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»Der Tod Jesu ist längst die Offenbarung«

Heute, am 09. Februar 2020, wird unser Autor J. M. Coetzee 80 Jahre alt. Wir gratulieren herzlich und teilen aufgrund dessen diesen Beitrag von Jan Wilm, der in der Neuen Rundschau 2020/1 erscheinen wird. Lesen Sie hier über Coetzees Werk und Schreiben. Happy Birthday!

COETZEES TRILOGIEN DÜRFTEN SIEBEN TEILE HABEN • COETZEES OFFENES OEUVRE • COETZEES VERSPRÖDUNG, ODER: ‹DIE WÜSTE WÄCHST› • COETZEES SPÄTSTIL KOMMT ZUR RECHTEN ZEIT • COETZEE SPIELT DAS LEBENSGEFÄHRLICHE SPIEL: LITERATUR

Das Ende liegt von Anfang an in der Luft in Der Tod Jesu (2019), dem dritten und letzten Teil der Jesus-Trilogie von J. M. Coetzee. Naturgemäß wäre es dem bis zu seinem nun 80. Geburtstag immer erfinderisch und experimentell gewesenen und gebliebenen Meister zuzutrauen, einer Trilogie noch einen vierten, einen fünften, einen sechsten Teil hinzuzufügen. Und Sieben ist doch auch eine biblische Zahl. Denn schließlich folgt auf den Tod die Auferstehung, auf die Auferstehung die Himmelfahrt und auf die Himmelfahrt die Offenbarung und Wiederkunft. Und schließlich endet das Johannes-Evangelium doch auch mit den Worten: »Es sind noch viele andere Dinge, die Jesus getan hat.« Andererseits, vielleicht bleibt es auch einfach bei den drei Trilogie-Teilen, denn wie das letzte Bibel-Evangelium weiterweiß: »Wenn aber eins nach dem andern aufgeschrieben werden sollte, so würde, meine ich, die Welt die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären.« (1)

Vorerst fasst die Welt die Bücher, die Coetzee verfasst hat. Seine Werke bieten jedoch so zahlreich Momente des Staunens, stecken derart voller gedanklicher und formaler Tiefe, voller Fallen und Rätsel, dass sowohl ihr Inhalt wie ihre Ästhetik eine Gewissheit transportieren: Ein vollständiges Erfassen dieser Werke ist unmöglich. Coetzees Romane sind Artefakte für die behutsame Überforderung ihrer Rezipienten, Werke, die dabei nie ausschließlich (oder ausgrenzend) verfremden, sondern die Lesenden zum Spiel mit der Literatur, zum Interpretierspiel, einladen, sie einspinnen, dabei aber immer das Ziel einer endgültigen Entschlüsselung verweigern. So macht Coetzees Literatur, wie vielleicht alles ernsthaft Literarische, deutlich, dass das Verstehen vielleicht das falsche Ziel des Lesens ist. Denn nach dem Verstehen wäre ein Buch vorüber; nicht nur vorüber, weil man es ausgelesen hätte, sondern weil man es ausgelöscht hätte, weil man seine irritierende und gedankenanregende Kraft stillgestellt hätte. Ein Buch, das verstanden werden kann, ist ein stillgelegtes, ein abgetötetes Buch. Ein Buch, das verrätselnd, provozierend, irritierend und Verwunderung wie Lust induzierend in den Leseköpfen weiterbesteht, ein solches Buch aber lebt ewig, wie Jesus.

Der Tod Jesu schließt eine Klammer, die mit Die Kindheit Jesu (2013) geöffnet wurde und mit diesem ersten Teil nun den zweiten, Die Schulzeit Jesu (2016), treffend umrahmt. Wie das gesamte Oeuvre des 1940 in Südafrika geborenen und heute in Australien lebenden Nobelpreisträgers sind die drei Jesus-Romane wunderlich und wunderbar verrätselte Gebilde, in denen man hermeneutisch herrlich spielen und auslegerisch ausgezeichnet wildern kann, es sind Romane, die zu einer lustvollen Interpretierpartie einladen, die einen beim Lesen fortwährend auf falsche Fährten führen und die Gedanken in neue, entlegene Denkecken hin ausädern und die Lesegedanken dort noch einmal weiter zurück in den Lesekopf verzweigen und vom Text Gedachtes zurückspiegeln – unreine Metaphern gibt es bei Coetzee zum Glück übrigens auch. Der oft sprachlich karg bezeichnete Coetzee bleibt seinem angenehm ruhigen Erzähl-Esprit auch hier treu: sicher und gemächlich drängt die Sprache voran und lässt hier und dort Raum für kleine Nischen aus Poesie und Schönheit.

Hier gibt es sie noch, die Literatur, die das Denken schützt und schätzt und das Denken befeuert und beflügelt, die moralische und politische wie poetische Fragen stellt, in einer Form, die sich ständig selbst reflektieren zu scheint, ohne dabei stofflich oder ästhetisch auch nur in irgendeiner Weise zu langweilen. Coetzees bisheriges Werk besteht aus vierzehn Fiktionen und drei autobiografischen Romanen (oder Memoirs), aus Kurzerzählungen sowie literaturwissenschaftlichen und essayistischen Texten. Coetzee sind Gattungsbezeichnen wie Memoir oder Roman, wie auch die Genregrenzen suspekt, und er nennt die Romane des autobiografischen Schlags »autre-biografisch«; heute würden manche vielleicht »autofiktional« dazu zu sagen.

Das wiederholte Lesen wird belohnt, und es scheint, für die meisten Lesetypen kann jeder beliebiger Coetzee-Text einen Eingangspunkt in ein unendlich offenes Werk bieten, ein Werk, das so weitreichend wirkt wie die Gedankengalaxien von Jorge Luis Borges. Anders als andere Autoren erstickt Coetzee das eigene Denken und das eigene Schreiben nicht und regt sie stattdessen ständig an, so wie philosophische Texte zum Weiterdenken und zum Weiterschreiben anhalten und anleiten, ermutigend Gedankenfelder eröffnen, die man reflexiv betreten kann, anstatt vor ihrer Weite zurückzuweichen. Coetzees Stil ist nicht erdrückend, seine Sprache nicht aufdringlich, seine Form subtil gestaltet, von feinen und das gesamte Werk durchziehenden Stilmerkmalen gekennzeichnet. Während die früheren Werke seinen überragenden Sprachschatz aber alles andere als verstecken, so sind die Jesus-Werke in einem Spätstil gestaltet, der die Sprache bisweilen »versprödet«, als kreiere Coetzee eine beinahe merkmallose Sprache, als solle – dies ist beinahe die gesamte Radikalität von Coetzees Spätstil –, als solle nicht einmal die Sprache, alles Werkzeug und alles Werkmaterial des Schriftstellers, der erzählten Geschichte und den aufgerufenen Gedanken im Wege stehen.

