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Ein Brief von Julia Franck

Julia Franck erhielt für ihre Romane zahlreiche Preise, u.a. den Deutschen Buchpreis für "Die Mittagsfrau", und ihr Werk ist in 40 Sprachen übersetzt. 2019 hatte sie in der Dordogne das Aufenthaltsstipendium Les plumes de Léon und schrieb zuletzt einen poetischen Text für die neue Choreographie von Sasha Waltz, SYM-PHNONY 2020, die im April an der Staatsoper Berlin hätte zur Uraufführung kommen sollen.

Mein liebster Nicolas im Südwesten Frankreichs, wo die Sonne länger am Himmel steht und ihr heute wohl in einer der fruchtbarsten Landschaften Europas an Flüssen mit süßem Wasser und voller Forellen unter Kastanien und Nussbäumen, die Eichen- und Kiefernwälder voller Pilze und Wildtieren im Paradies auf Erden lebt. Dass ihr in Frankreich nun Ausgangssperre habt, nicht fischen und sammeln, sondern nur mit amtlichem Dokument und Auto in den nächsten Supermarkt fahren sollt, erscheint mir seltsam. Noch dürft ihr in eure Gärten und teilt den grünen Horizont von 360 Grad. Wir Städter in Berlin dürfen zwar einzeln rausgehen, aber wir nennen es Kontaktsperre. Und das Leben zwischen den Wänden, Mauern und Asphalt ist ein anderes. Hier zuhause ist die Stimmung fröhlich und manchmal sogar ausgelassen, unentschieden zwischen der Jugend und ihrer alleinerziehenden alternden Mutter, die sich schon seit Jahrzehnten im home office nebst täglich frischen Mahlzeiten, Wäschebergen, Putzen und spritzmunteren oder kranken Kindern im Jonglieren und Scheitern übt. Nun haben die Schulen geschlossen. Die Jugendlichen liegen seit Tagen mit ihren Laptops und Handys auf den Betten, als habe man ihnen endlich Ferien hinter Glas vor der geliebten Welt verordnet. Meine Appelle an ein soziales Engagement prallen noch ab – genüsslich aalen sie sich in der Horizontale und beobachten mit Vergnügen den aufgeweckten Aktionismus ihrer Alten. Da sie sich nicht als Zielgruppe des Virus empfinden, fehlt ihnen anscheinend jegliche tiefere Anteilnahme, Sorge oder dergleichen. Ja, sie würden gern ihre Freunde in der Schule und im Park treffen. Die langersehnte Klassenreise nach Italien kann nicht stattfinden, der dreimonatige AuPair-Aufenthalt in Paris wohl auch nicht. Das macht sie traurig. Und sonst? Sie staunen manchmal und scheinen fast stolz, in welcher ungewöhnlichen Zeit sie leben – geboren im Jahr von 9/11 und aufgewachsen in der Hochzeit der Bevölkerungsexplosion und gewaltig inszenierten Amokläufe sehen sie klar, dass Corona ein besonderes Ereignis ist, ja, eine Weltveränderung erwirken könnte. Vom kapitalistischen zum karitativen Zeitalter? Von vermeintlich wirtschaftlicher Ordnung erster, zweiter und dritter Welt und moralischen, ja religiösen Modellen zur Erkenntnis von Entropie und Chaostheorie, auf zum Chaos? 

 

Sie nehmen es freilich eher hinter Glas wahr – und darin ist ihre Generation erprobt wie keine andere: Die Schneewittchenposition. Isoliert, auf Zeit verbannt, aber nicht bedroht. Das Schlimmste in ihrem Alltag wäre derzeit, wenn ich das WLAN zu unser aller Cyber-Hygiene täglich für mehrere Stunden abstellen würde. Manchmal kommen sie hervor, singen, tanzen und machen sich lustig . Ohne jeglichen schulischen Auftrag liest ein Kind plötzlich das Tagebuch von Anne Frank. Und wundert sich, wie auch dort Schritt für Schritt die Bewegungsfreiheit und die sozialen Kontakte eingeschränkt werden. Ganz andere Vorzeichen. Annes Fröhlichkeit und Sehnsucht gelten ihren Freunden, einem Jungen, der Natur. 

