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»Der Geist ist ein Virus«

Am 27. August 2020 jährt sich zum 250. Mal der Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Diesen Jahrestag nimmt Slavoj Žižek zum Anlass, um die Aktualität Hegels zu verdeutlichen – auch mit Blick auf die Corona-Pandemie.

Die Veröffentlichung meines Buchs über »Hegel und das verdrahtete Gehirn« ist verständlicherweise von der Covid-Pandemie überschattet worden – heißt das, dass Hegel nichts über Covid zu sagen hat und dass es keine Verbindung zwischen dem verdrahteten Gehirn und der Covid-Pandemie gibt?
Die These, dass der menschliche Geist selbst eine Art Virus sei, ist eine entscheidende These in der heutigen Kognitionswissenschaft. So polemisiert Daniel Dennett ausführlich gegen das sogenannte »Cartesische Theater«, die Idee, dass es im menschlichen Geist einen zentralen Punkt der Wahrnehmung/Entscheidung gibt, in dem alle einströmenden Informationen gesammelt, bewertet und dann in Befehle zu (Re-)Aktionen umgewandelt werden. Entlang der gleichen Argumentationslinie behauptet Richard Dawkins, dass Meme »Viren des Geistes« seien, parasitäre Entitäten, die den menschlichen Geist »kolonisieren und ihn als Mittel benutzen, sich selbst zu vervielfachen«. Es ist eine subtile Ironie der der modernen Ideengeschichte, dass der Erste, der einen Begriff des menschlichen Geistes als dezentriertes »Pandämonium« vorgeschlagen hat, niemand anderes als Leo Tolstoi war. Gewöhnlich wird Tolstoi für weniger interessant als Dostojewski gehalten – ein hoffnungslos überholter Realist, für den es in der Moderne keinen Platz gibt, im Gegensatz zu Dostojewskis existenzieller Seelenqual. Vielleicht ist jedoch die Zeit gekommen, um Tolstoi vollständig zu rehabilitieren, seine einzigartige Theorie der Kunst und des Menschen im Allgemeinen, in der wir einen Widerhall von Spinozas Begriff der imitatio afecti oder von Dawkins Begriff des Mems finden. 
»Eine Person ist ein Hominid mit einem infizierten Gehirn, ein Wirt für Millionen von kulturellen Symbionten, und ihr Hauptermöglicher sind die symbiontischen Systeme, die auch als Sprachen bekannt sind.« – Ist diese Passage aus Dennetts »Freedom Evolves« nicht purer Tolstoi? Die grundlegende Kategorie von Tolstois Anthropologie ist Infektion: Ein menschliches Subjekt ist ein passives leeres Medium, das von affektgeladenen kulturellen Elementen infiziert ist, die sich wie ansteckende Bazillen von einem Individuum zum anderen verbreiten. Und Tolstoi geht hier bis zum Ende: Er stellt dieser Verbreitung affektiver Infektionen keine wahre spirituelle Autonomie entgegen, er schlägt keine historische Vision einer Selbsterziehung zu einem reifen, autonomen ethischen Subjekt vor, indem man den ansteckenden Bazillus loswird. Der einzige Kampf findet zwischen guten und schlechten Infektionen statt: Das Christentum selbst ist eine Infektion, aber eine gute. 
Hier begegnen wir dem, was Hegel ein spekulatives Urteil nennt, die Behauptung der Identität von Höchstem und Niedrigstem. Hegels bekanntestes Beispiel ist der Satz »Der Geist ist ein Knochen« aus der Analyse der Schädellehre in der »Phänomenologie des Geistes«. Unser Beispiel sollte der Satz »Der Geist ist ein Virus« sein – wenn der menschliche Geist ein Netzwerk aus Viren ist, das wie ein Parasit das Tier Mensch für seine eigene Selbstreproduktion ausbeutet und ihn manchmal auszulöschen droht, begegnet uns dann hier nicht am höchsten Punkt der natürlichen Entwicklung eine seltsame Koinzidenz mit ihrem niedrigsten Punkt, den biochemischen Viren? Der Parasiten-Status des Geistes (d.h. das menschliche Universum der Bedeutung) wird durch seinen nichtpsychologischen Charakter bestätigt – Jacques Lacan prägte den Begriff des »Großen Anderen«, um den objektiven Status der Symbolischen Ordnung zu betonen, in der wir leben. Sprache ist kein Teil der Natur, sie ist allerdings auch eine normative