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Ein Brief von Kathrin Röggla

Kathrin Röggla, geboren 1971 in Salzburg, lebt in Berlin. Sie arbeitet als Prosa- und Theaterautorin und entwickelt Radiostücke. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise, darunter den Italo-Svevo-Preis, den Anton-Wildgans-Preis und den Arthur-Schnitzler-Preis; ›wir schlafen nicht‹ wurde mit dem Preis der SWR-Bestenliste und dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch ausgezeichnet. Sie veröffentlichte unter anderem die Prosabücher ›Niemand lacht rückwärts‹, ›Abrauschen‹, ›Irres Wetter‹, ›really ground zero‹, ›wir schlafen nicht‹, ›die alarmbereiten‹, das mit dem Franz-Hessel-Preis geehrt wurde, sowie gesammelte Essays und Theaterstücke unter dem Titel ›besser wäre: keine‹. Zuletzt erschien ›Nachtsendung. Unheimliche Geschichten‹ (2016).

Lieber Gesundheitsminister AD,

 

oder wie soll ich Sie nennen? Ich habe kein ungeborenes Kind, dem ich schreiben kann, wie das jetzt mehr und mehr in Mode kommt, meine Kinder sind geboren und weit davon entfernt, selbst Kinder zu haben, sie wollen auch nicht. »Wir sind die letzte Generation«, hat ein elfjähriger Schulfreund meines Sohnes gesagt, lange vor Corona, in Zeiten des Klimawandels, dessen Diskussion verdammt leise wirkt neben den jetzt dringlicheren Problemen. Aber die Sache mit der letzten Generation bleibt, und alleine dagegen muss ich ja schon protestieren. Und nicht nur ich. Insofern schreiben jetzt alle Briefe, Mails und dergleichen, meist an ungeborene Kinder. Ich habe aber kein ungeborenes Kind, und so schreibe ich an Sie, weil Gesundheitsminister auch enorm in Mode sind und zudem jetzt wie politische Hebel wirken. Irgendwie für das große Ganze stehen. Man hat mir gesagt, für mich als sogenannte Elfenbeinturmbewohnerin komme aber nur jemand infrage, der seinen Ämtern enthoben ist, und das sind Sie ja mittlerweile, Sie sind etwas in Vergessenheit geraten, es ist für Sie ja alles bereits verdammt lange her, und Sie haben jetzt potentiell Zeit, jegliche Post zu lesen, die Ihnen so unterkommt. (Denn Gesundheitsminister werden in einer Welt jenseits von David Foster Wallace’ fiktionalem Universum ziemlich schnell vergessen.) So stelle ich Sie mir also vor, vergessen und zukünftig. Vielleicht sitzen Sie in einem Lehnstuhl, eine Sammlung all jener schrägen Vögel anlegend, die zu allem und jedem sich zu Wort melden, die Orchideen unter den Spamern und Trollen, die etwas Merkwürdigeren unter den Leserbrieflostretern. Und jetzt gibt es mich, die ich Ratschläge in Briefformat gebe, sogenannte Erklärmails schreibe oder mich als Besserwisserin outen kann, wie das normalerweise nur Männer gegenüber Wissenschaftlerinnen oder Politikerinnen machen. Sogenannte Ingenieursbriefverfasser, und ich weiß noch nicht, ob ich zu einer Orchidee tauge. Eigentlich liegt mir das nicht, aber ich mache es eben, weil man ja den Druck loswerden muss, oder? Zumindest leben wir in Zeiten, in denen wir gewohnt sind, den Druck eher gleich loszuwerden als später, und wo kann man das im Moment besser als bei einer fiktiven Figur. 

Eigentlich kennen wir Sie als Optiker. Wir kennen Sie als Weltkriegssoldat und als unfreiwilliger Bewohner Tralfamadors. Wir kennen Sie aber ganz hauptsächlich als Zeitspastiker. Und ich habe nun mal ein Problem mit der Zeit und bräuchte ihre Konsultation. Meine Vorstellungen, von dem, was ich erwarten kann, was kommen wird, was überhaupt Gegenwart ist, ist durcheinandergekommen. Meine Vorstellung von dem, wie die Welt in einem halben Jahr aussehen könnte, ist gleich weit offen wie noch vor einem Monat mein Bild von der Welt in fünfzig Jahren. Und da wollte ich eigentlich schon tot sein. Oder nahm es an. D.h. von wollen kann da nicht die Rede sein. 

Ich könnte regelrecht ein Zeitspastiker sein wie Sie, nur, dass ich nicht durch die Geschichte geschleudert werde, zurück komme ich nicht wirklich, ich schleppe nur Vergangenes ein wie eine Krankheit – plötzlich häkle ich. Oder ich nehme um mich herum wahr, wie Grenzen dicht gemacht werden. Wie man die ganze Sache mit der Globalisierung wieder zurückdreht. Oder ich kümmere mich um einen archaischen Boiler. Denke darüber nach, das Buch mit der Selbstversorgung aus dem Regal zu holen. Vielleicht wäre bald eine Schreibmaschine fällig. Es dreht sich alles zurück.

