgendwelcher Lektüre. Es geht um die echten Gedichte. Es lohnt nicht, die anderen zu lesen. Weder lohnt es sich, alle Zeitgenossen zu lesen, noch, alle toten Dichter zu lesen. Die Maßstäbe hast nur du, dein Gehör. Faszinierend, wie schnell es reagiert. Rasch sagt es: Nein, das ist nichts. Gern sagt es auch: Ja, davon bitte mehr. Manchmal im Laufe des Lebens wird so ein Ja wieder fragwürdig. Und manchmal wird aus einem früheren Nein ein Ja.
Hamburg, den 22. April 2015
Extras
Das Gedicht ist ein körperliches Wesen
Was passiert beim Lesen von Gedichten? Wie hängen Schreiben und Lesen zusammen? Uwe Kolbe über Worte, die uns berühren, über den Maßstab des Gehörs und das eigene Schreiben als tägliches Beantworten »echter« Gedichte.