In den Jesus-Romanen erschafft er eine sprachliche Prärie, die wüstenähnlich in seine Lesenden hineinwächst. Lange Zeit kann man lesend durch diese flache, scheinbar unaufgeregte Wüste driften, nur um dann auf eine florierende Oase der Poesie oder des Gedankens zu stoßen und von lyrischen Früchten zu kosten. Dahinter verbirgt sich ein nicht risikoloses Spiel, denn die Aufmerksamkeit der Lesenden, die zur Literatur wegen der Ekstase der Poesie kommen, kommen manchmal seitenlang nicht auf ihre Kosten. Oder sind die Lesenden vielleicht bloß in einer Stimmung, die nicht subtil genug ist für die raffinierte Feinsinnigkeit dieses Autors, der jede Zeile lang mit einer kleinen Überraschung warten kann, schmunzelnd darüber, dass man lesend geglaubt hat, das Spiel sei langweilig? Kein Spiel, das es zu spielen wert ist, ist ein Spiel ohne Risiko, und das Lesen sollte doch zuallererst Spiel sein, und etwas des Riskanten beibehalten. Wer nicht weiterliest, verpasst das Spiel. Wer nicht weiterliest, verpasst den Tod.

Coetzee, der immer noch und immer zu Unrecht als bitterernster – und also nicht verspielter – Autor betrachtet wird, verwendete selbst häufig die Spiel-Metapher, wenn er über Literatur sprach, am prominentesten zuletzt in seinem Briefaustauch mit Paul Auster, als er über Heinrich von Kleist sprach:

Was Kleist betrifft, so unterstreiche ich jedes Wort, das Du gesagt hast. Wenn Du eine Seite Kleist aufschlägst, dann wird Dir klargemacht, dass es eine A-Liga von Schriftstellern gibt, die sehr wenige Mitglieder hat und wo das Spiel, das gespielt wird, sich sehr vom Spiel in der bequemeren B-Liga unterscheidet, an die man gewöhnt ist: viel härter, viel schneller, viel klüger, und es geht um viel mehr. (2)

Coetzee ist ein ernster Schriftsteller in der Hinsicht, dass er das Spiel, das man Literatur nennt, so ernst nimmt wie das Leben. In seinen Werken, vom ersten bis zum späten, geht es, vom Anfang bis zum Ende, immer um alles. Das Spiel, das er Kleist attestiert, ist ein hartes, schnelles, kluges Spiel mit hohem Risiko, weil es nicht bequem ist. Doch bei aller Klugheit, Schnelligkeit und Härte – es bleibt Spiel, aber ein lebensgefährliches Spiel, vielleicht so wie Kleists Klingstedt-Persona vielleicht Spiel, vielleicht Todernst war, selbst wenn ungewiss bleibt, was der Klingstedt-Kleist in Würzburg suchte.

Wie eine Persona, eine fiktionale Spiegelidentität, ist Coetzees Kunst die fiktive Abspiegelung der Wirklichkeit als Spiel. Dies legt seiner Literatur eine Bürde auf, indem seine Kunst stets bewusst darüber scheint, dass sie »nur« Spiel betreibt, aber gleichzeitig die gleiche Verantwortung trägt wie eine Aktivität in der so genannten Wirklichkeit. In einem Interview sprach Coetzee von seiner schriftstellerischen Position, die – ohne dass das Wort fällt – eine postmoderne Position genannt werden könnte, und er vergleicht diese Position mit früheren, im realistischen Modus Schreibenden, spricht darüber, wie seine Position für ihn mit »Pathos« besetzt ist, wenn er sich und seine postmodernen Schriftstellerkollegen und -kolleginnen beschreibt als Personen 

wie Kinder im Spielzimmer, dem Raum des textlichen Spiels, die wehmütig durch die Stäbe auf die verlockende Welt der Erwachsenen blicken, eine Welt, von der wir gelernt haben als die bloß unwirkliche Welt des Realismus zu denken, während wir nicht anders können, als von ihr zu denken als das Reale. (3)

Coetzees Romane sind Spielzimmer, Spielräume, in denen Handlungen, Ideen, Ansichten, Bilder und Welten erprobt werden können, die der so genannten Wirklichkeit prüfend gegenüber gehalten werden können, und obwohl es immer um alles geht, um Leben und Tod, ist der Coetzee’schen Textwelt immer auch diese Dimension des Wehmütigen beigemischt, dass all dies, alles in diesem textlichen Raum des Spiels, nicht real ist, sich dabei aber genauso real anfühlt, als träume man, wissend, dass man träumt, dabei aber unfähig ist, sich in den Wachzustand zu reißen.

In einem anderen Interview bezeichnet Coetzee das Spiel als ein wesentliches Merkmal des Menschen, und eines der wesentlichen Merkmale des Spiels ist ein Maß des Als-Ob, der Fiktion, des Fiktionalisierens, des Fiktionalen. Dieser Ansicht folgend, ist ein wesentliches Merkmal des Menschen sein Bewusstsein für fiktionalisierende Aspekte seines Daseins, seines Denkens, seines Handelns, seines Menschseins. Ein Teil des Menschen, mit seiner ihm eigenen Vorstellung, seiner ihm eigenen Imagination einer Zukunft und Rückrufung einer Vergangenheit, ist die Fiktion, das Erzählen von Geschichten. Es war einmal bis dann leben sie noch heute.

COETZEE ERZÄHLT GESCHICHTEN VON GESCHICHTEN • NIEDER MIT DER HEGEMONIE DER EINZIGEN LESART • BEKÄME JESUS HEUTZUTAGE RITALIN? • APROPOS APOKRYPHEN • DIE KRANKHEIT JESU

Das Buch Der Tod Jesu ist ein Buch vom Geschichtenerzählen, eine Erzählung über die größten Fragen der Menschheit – warum bin ich hier, wohin gehe ich, wer bin ich, was ist ein Mensch etc. –, und es ist ein Buch über die Gewissheit, dass das Stellen dieser Fragen, bei aller existenziellen Ernsthaftigkeit, ein Spiel ist.

