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Der grüne Mantel

Georges-Arthur Goldschmidt zum 90. Geburtstag. Ein Brief aus dem Lektorat.

Georges-Arthur Goldschmidt
© © Tobias Bohm

Seit über 25 Jahren darf ich Georges-Arthur Goldschmidts Bücher bereits als Manuskripte lesen. Es ist ein Privileg, das man mit Briefen beantwortet, oft ein wenig stammelnd und unsicher. Manchmal denkt man, man habe etwas verstanden, diskutiert mit seiner Lektorin Isabel Kupski, schickt den Brief los, und bekommt eine Antwort, die einem den Teppich unter den Füßen wegzieht: »Sie haben so vollkommen das eigentlich erstickende Heimweh herausgelesen über welchem man dahin treibt mit der Leiche einer verfehlten Kindheit die man lebenslang hinter sich her schleppt.« – Ein Satz, den in seinem messerscharf-hellen Licht nur George-Arthur Goldschmidt so hinschreiben kann. Herzlichen Glückwunsch, lieber GAG!
Hans Jürgen Balmes

Lieber GAG,

wie die angelehnte Gartentür auf einem Bild, das einen ein Leben lang mit der Frage begleitet, was dahinter zu finden sei, haben Sie mit den »Hügeln von Belleville« wieder ein Dazwischen geöffnet, von dem ich oft denke, dass unsere Welt die Aufmerksamkeit und die Ausdrucksmöglichkeiten dafür verliert. Denn wenn man die Tür einfach aufstößt, ist der Vogel, den man unsichtbar hinter der Mauer hat singen hören, verschwunden – man muss vorsichtig und geduldig sein und die Zwischenräume hüten, um sie in ihrem jeweiligen Moment zu fassen. Manchmal lauert man dem Augenblick ein Leben lang auf, so wie in ihrem Werk, das sich als große Folge von Annäherungen entfaltet – ein Leporello aus Schmerz und Scham, aus Verletzlichkeit und Zorn, der in eine Zärtlichkeit umschlagen kann, dass der Leser sich kaum traut, die Seite umzuschlagen.

Und diese Folge von Büchern, Szenen, Sätzen, Worten hat einen unabdingbaren Sog. Wie ich ihn im letzten Herbst in Berlin mit dem Blick auf die Manuskriptseiten von Kafkas »Prozeß« erlebte – ein Fluss, der vor sich selbst davonrennt, aber im Prozess seiner Entfaltung zu einer moralischen Instanz wird. Mit den Fingern will man die Buchstaben festhalten, die vor dem Leben zu fliehen versuchen und dieses doch wie Insekten auf ihrer scharfen Nadel fixieren.  

Rar ist diese Erfahrung, weil sich die Tür nur selten zum Spalt dieses Dazwischen öffnet und sich nur selten eine Sprache für den Ort findet, wo das Ich sich selbst begleitet, wie Sie sagen, sich selbst beobachtet und taxiert, und wo die Kleist’sche Marionette zu zappeln beginnt. Und so einen Angelpunkt für die Moral findet. Und das ist der Moment, um den Ihre Bücher kreisen und der sich so sehr unter die Haut der Leser bohrt.

Das Bestürzende an Ihren Büchern, wie wieder in »Die Hügel von Belleville«, ist jedoch nicht allein dieses Moment eines Dazwischen – sondern auf einer zweiten Ebene die besondere Verknüpfung mit Ihrem Leben, Ihrer Biographie. Und als Leser äußert sich diese für mich immer wieder als Ort einer doppelten Isolation – einmal durch das Heimweh des Kindes, das von den eigenen Eltern ins Ausland verschickt werden musste, um es vor den Nazis zu retten, und dann durch die Abscheu vor dieser alten Heimat, die sich zu einem Willkommen nicht aufraffen konnte, sie bleibt feindlich, fremd: Ein antagonistisches Spiel, das ewig am Laufen gehalten Exil heißt; es hat schon so manchen seiner Gäste aufgezehrt.