Offenbar hegt die Jugend hier und heute kaum den Wunsch nach einer Einflussnahme am Weltgeschehen. Möglicherweise sind sie sich ihrer Bedeutungslosigkeit nüchtern bewusst. Was sollten ihre Initiativen, ihre Arbeit, ihr Engagement schon in der Welt hinter dem Glas bewegen. So merkwürdig es ist, vielleicht hat Greta Thunberg ihrer Generation absichtslos das Gegenteil dessen gezeigt, zu dem sie in den Medien stilisiert wird: Selbst sie, die Ikone von Naturschutz und Umweltinitiative, die so Engagierte, konnte wenig bewirken. Außer dass die Medien mit ihr (wie sonst am liebsten mit Trump) ihre Kanäle gefüllt haben und die NGOs wie auch Politiker und Royals aller Welt sie einluden und sprechen ließen. Eine riesige mediale Wichtigkeit. Doch unmittelbar sichtbar änderte sich wenig auf der Welt. Nur ein bisschen schulfrei. Kein Schornstein erlosch. Der Virus aber lebt, der hat eine Wucht. Und er lässt die Wirtschaft stillstehen, die Umwelt kann sich ein paar Sekunden erholen. Die industrielle Produktion hält den Atem an, Ferienflieger bleiben am Boden, selbst das Auto lässt jetzt mancher stehen. Von Peking bis Paris zeigt die Luftqualität plötzlich unfassbare Werte. Kommen die brennenden Regenwälder und Ölfelder ausgerechnet 2020 zur Ruhe? Die globale Macht übernehmen gerade Transportunternehmen und Händler wie Amazon und Google, der weltweite Handel mit Rohstoffen wird kaum nachlassen.

Vielleicht bäumt sich der Planet gerade gegen die Bevölkerungsexplosion und die vielen Schäden auf, die der Mensch im letzten Jahrhundert in rasanter Geschwindigkeit angerichtet hat. Betrachten wir es einmal nicht anthropozentrisch, löscht ein Lebewesen ein anderes aus oder sorgt für seine natürliche Dezimierung. 

Die Welt ändert sich mit dem Menschen und Corona jetzt ein wenig schneller. Der mitteleuropäische Rohstoff im Welthandel kann eigentlich nur Technik und Forschung, also Bildung sein. Ausgerechnet die Schulen und Universitäten sind aber derzeit geschlossen und die Zeit, in der Menschen hier – bei allem Wohlstand – die Schulen und Universitäten besuchen und lernen durften, wurde von politischer Seite immer weiter verkürzt, zusammengespart. Unsere Bildungspolitik sollte die Corona-Krise zum Anlass nehmen, den heutigen Schülern und Studenten fakultativ ein weiteres Jahr an ihren Institutionen zu schenken. Sie könnten sowohl anhand der jetzigen Krise und im sozialen oder wirtschaftlichen Engagement während der Monate der Schließzeiten, als auch in der Schule und an den Universitäten im anschließend gebotenen Unterricht lernen. Bildung ist ein Privileg und die notwendige Grundlage für die Zukunft der heutigen jungen Generation.

