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»Vielleicht werden wir nie das Rätsel des Lebens lösen«

An Ostern vor einem Jahr starb in Basel der große Schriftsteller Dieter Forte. Sein Lektor Jürgen Hosemann erinnert an ihn und die letzten Tage seines Lebens.

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Am Vormittag des 18. April 2019 habe ich das letzte Mal mit Dieter Forte telefoniert, es war der Gründonnerstag vor Ostern. Er sprach so leise, undeutlich und verwirrt, dass er kaum zu verstehen war. Ich schloss die Bürotür und schrie in den Hörer, dass ich ihn nicht verstünde. Er schien mir zuzuhören und sprach dann genauso leise, undeutlich und verwirrt weiter. Er lag, das wusste ich aus dem letzten Mail, das ich vier Tage zuvor von ihm erhalten hatte, im Adullam-Spital in Basel, und er war allein, es gab keine Angehörigen, die sich um ihn kümmerten. Als ich auflegte, spürte ich mein Herz schlagen. Mich quälte die Vorstellung, dass er mir etwas hatte sagen wollen, ich ihn aber nicht verstanden hatte. Ich überlegte, ob ich zu ihm fahren sollte, aber wann? An diesem Tag waren unter Zeitdruck noch wichtige Arbeiten zu erledigen, und danach standen die Ostertage an mit dem Besuch der Familie. Und außerdem: Er hatte doch in den letzten Jahren schon mehrfach am Rande des Todes gestanden – würde er sich nicht auch diesmal wieder erholen? Ich informierte Monika Schoeller, seine Verlegerin seit Jahrzehnten, und ihre Assistentin Bärbel Gäthje, auch Antje Contius von der S. Fischer Stiftung – diejenigen, die sich in den letzten Jahren um ihn gekümmert hatten. Dann machte ich weiter meine Arbeit, nervös und unkonzentriert. Immer wieder dachte ich an das Telefonat vom Vormittag. Es fügte sich nicht ein in den Tag. Ein solches Telefonat war nicht vorgesehen, es passte nicht, es würde nie passen. Aber eigentlich glaubte ich nicht, dass er sterben würde. 
Er starb vier Tage später, am Ostermontag.

2
Vier Wochen zuvor, am 20. März, hatte ich ihn in Basel im Clara-Spital besucht, Zimmer 322. Wenn man aus dem Fenster schaute, sah man den Schnee auf den Bergen hinter der Stadt, aber die Sonne schien aus blauem Himmel, was mich an einen heißen Sommertag denken ließ.
Bei meinem Besuch schien er in gutem Zustand – gemessen an den verzweifelten und auch erratischen Mails, die ich in der Woche davor erhalten hatte. In einem stand, er sterbe jetzt, und er sterbe allein. Aber die Infektion der Lunge, die er sich bei der Herzschrittmacher-OP vor einigen Wochen zugezogen hatte, war mit hohen Cortison-Dosen bekämpft worden, nun fühlte er sich so gut, dass er nach Hause wollte. Er schreibe, sagte er, an gleich zwei Büchern, einem kleinen satirischen Roman und einem »Nachtbuch« mit Aufzeichnungen, an beidem schreibe er auch hier im Spital weiter, nachts, wenn er nicht schlafen könne und es still um ihn geworden sei. Gut einen Monat zuvor war sein jüngstes Buch »Als der Himmel noch nicht benannt war« erschienen, das sich für mich wie ein letztes las. Die Hoffnung, dass es das vielleicht doch nicht sein würde, machte uns nun beide froh. Dann sprach er über Shakespeare (»das Leben hat keinen Sinn«), Balzac (»jedes Leben ist eine Geschichte«) und Heine (»der Sinn des Lebens ist das Leben«), während die Elektronik seines Krankenbetts unablässig Piepsgeräusche machte, die nicht abzuschalten waren. Als ich ans Fenster trat, sah ich, dass auf seinem Nachttisch eines seiner Lieblingsbücher lag, ein Nachdruck des 1494 in Basel erschienenen »Narrenschiffs« von Sebastian Brant, das für ihn ein treffendes und unübertroffenes Bild der Menschenwelt zeichnete. Der Schnee auf den Bergen in der Ferne schimmerte jetzt rosa im frühen Abendlicht. Ich musste gehen: In der Buchhandlung Ganzoni würde ich in zwei Stunden von Forte und seinem letzten Buch erzählen. Ich machte mir noch einen Kaffee mit der Maschine auf dem Zimmer, und als ich eines der Kaffeepads nahm, sah ich, dass ich zu »Espresso Forte« gegriffen hatte. Wir lachten beide. 