Wenn man dies als Leser miterlebt – und ein Miterleben ist es wieder in Ihrem neuen Buch –, wird es einem heiß und kalt. Denn das Störrische, Senkrechte, das sich in die Welt einschmiegen und in ihr verschwinden will, die grotesken Situationen, der Gombrowicz’sche Humor, das Sich-Ausliefern bis zur Selbstaufgabe als Überlebenstaktik, findet sich in der Konfrontation des französischen Soldaten Kellerlicht, ihres alter Ego, mit der deutschen Nachkriegsgesellschaft in Karlsruhe wieder. Es ist ein Einander-Verfehlen, eine fundamentale Unverständlichkeit, die aufgrund der uneingestandenen geschichtlichen Schuld der Deutschen sich perpetuiert.

Aber es gibt in dem Buch einen dritten Akt. Es tritt die Dame mit dem grünen Mantel auf, die Kellerlicht »von seinem Exil erlöst«. Es ist eine Pariserin, die Kellerlicht schließlich von sich selbst erlösen und ihm seine Situation als einsehbare verstehbar macht. Sätze wie, dass Liebe bedeutet, »zu fühlen wie die Geliebte existiert«, werden für mich als Leser zum »Sicherheitsgeräusch«. So wunderschön zart ist Ihre Erzählung auf den letzten Seiten, Ihre Schilderung, wie das Schleifen der Querstange an dem Schreibtisch zu einem »Heimatgeräusch« wird – einer Heimat, die man nur im Vorübergehen, im Nachfahren erleben kann.

Aber das beschreibt nur, was Sie viel besser wissen, denn Sie haben den Text ja erst erlitten, dann geschrieben. Und verzeihen Sie, wenn ich das aus Begeisterung wiederhole.

Was Ihre Bücher für mich zu einem so intensiven Erlebnis macht, hängt mit dem intensiven emotionalen Leseerlebnis zusammen, ist aber noch etwas anderes. Es ist Scham, die man als Deutscher bei der Lektüre empfindet. Einmal die, zu denen zu gehören, die das Heimweh verunmöglicht haben und aus der Wehmut einen scharfen, stechenden Schmerz werden ließen. Die Empfindung dieser tiefen Scham wird intensiviert durch die brennende Scham des jungen Kellerlicht, die zu der Selbstbestrafung führt, der er sich aussetzt und die man als Leser auf der eigenen Seele spürt. Und gleichzeitig merkt der Leser, dass seine Scham nie dieser Verwundung gerecht werden kann – was sie einmal mehr verstärkt.

Das ist die Lektion, die mich jedes Ihrer Bücher lehrt, aber so richtig verstanden habe ich es erst jetzt. Vielleicht durch die Wiederholung? Aber bestimmt durch den Ausgang, durch die Dame in dem grünen Mantel, den dritten Akt.

Haben Sie vielen Dank für diese Lektion, die sich nicht darin erschöpft, dass man denkt, sie gelernt zu haben, denn in jedem neuen Leser will sie wieder neu entdeckt werden.

Mit den allerherzlichsten Grüßen, auch an Ihre Frau im grünen Mantel!
Ihr Hans Jürgen

Georges-Arthur Goldschmidt, 1928 in Reinbek bei Hamburg geboren, musste als Zehnjähriger in die Emigration nach Frankreich gehen. Er lebt heute in Paris. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem Bremer Literatur-Preis, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet. Im November 2013 erhielt er den Prix de L’Académie de Berlin. ...
Zum Autor
  • Die Hügel von Belleville
    Georges-Arthur Goldschmidt

    Die Hügel von Belleville

    Schreiben bedeutet für Georges-Arthur Goldschmidt Überleben. Im Schreiben und Übersetzen entwirft er sich selbst, er wird zum Zeugen seines Ichs, das unter den Nationalsozialisten nicht sein durfte, aber schon immer einen großen Drang verspürt, etwas ...

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