Mich erinnert diese enge und nicht ganz freiwillige Nonstop-Familienzeit ein bisschen an Marienfelde, unsere Monate im West-Berliner Flüchtlingslager. Zuerst war da die absolute Quarantäne in einem eigens dafür vorgesehenen Häuserblock auf dem Lagergelände: Die westlichen Alliierten verdächtigten die Sowjetunion in den 70er Jahren, dass sie biologische Waffen nicht nur entwickeln, sondern zum Einsatz bringen könnten – mit uns Flüchtlingen als Trojanische Pferde. Eine biologische Waffe hätte West-Berlin binnen Kürze in einen Ausnahmezustand versetzt. Bis verschiedene Untersuchungen, Urin-, Stuhlproben, Lungenscreening etc. unsere Ungefährlichkeit ergaben, mussten wir ohne Ausgang im Quarantäne-Block leben. Doch auch danach gab es ja das winzige Zimmer mit den Stockbetten und dem Tisch in der Mitte für uns vier Mädchen und unsere Mutter, die dreiköpfige russische Familie im winzigen Zimmer nebenan, ein kleines Klo mit Waschbecken für uns acht Personen, die wir die winzige Wohneinheit teilten. Rund um das Lager gab es den Stacheldrahtzaun, die Schranke und den Pförtner. Da war die Zuteilung der Nahrungsmittel, da waren die Hinweisschilder in den Zimmern und Fluren, dass man anderen Lagerbewohnern nicht vertrauen sollte (sie könnten Spione sein). Kontakt, Freundschaften und nachbarschaftliches Wohlwollen war im Lager weder erwünscht noch gefördert. Wollte man Besuch von Menschen außerhalb des Lagers erhalten, so musste dieser sich mit Anträgen Tage zuvor anmelden und ausweisen. In den neun Monaten hat uns vielleicht ein oder zwei Mal jemand von draußen besucht. Ich erinnere mich, dass wir unseren Vater draußen in der Stadt einmal trafen. Er war zwei Jahre zuvor in den Westen geflüchtet. Der Vater unserer Baby-Schwester kam uns ein Mal im Lager besuchen, er war ein Jahr zuvor in den Westen geflohen, als meine Mutter noch nicht wusste, dass sie mit einem Kind von ihm schwanger war. Der Vater unserer älteren Schwester, den wir alle liebten, würde uns niemals besuchen können und es war fraglich, ob wir ihn jemals in unserem Leben würden wiedersehen können. Er war promovierter Physiker, der ohne Partei- und Stasimitgliedschaft sich niemals würde habilitieren können, er musste als Chemiker in der Akademie der Wissenschaften arbeiten, und schrieb uns Briefe, wie auch wir ihm Briefe schrieben. Welche Erfahrung des Eingesperrtseins und der ungewissen Zukunft über Monate, Herbst, Winter, Frühling, nicht zu wissen, ob wir unsere alten Freunde und Verwandten im Osten je wiedersehen würden. Die soziale Isolation bei gleichzeitig fehlender Intimität und Privatsphäre im Zusammenleben der ganzen Familie in einem einzigen Zimmer mit Stockbetten und Tisch, wie auch das Misstrauen, Krankheiten, die latente Gewalt und mancher Freitod eines vereinsamten Lagerinsassen waren für uns neun Monate Alltag. Die einzige Möglichkeit zum Überleben und Rauskommen für das Kind, das ich war: Lesen und Schreiben. Ob wir je wieder Freunde, ein ziviles Leben führen und meine Mutter wieder arbeiten könnte, stand in den Sternen: Sie hatte ihre Arbeit als Schauspielerin bereits durch das Berufsverbot nach dem Ausreiseeintrag in der DDR verloren und galt im Westen mit ihren vier Kindern und 35 Jahren als nicht mehr vermittelbar. So wurden wir für das kommende Jahrzehnt Sozialfall im Wirtschaftswunder Westdeutschland. Meinen Roman »Lagerfeuer« habe ich später aus dieser Erfahrung der Krise, der sozialen Isolation und absoluten Zukunftsungewissheit von Lagerbewohnern geschrieben. Klar, es sind andere Vorzeichen, eine völlig andere politische Situation. Mein physisches Gedächtnis korrespondiert unwillkürlich mit der Gegenwart und mich erinnert diese merkwürdig offizielle Verbannung, Isolation und Zusammenpferchung an jene Zeit. Auch wenn wir heute mit menschenmöglichen technischen und medizinischen Errungenschaften unser aller Leben retten wollen, so üben wir in diesen Wochen soziale Isolation und physische Distanz. Wir befinden uns zugleich im Wettkampf um Leben, um Arbeit und Zivilisation. Unser körperliches Gedächtnis.  