Der Roman beginnt mit einem Spiel, mit einem bequem daherkommenden Spiel an einem langen, leichten Nachmittag, an dem das Ende schon längst ganz sanft in der Luft liegt. Vom ersten Satz an ist die Zeit längst beschnitten, erntet ihr Sterben, das Jahr altert: »Es ist ein frischer Herbstnachmittag.« In der Mitte der Dinge, in der Mitte des Spiels, beginnt der Roman: »Er befindet sich auf der Rasenfläche hinter dem Wohnblock und schaut einem Fußballspiel zu.« Wie seit seinem Roman Der Meister von Petersburg (1994) ist das Präsenz und das Erzählen aus einer dritten, den Lesenden nahen Person heraus auch hier Coetzees erkennbares erzählerisches Mittel. 

Gewöhnlich ist er der einzige Zuschauer bei diesen Spielen, die zwischen den Kindern aus dem Block ausgetragen werden. Doch heute sind zwei Fremde stehen geblieben, um auch zuzuschauen: ein Mann in einem dunklen Anzug und an seiner Seite ein Mädchen in Schuluniform. 

Ohne zunächst einen Namen zu erfahren, weiß man durch die vorherigen beiden Teile, dass es sich bei diesem Er um Simón handeln muss, einen mittlerweile nicht mehr nur mittelalten Mann, in dessen Obhut sich ein Kind namens David befindet. Und da dieser kleine David die – außer im Titel – niemals explizit genannte Jesu-Spiegelfigur darstellt, ist es nicht verwunderlich, dass das noch unbekannte Wort ER erst im folgenden zweiten Paragraphen dieses Anfangs annähernd Kontur gewinnen wird, und zwar durch seine Nähe zu David, also – wie es sich im Fußball gehört – über Bande. 

Der Ball fliegt zum linken Flügel, wo David spielt. Er stoppt den Ball, hängt den Verteidiger, der sich ihm entgegenstellen will, mühelos ab und hebt den Ball in die Mitte. Da keiner ihn abfängt, auch der Torwart nicht, überquert er die Torlinie. (4)

David schießt den Ball nicht nur in die Mitte des Tores, er steht, nicht nur weil sein Name der erste ist, der in diesem Roman fällt, in der Mitte seiner Welt, wie der Roman aufs Überraschendste und dabei dennoch als logische Fortführung der Serie vorführt. Er, Simón, hingegen, er ist ohne David nichts, nicht mal ein Vater. Allerdings ist er auch mit David kein Vater, nicht ganz.

Wie im ersten Teil Die Kindheit Jesu verdeutlicht wird, ist Simón nicht Davids leiblicher Vater, sondern ein Vormund. Die beiden wurden einander zugewiesen, als sie in die neue Welt von Novilla kamen, dem Handlungsort des ersten Jesus-Romans und ein Nachbarort des dritten Romans, der in Estrella spielt. Die Idee der drei Romane basiert auf einem zu gleichen Teilen symbolischen oder realistischen Neuanfang. Von Grund auf geht Coetzee spielerisch vor, indem er seine Sprache immer vage und doppeldeutig hält, wenn Die Kindheit Jesu erzählt, dass David und Simón einen Ozean überquerten und in ein neues Land gekommen sind, dass bei der Überfahrt ihre Erinnerungen gelöscht wurden und sie in dem neuen Land ein neues Leben beginnen. Im ersten Romanteil machen sie sich auf die Suche nach Davids Mutter, und finden eine junge Frau namens Inés, die von Simón zur Mutter des Jungen erklärt wird, und die die Rolle etwas widerwillig, aber schließlich zufriedenstellend annimmt.

Schon hier wurde deutlich, dass das eigentliche Spiel ein postmodernes ist, ein Zerschneiden, ein Neu-Mischen und schließlich ein Erneuern des Jesus-Mythos, mitsamt Auslassungen, Verfremdungen und Zuschreibungen. Die bibeltreue Lesart lässt immer wieder erstaunliche Parallelen zwischen den Evangelien und den Romanen zu. So ist Simón zum Beispiel nicht Davids »leiblicher« Vater, eben wie Gott nicht Jesu »leiblicher« Vater ist, sofern das Wort LEIBLICH sich auf das lebensweltlich Materielle der jeweilig Gemeinten bezieht. Und Inés ist eine jungfräuliche Mutter, eben wie Maria eine jungfräuliche Mutter ist, da sie beide ohne leibliche Liebe zu einem Kind gekommen sind. Doch ist Simón letztlich weniger Gott denn Jesu Vormund in den Romanen und die Familie um David, Inés und Simón eher eine Familienanalogie um den baldigen Christus, Maria und Josef.

Alle Romane Coetzees sind immer mehr als ein Gefäß für eine einzige Lesart. Sie entwischen dem klammernd interpretierenden Griff des Einzigen und lassen weitere, auch gänzlich konträre Lesarten zu. So können die Jesus-Romane als Neuinterpretationen des Jesus-Mythos gelesen werden, oder aber auf realistischere Weise als Erzählungen um einen widerspenstigen Jungen und seine (mehr oder weniger) Adoptiveltern. Einen Moment noch aus der biblischen Warte heraus lesend, könnte man Coetzees Jesus-Erzählungen betrachten als Apokryphen, nicht unähnlich vielleicht dem Kindheitsevangelium nach Thomas, das Jesus als ein unbändiges Kind zeigt, ein Kind, das David viel ähnlicher ist als der kanonische Bergpredigt-Jesus, der Lazarus-steh-auf-Jesus, der Schmerzensmann-Kirchenjesus. Die Apokryphen füllen Lücken und werfen Fragen auf zur Kindheit Jesu sowie zu seiner Familiengeschichte, welche in den Evangelien unbeantwortet bleiben oder gar nicht erst gestellt werden, während das spätere Leben Jesu klerikal und apokryphal weit umfassender erzählt ist. Vielleicht ist es daher kaum verwunderlich, dass sich Coetzees Jesus-Romane eher den lückenhaften Jesu-Erzählungen zuwenden, jenen um seine Kindheit – sofern man die Jesus-Romane als mit der christlichen Jesus-Figur in Verbindung bringen möchte, was nicht zwingend notwendig, wenngleich durch den Titel direkt provoziert und durch textliche Versatzstücke möglich gemacht wird.

