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Ein Brief von Carmen Stephan

Carmen Stephan, geboren 1974, wohnt in Genf. Sie lebte als Autorin für mehrere Jahre in Rio de Janeiro, wo sie zufällig auf die Geschichte von Orson Welles und dem Fischer stieß, die ihr neuer Roman »It's all true« erzählt. 2005 erschien der Geschichtenband »Brasília Stories«. Für ihren ersten Roman »Mal Aria« wurde sie mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung 2012 und dem Debütpreis des Buddenbrookhauses 2013 ausgezeichnet.

Genf, 29. 03. 2020

Mein lieber Freund,

neulich zuhause, am frühen Morgen: Ich schlief in jener Nacht in der Dachkammer, als ich von unten plötzlich leise Schritte höre. Ich strecke meinen Kopf durch die geöffnete Luke und sehe mein jüngstes Kind, meinen nicht mal zweijährigen Sohn. Er geht nicht wie sonst, wenn er als erster aufwacht, ins Elternschlafzimmer, sondern zum Schreibtisch im Wohnzimmer, in mein Blickfeld. Er klettert auf den Bürostuhl, setzt sich und schaut durch die Glasfront hinaus. Auf die Bäume, die Sträucher, den Himmel. Legt seine Hände in den Schoß. Ignoriert die Stifte, das Papier vor ihm, den Laptop, zweimal blickt er kurz auf das grüne Licht am Ladekabel, aber er berührt nichts. Alles, was nun frei verfügbar wäre, weil er sich ja unbeobachtet fühlt, lässt er liegen. Er schaut hinaus. Still. Sieht den Vogel vorbei fliegen, das Wogen der Tanne. Das Untrennbare von Baum und Wind. Den Wind im Baum und den Baum im Wind. Er ist ganz darin. Für fünfzehn Minuten! Selten habe ich etwas Schöneres gesehen. Dieses Kind weiß doch gar nicht, was gerade geschieht. Es sagt noch keinen Satz, es denkt noch nicht nach. Trotzdem verhält es sich so, als hätte es alles darüber begriffen. Denn überhaupt erst mal wieder: die Dinge sehen. Damit fängt es an. 

Behalt dich wohl,
deine Carmen

 

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