Schon vor drei Wochen hatte ich mich bei der Charité und der Diakonie als Ehrenamtliche angeboten, in der Krankenpflegehilfe (hab ja noch meine Bescheinigung vom zweimonatigen Praktikum 1992 und die zwei Semester Medizin-Studium 2013/14) – und auch in der Kinderbetreuung. Aber klar, mit fünfzig Jahren und ohne abgeschlossene Fachausbildung ist man natürlich nicht ganz so brauchbar. Es dauerte eine Woche, ehe sich die Charité zurückmeldete. Zunächst suchen sie die vollausgebildeten Krankenpfleger. Die Diakonie erklärte, ihre Schwesternschülerinnen übernähmen derzeit die Kindernotbetreuung. Jedenfalls kann man mich dort nicht brauchen. Zuletzt habe ich dem Internisten – der mich vier Jahre mit meiner Wespenallergie behandelte, und den ich nicht Hausarzt nennen mag, weil ich sonst ja nie krank bin – meine ehrenamtliche Unterstützung an seinem Empfang angeboten. Er hat freundlich geantwortet und sich bedankt. Sie hoffen, dass sie die nächsten Wochen bewältigen. 

In der ganzen Nachbarschaft und bei Freunden habe ich in den vergangenen Wochen meine Hilfe angeboten. Aber noch scheint niemand Hilfe zu brauchen. 

Die Schere zwischen denen, die jetzt arbeiten müssen und dürfen und jenen, die untätig herumsitzen, wird weiter aufgehen und sich dennoch nicht proportional zu der ebenso aufreißenden Schere von arm und reich verhalten. 

Wir wollen gebraucht werden, dabei sein, uns unseren Nächsten und unserer Gesellschaft verbunden fühlen. Viele von uns erfahren aber in dieser Zeit eine Unnötigkeit ihrer Existenz. 

Vom Lamentieren der Kreativen und unserer Branche halte ich wenig – wozu sind wir die Kreativen? Doch weil wir Ideen entwickeln können. Unaufgefordert, ungefragt und umsonst. So habe ich mir vor zehn Tagen bereits angemaßt, unserer Kulturstaatsministerin Monika Grütters einen Brief zu schreiben. Darin schlage ich ihr mit Blick auf den Buchhandel und die geschlossenen Schulen und Universitäten eine Kooperative mit dem Bildungsministerium vor. Wir könnten diese Monate zur Re-Alphabetisierung nutzen. Alle Kinder und Jugendlichen an die Bücher. In entsprechend frei zu entwickelnden Formaten könnten Lehrer und Schüler anfangen zu lesen. Nicht bloß den alten Andersch mit seinem letzten Grund und den alten Hauptmann mit seinen Ratten. Jenseits bekannter Pflichtlektüren könnte zeitgenössische Literatur gelesen werden, Atwood, Choukri, Ernaux und die großen Denker unserer Zeit: Harari, Eribon, Emcke. Dabei lernen wir Sprachen und Weltgeschehen, Lesen und Verstehen. Meine Leseliste und Empfehlungsliste wäre lang. Man könnte manchen Schriftsteller mit Videos und Interviews oder live über Zoom einbinden. Und übrigens: Kaum eine Beziehung erscheint mir so intim und innig, wie die zwischen Leser und Buch. Die Schüler würden diese Beziehung als Qualität kennenlernen können. Sollte es zu einer Kooperation der Ministerien kommen und eine Arbeitsgruppe gegründet werden: ich biete mich als Ehrenamtliche an. Frau Grütters hat bislang nicht geantwortet.

Briefe schreiben kann man viele. Wenn nicht gelesen wird und keine Antwort kommt, liegt es vermutlich am fehlenden Interesse oder mangelnder Zeit. 

Auch das finde ich ein schönes philosophisches Thema der Stunde: Die Zeit. Manchen mangelt es an Zeit zu lesen, zu leben und zu lieben. Andere haben viel zu viel Zeit. Wie könnten wir einen Tauschhandel beginnen, ins Geschäft kommen? Ich glaube ja, das Lesen eines Buches schenkt den Menschen Zeit. Und eine Beziehung. Nicht das Buch selbst, der Gegenstand – nein, das Lesen eines Buches (oder Hören). Wir fühlen uns vom Lesen erfrischt oder erschöpft, weitgereist und verändert. Wie durch die Begegnung mit einem besonderen Menschen.