Langsam sollte ich mich entschuldigen, denn ich erinnere mich nicht an Ihren Namen, was die Sache mit dem Brief schwierig macht, nur den Namen des Mannes, der das alles aufschrieb, Kurt Vonnegut, habe ich im Kopf, und vielleicht leitet der ja alles weiter, d.h. vielmehr seine Erben, oder vielleicht gibt es ja auch Vonnegut Estate, wie es Beckett Estate gibt, die Unmengen an Lizenzgebühren verlangen für jeden Pups. Vielleicht leiten die zur Abwechslung mal Briefe weiter an die Figuren ihrer Schöpfer von Menschen, die wirklich ein Problem haben. Und Rechtsnachfolger sind ja wie fiktive Figuren irgendwie unsterblich, solange die Rechtsnachfolge besteht, also müsste da noch jemand da sein. Und wenn nicht – wozu gibt es Wikipedia: Billy Pilgrim. Der Brief ist hiermit an Sie adressiert, Mr. Pilgrim.

Ich gebe auch zu, Sie sind nie Gesundheitsminister geworden, und schon gar kein deutscher, aber vorstellbar wäre es, also in meiner Phantasie geht das irgendwie zusammen, wie in der Unendlichkeit parallele Linien zusammenlaufen. Denn Sie müssen ja einen bestimmten Sinn für die Zukunft haben. Sie kennen wir ja von dem immer wieder wiederholten Satz: So it goes. Manche haben das Fatalismus genannt, aber die Tatsache ist, Sie haben die Zukunft im Sinn. Sie wollten sicher nicht ihre Liebsten altern sehen oder plötzlich wieder zurück zu der Kindheit ihrer Kinder kommen, und vor allem wollten Sie nie wieder zurück in die Kriegszeiten kommen, die Sie als junger Mann erlebt haben. Das hat Sie schließlich alles von Ihrem Umfeld entfernt, Ihren Nächsten. Sie wirkten immerhin hübsch enthoben. Das bin ich nicht. Auch nicht auf ihre traurige Weise. Wenn Sie der subtilen Parodie einer allmächtigen Erzählerfigur dienen konnten, vielleicht, bin ich die Parodie einer Tagesschau, ich kann nämlich keinen Überblick mehr organisieren und hänge fest zwischen Nachrichten über Ernteausfälle wegen der Grenzschließungen, der Überlegungen zum Überleben von Fußballklubs, Eckkneipen, Eiscafés, und dem Nachdenken, wer etwas dazu sagen sollte, welche Menschen beatmet werden sollen oder nicht. Triage-Entscheidungen, das ist die Vokabel, die mir immer wieder entfällt. Ich mag sie mir nicht merken. Um es kurz zu machen: Wir kommen derzeit an Grenzen, und zwar an einer Stelle, die niemand für möglich gehalten hat. Zumindest seit langem. In Zeiten der Pest war das anders. Aber heute? Alles hätte ich für möglich gehalten, Kriegsszenarien, Biowaffen – aber nicht so etwas Banales, dass sich über die globalen Wirtschaftszusammenhänge verteilt und alles mitreißt. So leise hier bei uns angekommen. Soviel Ungleichzeitigkeit verbreitend, denn wir können derzeit die unterschiedlichen Zeiten – Vergangenheit und Zukunft auf der Ausbreitungskarte des Covid19 – auch so ein schöner tralfmadorischer Name – sehen, sie ist räumlich geworden. Nur die Gegenwart fehlt, bezeichnenderweise. Diese Ungleichzeitigkeit ist aus unseren Lebensweisen entstanden, als Gefahr, die einen verwundert zurücklässt, dass sowas nicht andauernd passiert. Danach wird es jeder für möglich halten. Eine Jahrhundertkatastrophe, die mich Ihre Gelassenheit suchen lässt, ihre tralfamadorische Philosophie. 

Ich kann nicht einfach aufbrechen und bin dann woanders und sehe es aus einer anderen Perspektive, aber ich habe das Internet. Und das Internet sagt mir, ich bin vermutlich von lauter Zeitspastikern umgeben. Doch das macht uns noch lange nicht wirklich zu einer Gemeinschaft. Nur zu einer Überlebensgemeinschaft, aber das ist fragil, wie Du weißt.

Ich habe ein schlechtes Gedächtnis, habe ich das schon geschrieben? Aber dafür stelle ich mich ziemlich schnell auf neue Situationen um, als freie Schriftstellerin, wie es so schön heißt, muss man das ja auch. Auf neue Situationen und Sprachen. Schon so mancher Dialekt ist mir dabei so verloren gegangen, das ist das, womit ich den Spracherwerb bezahle, anscheinend. Und die Gelassenheit dabei nimmt mit den Jahren ab. Auch hier habe ich mich schnell umgestellt, als wäre das hier wirklich meine alltägliche Welt. 

