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Ein Brief von Alexander García Düttmann

Alexander García Düttmann lehrt an der Universität der Künste in Berlin.

Bad Nauheim, den 25. März 2020

 

Lieber Oliver!

Vor vielen Jahren ist in dem Verlag, für den Du arbeitest, ein kleines Buch von mir erschienen, das den Untertitel trägt »Wie über einen Virus nachgedacht und geredet wird«. Wenn ich heute wieder etwas über einen Virus schreiben würde, über diesen anderen Virus, der Corona heißt, dann würde ich vielleicht einen ähnlichen Untertitel wählen, ihn aber leicht abändern. Er würde dann lauten: »Daß über einen Virus nachgedacht und geredet wird«. Der erste Untertitel sollte darauf hinweisen, daß die vom Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) hervorgebrachten Diskurse wohl unterschiedlicher Art waren, sich aber doch bestimmte diskursive Muster herausgebildet hatten, die diese Verschiedenheit wiederum verringerten. Der zweite Untertitel hingegen würde auf die Voraussetzung einer solchen Herausbildung hinweisen, also auf die Macht des Virus, Diskurse zu generieren. Wie über einen Virus nachgedacht und geredet wird, ist also in meinen Augen gegenwärtig weniger kennzeichnend als der Umstand, daß über einen Virus so viel, so unentwegt, so unermüdlich nachgedacht und geredet wird.

Denn nichts ist mir in den vergangenen zwei oder anderthalb Wochen mehr aufgefallen als die unendliche Prozession oder Parade der Wissenschaftler, der Experten, Forscher und Ärzte, der Akademiker, Künstler und Politiker, der Soziologen, Philosophen, Politologen, Historiker, Kulturschaffenden, die sich unentwegt, einer hinter dem anderen, einer neben dem anderen, einer vor dem anderen öffentlich zur neuen Pandemie äußern, in Publikationen, Fernsehsendungen, Internetportalen. Alle wissen etwas über die Bedeutung dieser Pandemie und ihrer Auswirkungen, ob sie nun das Ende des Kapitalismus ankündigen soll, eine neue gesellschaftliche Solidarität entstehen läßt oder den allgemeinen Ausnahmezustand ratifiziert, der das Leben auf ein nacktes Leben herabmindert. Es ist, als hätte sich dieser Zug der Geister bereits in Bewegung gesetzt, bevor man überhaupt von einer Epidemie oder gar von einer Pandemie sprechen konnte. 

Während Virologen sich darum bemühen, so rasch wie möglich einen Impfstoff zu entwickeln, ein Medikament, das die Pandemie stoppt, es in überfüllten Krankenhäusern oder Krankenhallen nicht bloß um Leben und Tod, sondern um Entscheidungen über Leben und Tod geht, die schnell getroffen werden müssen, weil sich die nächste Entscheidung bereits aufdrängt, das Personal an die Grenzen des Mach- und Zumutbaren stößt, Schutzmasken, Beatmungsmaschinen, ja Betten fehlen, verdoppelt sich im Überbau diese beinahe unannehmbare, ungeheuer beschleunigte und unabsehbare Tätigkeit, geschieht eine Kommunikationsexplosion. 

Hat aber die Verdoppelung, das geschäftige Treiben der Reflektierenden, nicht auch einen komischen Aspekt, als würde sie dem Coronavirus noch einmal die Krone aufsetzen, seine Unaufhaltsamkeit und seine Virulenz spiegeln oder vorwegnehmen, vor ihm achtungsvoll in die Knie gehen, um ihn gleichzeitig abzuwehren, die Spuren zu verwischen, die er noch gar nicht hinterlassen hat? War die Selbstreflexion einmal an das Ende geknüpft, daran, daß man eine Erfahrung, eine erfahrene Herausforderung, auf den Begriff bringen wollte, so kommt sie jetzt noch vor dem Anfang, bevor man die Erfahrung wirklich gemacht hat. 

Wenn gerade eine totale Mobilmachung des Geistes stattfindet, die Anerkennung und Verbannung ineins ist, ein Eingeholtsein und ein Nicht-an-sich-Heranlassen, wenn alle Geister zur Stelle sind und ihre Aufgabe erfüllen, verwundert es eigentlich kaum, daß auf Weisen des Nachdenkens und Redens zurückgegriffen wird, die man schnell wiedererkennt und die schnell etwas von einem beruhigenden Gemeinplatz haben, so apokalyptisch sie klingen, so sehr sie an ein Innehalten oder an eine Selbstbesinnung appellieren mögen. Die einen fordern neue Leit- und Richtlinien des Vorgehens, damit der Betrieb möglichst reibungslos weitergehen kann, nicht zu sehr und zu lange ins Stocken gerät, die anderen beschwören die Kreativität, die sich gerade in kritischen Zeiten bewähren muß, soll man nicht doch noch Zweifel an ihrer Berechtigung hegen, weil sie sich nicht auszahlt.

Mir will es so scheinen, als könnten sich nur jene zur Pandemie verhalten, bei denen der komische Aspekt, den ich erwähnt habe, ein staunendes Lachen auslöst. Und als wäre eine lauernde Gefahr die, daß ohne ein solches Lachen die Pandemie lediglich zur Konsolidierung der gesellschaftlichen Tendenzen beiträgt, deren Dynamik sie auf den ersten Blick zum Stillstand bringt. Ich frage Dich: Welche Art von social distancing praktiziert, wenn überhaupt, ein staunendes Lachen?

 

Dein Alex

 

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