Nachdem ich 2018 im Botanischen Garten ein zweimonatiges Praktikum gemacht habe und den Garten innig lieben durfte, die Bäume und Stauden, die Blumen und Flechten, zögerte ich, mich um eine Lehrstelle dort zu bewerben. Mit 50 Jahren nähme ich einem jungen Menschen den vielleicht schönsten Ausbildungsplatz der Welt weg. Zwar bin ich vielleicht verlässlicher, aber natürlich körperlich trotz aller Gesundheit, Joggen und Pilates, längst nicht so belastbar und einsetzbar wie ein 20jähriger. Letzte Woche habe ich mich erneut im Botanischen Garten beworben, er ist ja leider seit zwei Wochen geschlossen. Die Pflanzen wollen trotzdem gepflegt und gewässert werden, es muss gesät und pikiert und gepflanzt werden. Das wäre mir im Augenblick eigentlich das Liebste, dort zwischen Alpen und Himalaya, Japan und Nordamerika arbeiten zu dürfen, Erden mischen und Blüten sammeln. Als Saisonkraft oder Aushilfe meinetwegen. Doch der Gartenmeister hat sich noch nicht zurückgemeldet.

Ideen habe ich viele. Es kommen nur spärlich Antworten. 

Von vielen Seiten hört man, der Staat, Papa muss jetzt helfen. Einige von uns begreifen nicht, dass wir der Staat sind, wir unsere Gesellschaft sind. Öffentlich wird über Schuldenpakete und Kreditmöglichkeiten gesprochen, die deutsche Regierung und Wirtschaft derzeit verhandeln. Der einzelne Arbeitnehmer wie auch die Arbeitgeber wollen beruhigt werden, die Unterstützung der kleinen Unternehmen und Lohnerhöhungen werden öffentlich verhandelt. Von einer möglichen Verstaatlichung bestimmter Unternehmen ist in Deutschland die Rede. Es wird darüber hinaus um das europäische Bündnis gehen müssen. Seit Wochen aber frage ich mich, wo all das »Geld« und die Unterstützung herkommen sollen, wenn wir die Steuern nicht zugleich erhöhen. Zweifellos macht sich Politik von jeher mit diesem Thema nur Feinde und vermeidet eine tiefgreifende Steuerreform. Mir steckt das Leben als Jugendliche im Wirtschaftswunder von Sozialhilfe und den öffentlichen Zuwendungen, die ich als junge Schriftstellerin genoss, tief in den Knochen. Es hat in mir Scham und Dankbarkeit erzeugt. Und zugleich habe ich seit meinem 13. Lebensjahr gearbeitet, was ich arbeiten konnte und durfte. Die größeren Steuerzahlungen in den erfolgreichen beruflichen Jahren erfüllten mich mit Genugtuung, weil ich das Gefühl hatte, unserer Gesellschaft etwas geben zu können, vielleicht mehr, als ich von ihr einst erhielt. Mit unseren Steuern sorgen wir Selbstständige und Arbeitnehmer, wir Angestellten und Unternehmer für ein Gesundheitssystem und eine gewisse solidarische Verteilungsmöglichkeit in unserem Land. Bewusst bin ich immer in der gesetzlichen Krankenkasse geblieben, auch das kann man als politische Haltung betrachten. 

Sonderbar erscheint mir die internationale Zurückhaltung, wenn es darum geht, die großen Profiteure einer Krise wie der jetzigen angemessen in die jeweiligen Steuersysteme zu integrieren. Wo zahlen Google, Amazon und Facebook ihre Umsatz- und Gewinnsteuern? 

Vielleicht spricht hier der vaterlose Wildling aus mir, das unerzogene, arme, in der DDR geborene Flüchtlingskind, die Nomadin und die geborene Obdachlose auf Lebenszeit. 

Eine alternde Frau. Wer braucht heute schon uns Alte, die ewigen Weltverbesserer, die Sorgenvollen und Sentimentalen? In der Steinzeit starb die Frau durchschnittlich mit 30 Jahren, der Mann mit 33. In Zentral-Afrika stirbt eine Frau heute im Schnitt mit 61 Jahren, der Mann mit 58. Für Deutschland gilt heute für Frauen eine Lebenserwartung von 83,3 Jahren, für Männer 78,5. Nun las ich erst gestern, das Durchschnittsalter der bisherigen Corona-Toten in Deutschland betrage 81 Jahre. Das hinterlässt in jedem wachen Verstand ein paar Fragezeichen.