Ich fahre über die Felder auf staubigen, steinigen Traktorenwegen mit einem nicht ganz dafür geeigneten Fahrrad und sehe die riesigen Landwirtschaftsfahrzeuge, Tracker mit Eggen und Gülletanks über die Felder fahren, es ist so, als würde ich in einem Film von James Benning leben. Mitten in der Menschenleere, aber so sieht es hier meist aus, weiß ich. Hier im ehemaligen Zonenrandgebiet war das immer schon so. Auch der Biobauernhof mit seinen 400 Kühen ums Eck ist nicht neu verwaist. Man fährt wie immer hin, trifft wie immer niemanden, nicht einmal den Hofhund mehr, ist mit 400 Kühen alleine und darf Milch abzapfen. Doch alles sieht anders, wenn man weiß. Wenn man weiß, wie sich die Städte verändern. Der Grund, warum ich hierhergefahren bin, waren nicht nur meine Kinder, sondern auch die Möglichkeit zu haben, zu sehen, wie die Städte nicht zu verwaisten Landschaften werden, vollgesteckt von Menschen. Wenn ich mir vorstelle, wie die Leute eng an eng in Berlin dieser Einsamkeit ausgesetzt sind, wenn das Zentrum der Menschenleere ins Herz der Großstädte rückt. Ich halte ja den Kontakt. Ich spreche mit ihnen, die dort auf ihren Skypebildschirmen nervös wirken, alarmistischer, unsere Gespräche werden merkwürdig, ständig habe ich das Gefühl, den Ton nicht zu treffen. Ich mache mir hier ja was vor, z.B. dass alles wieder werden könnte, dass alles so weitergehen könnte wie vorher, auch wenn ich das nicht möchte.

Ich schreibe Ihnen ja wie eine Alzheimerpatientin, so sagt man doch, also von Vergesslichkeit betroffen, immer wieder formulierend: »Man hat es nicht kommen sehen, man hat es nicht kommen sehen«, »man konnte sich das ja alles gar nicht vorstellen« und: »Das ist wirklich unglaublich!« Ja, Schluss hier mit dem Sehertum der Literatur, der Kassandrafähigkeiten – ich habe es eben nicht kommen sehen, ich habe vor zehn Jahren Lars Claussen, dem Begründer der deutschen Katastrophensoziologie, zugehört, wie er sagte: »Sie haben in Deutschland nach der Beendigung des kalten Krieges alle Hilfskrankenhäuser abgeschafft, ich halte das für einen Fehler.« Das habe ich mir angehört und mir nichts dabei gedacht. Jetzt wird nichts mehr so sein, wie es einmal war, doch je öfter ich den Satz höre, desto weniger kann ich ihn glauben. Es tut immer gut, sich in anderen Zeiten auszuruhen, wie schaffen Sie das?

Lieber Mr. Pilgrim, man hat mich vorgewarnt, mir gesagt, Sie werden sich nichts anhören, Sie leisten also fiktive Figur gute Arbeit, Sie leisten ja wirklich gute Arbeit und hätten insofern anderes zu tun, nicht nur als Gesundheitsminister, der Sie ja gar nicht sind. Meiner Meinung gehört das Zuhören aber auch zu ihrem Arbeitsbereich. Sehen Sie, hier verlängern sich gegenwärtig die Todeslisten, auf deren Höhe ich mich nicht bewegen kann und will. Ich stecke da sozusagen nicht drin. Ich stehe nicht im Spital derzeit. Ich befinde mich auch nicht hinter einer Supermarktkasse, notdürftig mit einem Plexiglas aus dem Baumarkt geschützt, ich bin keine Heldin und keine Über-Achtzigjährige aus dem Elsaß oder der Lombardei, die nochmal Heldinnen der anderen Art sein müssen, weil sie auf die medizinische Versorgung verzichten müssen. Wobei das ja nicht ihre eigene Entscheidung ist. Aber sie bringen sozusagen das Opfer. Hier bei mir vergeht die Zeit mit Kindern, die in irgendeine Zukunft hineinwollen, und ich habe so wenig zur Verfügung, so wenig, vielleicht nur die ihre, nur den tralfamadorischen Fatalismus: Es ist wie es ist. Und wenn Sie sich fragen, wem ich sonst so schreibe, oder wem ich zu schreiben gedenke, dann vielen mir schon so einige ein, und es werden schon Figuren dazukommen, die aus diesem Fatalismus wieder hinausführen können, Robinson Crusoe ist hoffentlich nicht dabei, oder Büchners Danton. Sie, da bin ich mir sicher, können mich zurückführen in einen Alltag, das verspreche ich mir von Ihnen. Mehr nicht.

Und so grüße ich Sie in tralfamadorisch gegebener Ehrerbietung,
Ihre in nervöser Gleichzeitigkeit verbleibende
noch beinahe gänzlich unfiktive
Kathrin Röggla

Solz, den 27.3.2020

 

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