Die drei Romane, verfasst auf Englisch, spielen in einer Welt, in der Spanisch gesprochen wird, und immer wieder werden Fragen des Übersetzens aufgeworfen, zum einen Fragen des nautischen Übersetzens, was durch das Übersetzen eines Schiffes thematisiert wird, aber deutlicher auch des literarischen Übersetzens, wie wenn David in Die Kindheit Jesu eine verballhornte Version von Goethes »Erlkönig« singt und insistiert, dass der auf Deutsch abgedruckte Text nicht deutsch, sondern englisch sei. Dies legt die mögliche Interpretation nahe, dass die Jesus-Romane, die wir lesen, vorgeben, übersetzte Texte zu sein, und dass die Inkonsistenzen zwischen der geschilderten Welt und dem Jesus-Mythos möglicherweise auf übersetzerische Ungenauigkeiten oder Überlieferungsfehler zurückzuführen sind. Als Gedankenexperiment rückt diese mögliche Lesart sogar die explosiven Titel der Trilogie in ein anderes Licht, und es wäre vorstellbar, dass eine fiktive Herausgeberfigur die Manuskripte der Romane gefunden und ihnen nahelegende Titel gegeben hat, so wie Max Brod die Erzählungen und Romane Franz Kafkas meist den Handlungen nach betitelte.

Eine Kernfrage der Handlungen aller drei Romane lautet: Ist ein Kind ein Kind ohne einen Vater, ist ein Vater ein Vater ohne ein Kind? Diese Frage, die bereits in Die Kindheit Jesu umrissen wird, wird im dritten Roman mit logischer Konsequenz weiterverfolgt und auf Handlungsebene durch Auftauchen eines Waisenheims abermals gestellt, diesmal direkter.

Während der drei Romane vergehen etwa vier Jahre und David ist im dritten Teil mittlerweile zehn Jahre alt. Immer hat er seine zusammengesetzte Familie auf kindlich direkte Weise reflektiert, in Frage gestellt oder gegen sie rebelliert. Nun ist er – ganz anders als seine empörten Adoptiveltern – der Überzeugung, er sei ein Waisenkind und sollte deshalb am ehesten mit den anderen Waisen in Los Manos leben, dem »Waisenheim auf der anderen Seite des Flusses«. (5) Der liebevolle, kluge, aber immer etwas schalkhafte, etwas verhätschelte David kommt bald zu seinem Wunsch und lebt zeitweilig in Los Manos (Spanisch für die Hände), wo er mit den anderen Kindern Schulunterricht erhält und erfolgreich Fußball spielt, da er, wie sich herausstellt, ein sehr guter Spieler ist.

In Los Manos sind es aber nicht eigentlich Davids Hände, die zentrale Bedeutung bekommen, sondern seine Beine. Denn kurz darauf setzt bei David eine geheimnisvolle Krankheit ein, die ihn wortwörtlich zu Fall bringt. Die Ärzte sind lange ratlos, diagnostizieren abwechselnd eine Infektion oder eine neuronale Krankheit: »Ganz plötzlich hatten David die Beine versagt, und er hatte sich der Länge nach ausgestreckt auf dem Boden wiedergefunden, als hätte ihn eine riesige Hand niedergeschlagen.« (6) 

Als Meister der äußersten Sprachgenauigkeit ist Coetzee der Ausdruck als hätte ihn eine riesige Hand niedergeschlagen nicht einfach unterlaufen. Denn Coetzees drei Bücher sind auch eine Moraltrilogie, die sich mit Dostojewski’scher Intensität in Fragen von Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe hineinbohren, und es weht über allem die Frage, ob David, ob die kleine Kompositumfamilie, ob David selbst, für etwas betraft wurde, etwa für Davids Transgression, seine Eltern zu verlassen, und ob diese Bestrafung von irgendeiner Kraft in der Romanwelt vollzogen wird, etwa von der Institution des Waisenhauses.

Von nun an lebt David aber im Krankenhaus. In den folgenden drei Vierteln des Romans verfolgt Coetzees größtenteils objektiv und trocken berichtende Erzählerstimme die rapide Verschlechterung von Davids Zustand, er wird unselbständiger, sein Körper wird schwächer. 

Zum ersten Mal fällt ihm, Simón, auf, dass die Krankheit wirklich ernst sein könnte. Unter dem blauen Krankenhaus-Schlafanzug wirkt der Junge erbärmlich abgemagert – er, der erst vor Monaten wie ein junger Gott übers Fußballfeld lief. Sein Gesicht hat einen nach innen gekehrten, abwesenden Ausdruck […]. (7) 

Durch Davids Erkrankung und seinen sich zerbröckelnden Gesundheitszustand, der sich als körperliche Transformation niederschlägt, erscheinen auch Simón und Inés in anderem Licht, zeigen beide ungesehene geistige und emotionale Kräfte in der Unterstützung des Jungen. Die beiden Figuren, die in den vorherigen Teilen als fad oder farblos gezeigt wurden, zeigen sich hier als willensstark und energische Eltern.

DER TROST DER FIKTION • KANON-FUTTER, ODER: WELT OHNE JESUS • ALLES SCHREIBEN, ALTES SCHREIBEN • ‹ICH BEKENNE MICH FREI ZUM VERBRECHEN DES NICHTVERSTEHENS› • DIE HÖCHSTE FORMEL DER BEJAHUNG

Coetzees drei Jesus-Romane sind Schaltstellen. Zum einen stehen sie in komplexer Weise in Verbindung mit Coetzees vorangegangenem Gesamtwerk und entwickeln inhaltliche wie ästhetische Spezialitäten seines Werks weiter; sie führen beispielsweise die intertextuellen Spiele von vorherigen Werken fort und verweisen direkter auf philosophische Themen, die sein gesamtes Oeuvre durchziehen. Auch wird eine Art blutsverwandtschaftlicher Nähe zwischen Figuren der Jesus-Romane und seinem Frühwerk erkennbar. Zum Beispiel ist es der Wunsch eines Jungen im Waisenhaus, Gärtner zu werden. Coetzee-Maniker werden sich freuen, weil sie subtil an die Zeit und das Leben der Hauptfigur aus Leben und Zeit des Michael K (1983) erinnert sein mögen, da die Figur mit dem Kleist’schen Namen ebenfalls in einem Waisenhaus lebte – obwohl auch er eine (zeitweise nicht für ihn sorgende) Mutter hatte – und eben jenen floralistischen Beruf ausübte, mit ganz wundersamen Folgen. Als Weiterentwicklungen betrachtet, sind die Jesus-Romane sowohl Rückkehr zum Vorangegangenen als auch Weggang zu neuen literarischen Möglichkeiten. Schaltstelle nach vorn wie zurück, Schlüsselloch ins Werk wie in die Welt.