Was also mit all der schönen Zeit anfangen, wenn sich die Menschen in ihre Behausungen zurückziehen und auf Kontakt verzichten. Unsere Sprachen, Politik und Kulturen lassen sich derzeit aufregend studieren: Kontaktsperre wird es in Deutschland genannt, wir tauchen auf den Weltkarten mit den markierten Ausgangssperren der Länder nicht auf. Ihr in Frankreich sagt confinement und wir übersetzen es mit Ausgangssperre. Neulich auf dem Weg zum Einkaufen hattest Du das Dokument mit dem Stempel Deiner Bürgermeisterin vergessen. Dabei versorgst Du derzeit auch die Nachbarn mit. Im Périgord Noir lebt ihr in der schönsten Natur an der Vézère und dürft nicht zum Fischen an ihre Ufer, zu den Fischgründen, an denen schon unsere Urahnen standen. 

Wo ich hier in Berlin also niemandem helfen und zu nichts zu gebrauchen bin, was bleibt mir? Allein durch meine leere Geburtsstadt spazieren, den Sonnenaufgang und das Vogelzwitschern genießen und schreiben, einen Blick auf den blanken Unsinn wahren, den unser vielzähliges und ohnehin allzu langes Leben hier auf dem Planeten zur Schau stellt.  

Habe mit C. heute Morgen herzlich gelacht, unser schwarzer abgründiger Zwillingshumor, den nicht einmal die Briten teilen. Wir mussten auflachen über das auf allen Kanälen ins Visier genommene vermeintliche, zumindest als solches dargestellte Horrorszenario der Diamond Princess. Gut, man muss das wollen. Ohnehin. Auf einem riesigen Dampfer mit tausenden anderen über die Meere schippern und sich von früh bis spät bekochen und bespaßen lassen. Wäre nicht so meins. Aber gut, viele finden es offenbar traumhaft. Vor allem ältere Menschen, die ja zur sogenannten Risikogruppe gehören. Wenn nun aber von 3700 Menschen an Bord trotz zweiwöchiger Quarantäne (vor Japan lagen sie nur zwei Wochen) und Isolation am Ende gerade mal 700 infiziert (17% davon ganz ohne Symptome) und in der Folge nur sechs Menschen gestorben sind, fragt man sich natürlich, ob diese Zahlen tatsächlich irgendeine Aussagekraft über das Virus haben, und welche. Vielleicht die, dass auch eine solche maximale Kompression von Menschen und deren virale Exposition binnen dieser Zeit nicht zu einer Herdenimmunität führt, weil sich zu wenige dafür anstecken. Und schließlich darf man vorsichtig fragen, ob im selben Zeitraum möglicherweise auch aus anderen Gründen eine kleine Handvoll dieser Altersgruppe sterben könnte. Wenn nicht an Corona, wäre vielleicht einer am Infarkt, an seinem Krebs oder an der Grippe gestorben. Vor lauter Corona verlieren wir ganz aus dem Blick, dass es etliche Todesursachen gibt. Wir hatten in der Saison 2017/18 allein in Deutschland 21.100 Grippetote. Weder den ersten noch den letzten haben wir uns Tag für Tag aufgezählt. Ein Traumschiff segelt einen ja nicht am Tod vorbei.

Wir müssen alle sterben, das ist die offenbar vielen überraschende Erkenntnis. 