3
Die Asche von Dieter Forte ist am Nachmittag des 14. Juni 2019 auf dem Basler Friedhof Am Hörnli beigesetzt worden. Der 14. Juni war sein Geburtstag.
Die kleine Trauergemeinde folgte der Urne, die von einer Angestellten der Friedhofsverwaltung zum Grab getragen wurde. Acht Schülerinnen und Schüler der Dieter-Forte-Schule in Düsseldorf schlossen sich gleich als erste an, sie hielten Rosen in den Händen. Der Weg war nicht weit: rechts, links, rechts, dann ein Durchgang zwischen Gebüsch auf ein Feld mit Urnengräbern. Es war das Grab seiner Frau Marianne, die 2016 nach Jahren der Krankheit gestorben war. Von hier sah es aus, als würde der Friedhof direkt in den Waldhang dahinter übergehen. Antje Contius las aus Fortes »Schweigen oder sprechen«, ich etwas über den Fluss und den Fährmann aus »Das Labyrinth der Welt«: »Vielleicht werden wir nie das Rätsel des Lebens lösen ...« Wir waren uns einig, dass wir am Grab von Dieter Forte nicht über ihn sprechen würden, sondern ihn selbst sprechen lassen wollten. Später hörte ich von Monika Schoeller, dass während ich las ein Reh erschienen war, ein paar Grabreihen weiter, zutraulich und verständnisvoll nickend. 
Am Abend hatte Monika Schoeller ins Schützenhaus geladen, einem historischen Basler Gasthaus, in dem sie sich von Zeit zu Zeit mit Dieter Forte getroffen hatte. Es wurde festlich und heiter, einer jener Sommerabende, an denen alles stimmt. Die Reise ans Grab von Dieter Forte war auch eine Abschiedsreise unserer Verlegerin, aber das wussten wir da noch nicht.

Dieter Forte

Dieter Forte

Dieter Forte, 1935 in Düsseldorf geboren, gestorben 2019 in Basel. Seine hoch gerühmten Romane »Das Muster«, »Tagundnachtgleiche« (ursprünglich »Der Junge mit den blutigen Schuhen«), »In der Erinnerung« und »Auf der anderen Seite der Welt« bilden die »Tetralogie der Erinnerung«. Als Theaterautor gelang Forte mit »Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung« ein Welterfolg, dem weitere Dramen, erfolgreiche Fernsehspiele und preisgekrönte Hörspiele folgten. Zuletzt erschien »Als der Himmel noch nicht benannt war«. Über seine Arbeit gibt Auskunft der Materialienband »Es ist schon ein eigenartiges Schreiben …«, herausgegeben von Jürgen Hosemann.
Literaturpreise:

In Auswahl:
2005 Niederrheinischer Literaturpreis
2005 Johann-Jakob-Christoph von Grimmelshausen-Preis
2004 Hans-Erich-Nossack-Preis
2003 Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft Düsseldorf
1999 Bremer Literaturpreis
1992 Basler Literaturpreis
Stipendien der Kulturstiftung Nordrhein-Westfalen und des Deutschen Literaturfonds Darmstadt
1980 Fernsehspiel des Monats Oktober (für: Der Aufstieg)
1980 Hörspiel des Monats Juli (für: Sprachspiel)