Dieser Charakter der Jesus-Trilogie kommt aber am deutlichsten zum Vorschein, da die Romane auf fragmentarische, angedeutete und opponierende Weise literarische Urtexte – oder Ur-Textkomplexe – in ihre Mitte ziehen, sie aufnehmen und dekonstruieren. Die Jesus-Romane stehen direkt oder indirekt in Verbindung zu diesen intertextuellen Leitsternen und schauen immer wieder verweisend oder verfremdend auf sie. Die Bibel nicht allein als Buch, sondern als Buch der tausend Bücher, als Bibliothek gesammelter Geschichten, sie steht im Zentrum der Trilogie, ohne auch nur ein einziges Mal wortwörtlich genannt zu werden. Die Text-Komplexe der biblischen Evangelien sowie ihrer Apokryphen werden ebenso aufgerufen und formal und inhaltlich thematisiert wie Miguel de Cervantes‘ Don Quijote von der Mancha, jene Bibel der literarischen Erzählmöglichkeiten, die der kleine David seit dem ersten Teil in einer kindgerechten, »bebilderten Ausgabe« (8) liest und wiederliest, bis er die Geschichte um den topfbehelmten Mann von der Mancha auswendig kennt und – in dann also mehrfach vom Original entfernten Form – anderen Kindern nacherzählen kann.

Ein Hauptinteresse der Trilogie, wie auch von Coetzees Oeuvre davor, gilt der Thematik und der Theorie des Erzählens, der Bedeutung von Geschichten – eher als (historischer) Geschichte – sowie dem Lesen und Nacherzählen des Gelesenen. Im dritten Trilogie-Teil wird der stets als etwas fantasielose, etwas fiktionsfaule, immer als zu rational angesehene Simón schließlich selbst zu einem Geschichtenerzähler – aus Not. Im Krankenhaus, allein und verunsichert von seiner Krankheit, scheint es für David von größter Wichtigkeit, sein Exemplar des Don Quijote für Kinder im Hospital bei sich zu haben. Als sich Simón und Inés von ihm verabschieden ist die Anweisung des Jungen klar: »Sie sollen Don Quijote mitbringen, trägt er ihnen auf.« (9) Sein Wille sei ihnen Befehl.

Nach kurzer Zeit im Krankenhaus schart David schon bald eine kleine gebannte Gefolgschaft von Kindern aus dem Krankenhaus und aus dem Ort um sein Bett, die zu ihm pilgern, um seine Botschaften zu hören: Pastiche-Erzählungen über Don Quijote, die mit biblischen Motiven aus der Offenbarung und dem 2. Buch Mose angereichert sind.

Don Quijote (und Don Quijote) ist zum Zentrum von Davids Leben geworden. Dieses Buch war es, mit dem er sich nach der Ankunft in Novilla das dort gesprochene Spanisch beigebracht hat, und nun betrachtet er den Hidalgo Alonso Quijano als Leitstern. Das Erzählen von Geschichten um Don Quijote dient ihm in Zeiten seiner Krankheit als Unterhaltung, als Zeitvertreib, aber auch als Zeitaufschub, als Rettung aus einer misslichen Lage und vor allem als Trost – ähnliche Funktionen also, die das Erzählen in Cervantes‘ Don Quijote von der Mancha und für Cervantes‘ Alonso Quijano/Don Quijote erfüllte.

Wenn die Kinder vom Fußende von Davids Bett verschwunden sind und im Krankenhaus Ruhe eingekehrt ist, ist es meist Simón, der bei dem Jungen bleibt, seinen Geschichten zuhört, seine Fragen zu beantworten versucht und dem Kind selbst Geschichten erzählt. Wie in den anderen Teilen hat das Kind mitunter Bedürfnisse, die in biblischer Hinsicht höchst symbolisch aufgeladen sind, selbst wenn Coetzee darauf achtet, dass für alle diese Bedürfnisse und Wünsche des Jungen immer auch dramaturgisch und realistisch motivierte Gründe innerhalb der literarischen Welt existieren. Als der Junge im Krankenhaus den Wunsch äußert, ein Lamm mit dem Prophetennamen Jeremia bei sich zu haben, wird das symbolische Bibeltier erzählerisch erklärt als ein Haustier, das in der Tanzakademie, die David in Die Schulzeit Jesu besuchte, gehalten worden war und für David wie ein Übergangsobjekt fungierte, das es dem Jungen erleichtert, in der neuen, kalten Umgebung etwas Trost zu finden. Dass das Lamm in der Bibel selbst ein Tier des Übergangs, der Verwandlung ist, ist ein bedeutungsreicher Nebeneffekt, der auf andere Weise den Schaltstellen-Charakter des Romans aufnimmt.