Die täglichen, sich verändernden Zahlen und nationalen Tabellen mit ihren Länderflaggen erscheinen mir nebenbei das dem Menschen anscheinend tiefe Bedürfnis nach nationaler Abgrenzung, Wettbewerb und Ordnung widerzuspiegeln und anzufeuern. Statt auf Fußball-Tabellen starren wir nun wie gebannt auf die Tabellen der nationalen Sterblichkeit, von uns selbst, im innerdeutschen Ländervergleich, und mit besonderer Spannung im Vergleich zu anderen Nationen. Seien wir einmal ehrlich, das Spektakel hat etwas Perverses. Unsere Faszination für die Tabellen, Graphiken und Zahlen empfinde ich als obszön. Dient es der Mobilisierung unserer kollektiven Angst und unseres Lebenswillens? Sicherlich dient es dem in Deutschland ja ohnehin nicht gering ausgeprägten Hygienewahn. Und tatsächlich höre ich mich in den letzten Tagen zu Freunden sagen: Wenn ich überlege, wie oft ich mir hier täglich die Hände mit unserem Trinkwasser aus der Leitung wasche, damit wir nicht an Corona sterben – während in vielen Breitengeraden die Hunger- und HIV-Waisen nicht einmal ausreichend Wasser zum Trinken haben. Wir hier leben im Luxus, im Wohlstand, in einem der besten Gesundheitssysteme der Welt. Und was hat es mit diesem Vergleich auf sich? 

Wenn wir nicht an Corona sterben, dann aus anderen Gründen. Jeder Tod hat seine Ursache. Das Leben. Nie zuvor waren wir in der Menschheitsgeschichte so viele – und nie zuvor sind wir so ungeheuer alt geworden wie heute. 

Ich vermisse in den letzten Tagen oft die Gespräche mit St. und frage mich, was sie wohl heute denken und sagen würde. In den Jahren 2013/14 überlegte ich mal, ob ich ein Buch über das Sterben und den Tod schreibe, unsere unterschiedlichen Rituale und Bilder und Erklärungsmodelle – auch über die ethische Frage zum Freitod. Mit St. habe ich sehr viel darüber damals gesprochen. Sie war der Ansicht, dass wir heute alle zu alt werden, und schon aus Gründen der Würde wollte sie selbst entscheiden können, falls es ihr eines Tages zu lange dauere. Sie wollte sich nicht vorstellen, einst in einem Altenheim, ohne Gedächtnis und ohne gedankliche wie physische Bewegungsfreiheit aufbewahrt zu werden. Ihre Mutter musste in jenen Jahren im Altenheim leben – und St. litt darunter auf ihre Weise. Sie wollte das nie. 

Ich bin keine Verächterin des Alterns, weder des alternden Körpers noch des greise werdenden Geistes. Als ich meine ersten Fältchen entdeckte, war ich froh, weil sie meinem Kindergesicht endlich den angemessenen Akzent der Jahre geben würden. Viele alte Menschen erscheinen mir insbesondere mit ihren Falten und Narben schöner als die Jungen, ich mag die Sichtbarkeit des Lebens, seine Spuren. Mir gefällt der sentimentale, der oft weisere, erfahrungsscharfe und zugleich wärmere Blick, den ältere Menschen aufgrund ihrer Erfahrung werfen können. Aber es stimmt ja, was St. dachte: Wir werden alle viel zu alt. Wenn der eine oder andere vorher gehen möchte, sollte es sein Recht sein – ohne Not und ohne Ächtung. M. hatte diese Entscheidung ja auch für sich getroffen. Allein. Sie war Ärztin. Sie hatte Vorkehrungen getroffen, dass niemand sie abhalten und kein Angehöriger sie überraschend finden würde. Mein Onkel, ein angehender Medizinstudent, und seine Geliebte, eine Krankenschwester, haben sich 1962 gemeinsam für ihren Tod entschieden, aus Ekel an der Hybris der Menschheit und in Anbetracht der Aussicht, mit der Mauer auf immer eingeschlossen zu werden. Bei lebendigem Leib begraben. Meinen Roman »Rücken an Rücken« habe ich diesem Familientrauma gewidmet.

Wer heute im Seniorenheim lebt, und dort möglicherweise nur lebt, weil seine Familie ihn liebt und es so möchte, – bleibt dort einstweilen die kommenden Monate isoliert, wider Willen, und stirbt dann allein. Wie viele in der Zeit der Corona-Ethik allein sterben müssen. Auch diejenigen, die nicht allein sterben wollen oder deren Angehörige den Menschen nicht allein sterben lassen wollen. Ohne Abschied. 

Abschiednehmen konnte St., als sie 2016 binnen drei Monaten am Pankreaskrebs starb, und durften wir. Es ging schneller als ihr der Freitod möglich war.