Ordnung, die nicht auf unsere mentalen Prozesse reduziert werden kann. Eine andere Version dieser drei Ebenen wurde von niemand anderem als Karl Popper mit seiner Drei-Welten-Theorie vorgeschlagen (die Welt 3 ist Poppers Name für die symbolische Ordnung). Popper hat erkannt, dass die gewöhnliche Einteilung aller Phänomene in externe materielle Realität (von Atomen bis zu Waffen) und in unsere innere psychische Realität (unsere Emotionen, Wünsche, Erfahrungen) nicht ausreicht: Ideen, über die wir uns austauschen, sind nicht bloße flüchtige Gedanken in unserem Geist, da sich diese Gedanken auf etwas beziehen, das gleichbleibt, während unsere Gedanken vorüberziehen oder sich ändern (wenn ich 2+2=4 denke und mein Kollege ebenfalls, denken wir über das Gleiche nach, obwohl unsere Gedanken materiell gesehen verschieden sind; wenn in einem Gespräche eine Gruppe von Leuten über ein Dreieck spricht, dann reden sie irgendwie über das Gleiche usw.). Popper ist natürlich kein Idealist: Ideen existieren nicht unabhängig von unserem Geist, sie sind das Ergebnis unserer geistigen Operationen, sind aber trotzdem nicht direkt auf sie reduzierbar – sie besitzen ein Minimum an idealer Objektivität. Um dieses Reich idealer Objekte zu erfassen, prägte Popper den Begriff der »Welt 3«, und diese Welt 3 passt vage zur symbolischen Ordnung oder dem »großen Anderen«. 
Einige Linke beschwören hier eine weitere Parallele: Ist nicht auch das Kapital ein Virus, ein Parasit an uns Menschen, ist es nicht auch ein blinder Mechanismus, der auf ausgedehnter Selbstreproduktion in absoluter Indifferenz zu unserem Leid beruht? Es gibt hier jedoch einen wesentlichen Unterschied: Das Kapital ist eine virtuelle Entität, die nicht unabhängig von uns in der Wirklichkeit existiert – es existiert nur insofern wir Menschen am kapitalistischen Prozess teilnehmen. Als solcher ist das Kapital eine spektrale, geisterhafte Existenz: Wenn wir aufhören würden so zu tun, als würden wir an es glauben (oder wenn z.B. eine Staatsmacht alle Produktionskräfte verstaatlicht und das Geld abschafft), dann würde das Kapital zu existieren aufhören, während ein Virus Teil der Realität ist und etwas, mit dem man nur wissenschaftlich umgehen kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Verbindung zwischen den verschiedenen Ebenen der Viren-Entitäten gibt: biologische Viren, digitale Viren, das Kapital als Virus… Die Corona-Pandemie ist sicher nicht nur ein biologisches Phänomen, das Menschen betrifft: Um ihre Verbreitung zu verstehen, muss man die menschliche Kultur einbeziehen (Essgewohnheiten), Wirtschaft und globalen Handel, das dichte Netzwerk internationaler Beziehungen, ideologische Mechanismen von Angst und Panik.
Schließen wir also mit einem hegelianischen »Willkommen« für unsere Zeit der Viren: Alle großen Schlachten heutzutage am Beginn des 21. Jahrhunderts sind Viren-Schlachten. Der Geist ist ein Virus, ein Parasit am Tier Mensch, und sein Parasitentum wird mit der Aussicht auf ein verdrahtetes Gehirn noch gefährlicher, bei dem unsere geistigen Prozesse für den großen Anderen eines globalen digitalen Netzwerks direkt transparent und kontrollierbar werden. Biochemische Viren bedrohen unser Überleben; auf Covid folgen sicher andere und möglicherweise schlimmere Pandemien. Und, last but not least, das globale Kapital selbst ist ein gigantisches Virus, das uns unbarmherzig als Mittel für seine ausgedehnte Selbstreproduktion benutzt… Ja, unser Jahrhundert wird hegelianisch sein. 
 

Slavoj Žižek, geboren 1949, ist Philosoph, Psychoanalytiker und Kulturkritiker. Er lehrt Philosophie an der Universität von Ljubljana in Slowenien und an der European Graduate School in Saas-Fee und ist derzeit International Director am Birkbeck Institute for the Humanities in London. Seine zahlreichen Bücher sind in über 20 Sprachen übersetzt. Im ...

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