Als das Übergangstier Jeremia aber nicht sofort zu David gebracht werden kann, schenkt Simón ihm stattdessen zwei Spatzen. Sperlinge, die nach dem Lukas-Evangelium zwar nicht gerade High-end-Geschöpfe, aber vor dem Herrn dennoch nicht vergessen sind. David ist wenig begeistert von den unterwältigenden Vögelchen, und erstaunlicherweise gibt sich der sonst völlig rationale Simón nachfolgend einer kleinen Spielerei hin, einem Moment der Fiktion, nebensächlich und doch bedeutungsvoll. Denn er fragt David, ob er nicht hören könne, was die Spatzen sagten, worauf David die Stimme der Vernunft annimmt und betont, sie sagten überhaupt gar nichts. Au contraire, meint Simón: »Der berühmte David! Der berühmte David! Das sagen sie, wieder und wieder, in ihrer eigenen Sprache.« (10) 

Kurz darauf bläht sich die Verunsicherung des Kindes zu ausgewachsener Angst auf. Seine Vorstellungswelt ordnet sich jetzt auf die Zeit nach seinem Tod hin. In zunächst gewohnt rationaler Manier lehnt Simón diese Vorstellungswelt mit vernünftigen Argumenten ab und versucht, Davids Imagination durch eigene Vorstellungen zu entkräften. Er malt dem Kind aus, wie sein zukünftiges Leben aussehen könnte, er schenkt dem Jungen eine Vorstellung einer Zukunft im Leben:

Vielleicht solltest du ein weiser Mann sein statt ein Lehrer. Um ein weiser Mann zu sein, brauchst du nicht zur Schule zu gehen. Du kannst dir einfach einen Bart wachsen zu lassen und Geschichten erzählen; die Menschen werden dir zu Füßen sitzen und zuhören. (11)

Selbst wenn der Junge nicht auf Simóns spielerisch-spöttisch gemeinte Zukunftsvision eingeht, selbst wenn Simóns Versuch nicht erfolgreich ist, so begegnet Simón Davids Todesvorstellungen doch mit einer bemerkenswerten Prise Fiktion. Vorher war seine Ansicht eher, die Hirngespinste des Jungen durch Vernunft abzuschwächen. Nun sind die Dinge dabei, sich ganz gemächlich und sehr subtil zu verändern. Simóns Fiktionstoleranz steigt genau entgegengesetzt zu Davids sich verschlechternder Gesundheit, zu Davids Furcht vor dem eigenen Tod.

In diesen dunklen Stunden des Kindes gönnt Simón dem Jungen etwas Fiktion als Trost, wodurch explizit erneut eines der Zentralmotive von Don Quijote aufscheint: das Erzählen als lebensnotwendige Spielerei, so notwendig, wie das Erzählen von Geschichten für die Erzählenden und Zuhörenden des Dekameron ist, so lebensnotwendig, wie es für Scheherazade ist. Neben der tröstlichen Dimension von Simóns Fiktionstoleranz ist in seinem spielerischen Erzählen aber noch eine weitere, dunklere Triebkraft am Werk. Seine neue, viel nachsichtigere Hingabe, sich kleinere Fiktionen für Davids zukünftiges Leben auszudenken, zeigt nicht nur den Ernst der Lage um David, nicht nur wie bitter nötig er diesen Trost hat. Angedeutet zeigt sich darin auch, dass das Kind keine Zukunft hat. Die konsequente Beharrlichkeit, mit der Coetzees Erzählung das Kind seiner Verschlechterung entgegentreibt, streicht die Zukunft des Kindes und alles, was darüber zu sagen ist, in die Ungewissheit und vielleicht ins Belanglose über. Es ist egal, welche Fiktionen Simón diesem Kind über sein zukünftiges Leben erzählt, denn es wird dieses zukünftige Leben nur geben im Tod.

Weil der Name »Jesus« eine lange kulturelle und speziell literarische Bedeutungsgeschichte besitzt und die Zukunft des Nazareners, selbst für nicht bibelfeste Leserinnen und Leser, kaum ganz zuversichtlich stimmt, erscheint auch die Zukunft der Jesus-Figur David nicht ideal. So wirkt Simóns Akt des Trostes nicht allein wie eine nette Geste der Ermutigung, sondern wie das Stiften einer Fiktion.

Wir wissen, was mit David geschehen wird, der Titel des Romans lässt kaum Zweifel. Wie Tod eines Handlungsreisenden – spoiler alert: Es geht wirklich nicht gut aus. Kein: Und wenn sie nicht gestorben sind. Nur: Es war einmal. Nichtsdestoweniger, beim Lesen bestehen doch immer Momente des Zweifels. Weil der Junge eben nicht Jesus heißt, sondern David, und weil Coetzee keine exakte Analogie schreibt, sondern Versatzstücke des Jesus-Mythos verwendet, um eine imitierende und verfremdete Annäherung an die Evangelien und Apokryphen kreiert, die durchsetzt ist mit Cervantes-Anleihen – eine Pastiche wie David selbst sie erzählt. Darin liegt vielleicht das größte Kunststück dieses Romans: Der Tod »Jesu«, der Tod Davids, kommt als unerträglicher Schock, da die gesundheitliche Verschlechterung des Jungen zwar rapide, aber doch stufenweise, graduierlich und nach und nach erzählt wird – sein Tod kommt, wie jeder Tod, zu plötzlich, und wo wir es zuvor gewohnt waren, einschneidende Erlebnisse des Jungen direkt erzählt und gezeigt zu bekommen, sie mit ansehen zu dürfen, geschieht sein Tod gewissermaßen hinter der Bühne, was ihn dramaturgisch umso durchschlagender macht: 

Weil das Krankenhaus eigene Kriterien dafür hat, wer in einem Ernstfall kontaktiert werden sollte, werden er und Inés nicht an Davids Bett gerufen, als sein Herzschlag unregelmäßig und seine Atmung mühsam wird und die Ärzte sich auf das Schlimmste vorbereiten. Stattdessen wird ein Anruf zum Büro von Dr. Fabricante im Waisenheim durchgestellt und von dort zu Schwester Luisa auf der Krankenstation. Schwester Luisa ist gerade mit einem Jungen beschäftigt, der Kopfgrind hat; als sie im Krankenhaus ankommt, ist David schon für tot erklärt worden, die Todesursache muss noch festgestellt werden […]. (12)

Der Tod bestürzt so sehr, weil David eben nicht ganz Jesus ist, weil er eben doch eine Jesus nicht in jederlei Hinsicht imitierende und gleichende Figur darstellt, sondern eine eigenständige Fiktion und deshalb stets Hoffnung bestand, er müsse nicht sterben. Doch Fiktion sterben auch. Aber selbst wer David als direkte Jesus-Analogie liest, wird seinen Tod nicht in Davids Kindheit erwarten, vor den Wundern, vor dem Verrat, vor der Verurteilung.

Für die Figuren der Romanwelt kommt der Tod des Kindes auf ebenfalls unerwartete, schockierende Weise, auf eine Weise, die mit dem Eindruck der Lesenden in Verbindung steht, sich davon aber doch entschieden unterscheidet. Denn die Figuren der Romanwelt sehen den Tod der Jesus-Figur David nicht kommen, denn sie sind uns Lesenden in einer Sache unterlegen: Sie kennen Jesus nicht. Zwar leben sie in einer uns verwandten Welt, doch ist diese Welt erstaunlich unchristlich – was in diesem einen Fall ausnahmsweise mal nichts Gutes verheißt.