Pfleger und Ärzte erleben mit Covid-19 eine reale ethische und menschliche Überforderung. Sie erfahren das Unmenschliche. Studiert, gelernt und angetreten für einen Beruf der Heilung und zumindest Linderung von Krankheitssymptomen, sind sie heute in diesen Situationen gezwungen, sich als Retter und Richter über Leben und Tod zu fühlen. 

Nicolas, Euch in Sergeac wird sich die Welt von anderer Seite zeigen. Wie gern wäre ich bei euch, in der Wiege der Menschheit. Ihr seid Meister des Lebens, nicht nur als Jäger und Sammler – auch mit dem Auge für die Natur, für die Tiere, die Kunst. Die Geburt der Kunst, so hat Bataille sein Buch über Lascaux genannt. Damals waren wir Menschen noch nicht zu viele. Wir hatten Zeit. Wir jagten, liebten und malten. Unser Leben, in dem wir mit dreißig alt waren und starben. Was brauchten wir Motoren und Kraftwerke? Weder Ölfelder noch Regenwälder fackelten wir ab, allenfalls zum Essen machten wir Feuer, und um mit Fettlampen in finsteren Schlündern der Erde, im tiefen Inneren der Höhlen Tiere zu malen. Ihre Schönheit, ihre Bewegungen, ihr Wesen. Menschen malten wir selten, allenfalls abstrakt und ohne Kopf, sie waren offenbar nicht von höherem Interesse. Es war die Steinzeit. Nicht das Narzisstische Zeitalter. Bestimmt haben wir schon Musik gemacht und uns Geschichten erzählt. 

Ob wir uns je wiedersehen werden, Nicolas, und eine junge Liebschaft diese unabsehbare Dauer der Kontaktsperren, Ausgangssperren, Reiseeinschränkungen überdauern kann? Und wer werden wir sein, wenn wir aus unseren Exilen, der Isolation und Verbannung hinaustaumeln? Ich denke an Duras‘ »La Douleur«, »Der Schmerz«, und die Veränderung, die auf ungewisse Dauer Getrennte in schweren Zeiten durchleben. Meine Allergie gegen einen täglichen rein virtuellen Kontakt auf unbestimmt lange Zeit habe ich versucht Dir zu erklären. Erfolglos, bislang. Ich kann nicht gut erklären. Ich kann nur schreiben. Vom Lager habe ich Dir geschrieben, von anderen Lieben, von diesem Verlust und jenem, der Ungewissheit und vom Augenblick. Wie wohl ich mich fühle, wenn ich allein bin und schreibe. Wie selbstverständlich und gern ich allein bin. Seit der Pubertät habe ich in meinem Leben keine Langeweile und keine Angst vor dem Alleinsein empfunden. Trotzdem brauche ich die physische Welt zum Atmen, zum Leben. Das Wandern und Arbeiten, das Gärtnern und Kochen. Die Allergie gegen die einzig virtuelle Welt und Begegnung ist fast so heftig wie es meine Wespenallergie zuletzt war. Anaphylaktischer Schock. Sie ist so heftig wie meine Lust zu rennen und zu schwimmen und Beeren zu pflücken. Keine virtuelle Begegnung ersetzt eine physische. Neben Dir gehen und nachts neben Dir liegen und miteinander sprechen. Was Du mir wohl sagen und wie Du mir Deine Welt erzählen wirst? Was denkst Du, sind wir das einzige Lebewesen, das Mitgefühl empfindet – und das nicht nur für seine eigene Art? Sind die Malereien unserer Ahnen nicht vor allem Zeugnis jener zutiefst menschlichen Eigenschaft, dem Sinn für die Schönheit und das Wesen der anderen Arten, der Tiere, die Darstellung von Mitgefühl – was wir Kunst nennen, und Liebe. Erst wenn wir uns begegnen, kann ich Dich denken hören, den Geruch der Gegenwart und Jahreszeit und Deiner Haut, und wissen, wann du schweigst, und spüren, was das ist, wenn sich der Raum zwischen uns füllt. Die Stille ängstigt mich nicht. 

Lass uns nun ein paar Tage schweigen. 

In der Hoffnung auf ein Wiedersehen, in diesem Jahr: Julia

 

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