Die Welt von Novilla und Estrella, in der die Figuren leben, ist eine unreligiöse Welt, eine Welt, die religiös sinnentleert ist, in der zwar hier und dort Spiritualität aufschimmert, die bezüglich jüdisch-christlicher Kanontexte der Bibel sowie des Jesus-Mythos aber völlig im Dunkeln gehalten ist. Die Verweise auf Jesus in der Trilogie sind auch deshalb so frappierend, weil man beim Aufspüren und Ausrätseln dieser Verweise im Wesentlichen gegen die Figuren der fiktionalen Welt liest, weil man eine Textkenntnis besitzt, mit der man sich ihre Welt erklären kann, die den Figuren selbst aber völlig fremd bleibt.

Formal führt der Text vor, wie eine Welt aussieht, die ihre Textgrundlage verloren hat, wie sehr Figuren im Dunkeln einer Welt tappen, in deren Zentrum keine Texte stehen, wie eine Welt aussieht, für die Texte nicht (mehr) zentral sind. Coetzee zeigt dies anders als auf die plakative, wenn nicht weniger unbedeutende, dystopische Weise von Ray Bradburys Fahrenheit 451 (1953) oder Margaret Atwoods Der Bericht der Magd (1985) und Die Zeuginnen (2019). Coetzee arbeitet subtiler und lagert die Unwissenheit der Figuren aus in die Erfahrungen seiner Leserinnen und Leser, einmal ex negativo, als das Gegenteil – Warum wissen sie denn nicht, was mit ihrem Jesus-Jungen noch alles passieren wird? – und schließlich als Ungewissheit – Sind dies Parallelen zu Jesus und wenn ja, welche Bedeutung haben sie für diesen Text?S

Seit seinen frühesten Arbeiten setzt sich Coetzee mit der Bedeutung und der Problematik kanonischer Texte auseinander, zum Beispiel in Mr. Cruso, Mrs. Barton und Mr. Foe (1986) mit Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) oder in Der Meister von Petersburg (1994) mit Fjodor Dostojewskis Böse Geister (1873), und nun, in der Jesus-Trilogie mit dem wesentlichen Zentrum des westlichen Kanons. In einem Radio-Interview von 2000 wurde Coetzee einmal gefragt, welche Schriftstellerinnen und Schriftsteller er für »essentiell« erachtet. Coetzee antwortet: 

Ich meine, wir sprechen vielleicht über den Kanon, und stellen vielleicht die Frage, ob es Schriftstellerinnen oder Schriftsteller oder literarische Werke gibt, die so, so, so wichtig sind, dass sie über kanonischen Fragen stehen. Und dann, als jemand, der letztlich, meine ich, der westlichen Kultur entstammt, auch wenn wir hier in Afrika miteinander sprechen, müsste ich sagen, dass die Bibel oder einiges aus ihr in dem Sinne essentiell ist, dass es wichtiger ist als lediglich kanonisch zu sein; in dem Sinne, dass es absolut grundlegend ist. (13)

Die Bedeutung Jesus-Trilogie geht weit über etwaige Parallelen zwischen Coetzees drei Romanen und den Evangelien und Apokryphen hinaus. Die intertextuelle Beweissuche für ein empirisches Zusammenklauben von Gemeinsamkeiten ist zwar kein uninteressanter Ansatz für die Lektüre und trägt ganz sicher reife Früchte. Hintergründig aber erforschen die Romane weit bedeutendere, weit größere Themen. Neben großen existenziellen (und metaphysischen) Fragen nach dem Sinn des Lebens – wer bin ich, warum bin ich hier, woher komme ich, was geschieht nach meinem Tod etc. – stellt der Roman implizit die Frage: Wie sähe eine Welt aus, wie sähen die emotionalen und ethischen und ästhetischen Lebenswelten von Figuren aus, wenn diese Welt und die Seelen dieser Figuren textentleert wären, wenn sie keinerlei Kenntnis über literarische und kanonische Traditionen hätten?

Einerseits ist das sich ergebende Bild dieser Welt ein rundum negatives, das man kulturpessimistisch deuten kann, selbst wenn der Kulturpessimismus auch nicht mehr das ist, was er mal war. Alte Texte, alle Texte, gehen verloren, die Unbelesenheit greift unbändig um sich, Cordelia, Kreon, selbst Binx Bolling streifen unlängst unerkannt durch gegenwärtige Texte und Köpfe, und Jesus, Maria und Josef sind bald vielleicht auch bloß verweislose, verwaiste Zeichen. Die Literatur verliert ihr Fundament, ihren Grund. Andererseits deutet Coetzees Einsatz von intertextuellem Material Positives – oder besser Produktives – an. Zum einen sind seine Romane auf ertragreiche Weise lesbar durch den intertextuellen Hallraum, den sie für jene erzeugen, die noch lesen (können). Andererseits wird für eine zukünftige Literatur Novillas und Estrellas – aber implizit auch für unsere so genannte wirkliche Welt – ein Schreiben denkbar, das durch seine Traditionskrise nicht etwa ins Schweigen verfällt, sondern immer und immer wieder die Geschichten und Texte der Vergangenheit wiederholt, so als wären sie neue Texte, als wären sie neue Geschichten.

Vielleicht entstünden dann Texte, die nicht unähnlich dem Text von Pierre Menards Don Quijote in Jorge Luis Borges‘ Erzählung wären, jener Quijote-»Übersetzung«, die nach Menard so übergenau sein soll, dass sie das Original in seiner Ausgangssprache exakt kopiert, exakt repliziert und es qualitativ dennoch übersteigt.

Oskar Pastiors Aussage: Jetzt kann man schreiben, was man will ließe sich wie folgt umdeuten und durch eine kleine semantische Verschiebung ergänzen: Jetzt kann man alles schreiben ➔ Jetzt kann man altes schreiben. Eine allgemeinere Frage wird damit aufgeworfen, die zu einem Borges’schen Gedankenexperiment taugt: Wie viel erzählter Stoff, wie viel formal Erfinderisches ist heute bloß nur aus dem Grund neu, weil die Texte, in denen es bereits erfunden und erzählt wurde, verschwunden sind? Es hat alles schon gegeben, es gibt nichts. Vielleicht kann man bald die ritterlichen Abenteuer eines etwas senilen, etwas verrückten Hidalgos erzählen und ihn gegen herrische Riesen in den Kampf ziehen lassen, die eigentlich Windmühlen sind, und man wird als Erfinder einer neuen Erzählung gehuldigt – oder eher, man wird gescholten: Zu weit hergeholt!

Fiktionen sterben auch. Relevant bleibt danach die Frage, ob sie ein Nachleben haben. Überlegungen dieser Art werden in der Romantrilogie Coetzees nicht direkt angesprochen, werden jedoch möglich, da das Leben des Menschen immer wieder mit einer erzählten Geschichte in Analogie gesetzt wird und die Leben der Figuren als Wiederholungen früherer Leben erzählt werden, selbst wenn die Erinnerungen an diese früheren Leben ausgelöscht und ihnen somit unverfügbar sind.

Das nietzscheanische Motiv der ewigen Wiederholung, der ewigen Wiederkunft des Lebens, das wieder und wieder von vorne (oder von neuem) beginnt und erzählt wird, wird in Coetzees Romantrilogie vom ersten Teil an aufgerufen und wird im dritten Teil erneut erzählt, wenn Simón dem Jungen versucht, den Moment des Todes zu schildern, wie er ihn sich vorstellt: 

Wie ist es, wenn man stirbt? Wie ich es mir vorstelle, liegst du und blickst in das Blaue des Himmels, dabei fühlst du dich immer schläfriger. Ein großer Frieden senkt sich auf dich. Du schließt die Augen und bist hinüber. Wenn du aufwachst, bist du auf einem Schiff, das über das Meer gleitet, der Wind bläst dir ins Gesicht, und überm Kopf kreischen Möwen. Alles fühlt sich frisch und neu an. Es ist, als wärst du in diesem Augenblick neu geboren. Du hast keine Erinnerung an die Vergangenheit, keine Erinnerung an das Sterben. Die Welt ist neu, du bist neu, eine neue Kraft ist in deinen Gliedern. So fühlt es sich an. (14)  

Die Auslöschung der Vergangenheit als Auslöschung von Tradition erscheint in diesem Sinne positiv, während sie in anderem Sinne als negativ betrachtet werden kann und muss. In dieser Dialektik pendelt der Text und gibt keine eindeutige Antwort, sondern lädt zum Denken, zum Interpretieren, zum Spielen ein. So bleibt offen, ob Simón in diesem Moment eine reine Vorstellung imaginiert oder ob seine Fantasie erinnerungsgefärbt ist und er diesen Wiedergeburtsmoment als etwas schildert, das er und der Junge selbst erlebt haben, bevor sie in ihr jetziges Leben, in diese jetzige Welt, gelangten. Und selbst eine Beantwortung dieser Frage – ob in die eine oder die andere Richtung – lässt immer noch offen, ob das Ankommen in dieser Welt, in diesem Leben, eine Wiedergeburt im wortwörtlichen und religiösen Sinne war, oder ob Simón und David metaphorisch wiedergeboren wurden: nach einer langen Schiffsreise und einem möglichen Schiffbruch sicher an neuen Ufern. Hat man Die Kindheit Jesu religiös im wortwörtlichen Sinne gelesen und war die geschilderte Ankunft in Novilla eine Wiedergeburt, so wirft Der Tod Jesu die Frage auf, ob die sterbende Jesus-Figur des David ein zweites Mal wiedergeboren werden kann oder ob vielleicht selbst ein Messias irgendwann einmal Ruhe hat.

Wie in allen Romanen Coetzees ist auch im Falle der Vorstellung von Simón am Krankenbett des Jungen das eindeutige Verstehen eines Handlungsstrangs, eines Symbols, eines Zeichens, einer Figur alles andere als wünschenswert. Denn nur durch Momente der Unsicherheit, nur durch Lücken – so problematisch sie sind, auch Lücken im Gewebe der Erinnerung und der Tradition –, nur durch Lücken entstehen Räume, in die Interpretation und Denken hineinhuschen und sich dort entfalten kann. David sagt einmal etwas zu Simón, das gut und gerne von jedem einzelnen Text Coetzees gesagt werden könnte, das von jedem großen Text, jedem wichtigen Kunstwerk der Kulturgeschichte gesprochen werden könnte: »Aber dann musst du versprechen, mich nicht zu verstehen. Wenn du mich zu verstehen versuchst, verdirbt das alles. Versprichst du es?« (15) Also, sagen wir ja und lesen wir, ohne zu verstehen, lesen wir und vergessen wir wieder, auf dass wir immer wieder lesen können wie ein neues Kind, auf dass wir wieder und wieder lesen müssen, als wäre jeder Text der neueste, als wäre jeder Text der einzige. Aber dann müssen wir versprechen zu lesen. Wenn wir nicht lesen, verdirbt das alles. Versprechen wir es.

(1) Joh 12,25.
(2) Paul Auster und J. M. Coetzee, Von hier nach da: Briefe 2008-2011, übers. v. Reinhild Böhnke und Werner Schmitz, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2014, S. 174.
(3) J. M. Coetzee, Doubling the Point: Essays and Interviews, hg. v. David Atwell, Cambridge/London: Harvard University Press, S. 63.
(4) J. M. Coetzee, Der Tod Jesu, übers. v. Reinhild Böhnke, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2020, S. 5.
(5) Ebd., S. 6.
(6) Ebd., S. 57-58.
(7) Ebd., S.58-59.
(8) J. M. Coetzee, Die Kindheit Jesu, übers. v. Reinhild Böhnke, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2013, S. 194.
(9) Coetzee, Der Tod Jesu, S. 66.
(10) Ebd., S. 104.
(11) Ebd., S. 116.
(12) Ebd., S. 147.
(13) J. M. Coetzee, „Interview on Writers & Company”, geführt von Eleanor Wachtel, CBC Canada, 2000, übers. v. JW.
(14) Ebd., S. 119.
(15) Ebd., S. 114.

 

Dieser Beitrag erscheint auch in »Neue Rundschau 2020/1: Nach der Natur«, voraussichtlich ab dem 24. März 2020 im Buchhandel.