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Ein Brief von Monika Rinck

Monika Rinck, geboren 1969 in Zweibrücken, Studium der Religionswissenschaft, Geschichte und Vergleichenden Literaturwissenschaft, lebt als Autorin in Berlin. Sie veröffentlichte u.a. »Begriffsstudio 1996–2001«, »Ah, das Love-Ding!« (2006), »zum fernbleiben der umarmung« (2007), »Helm aus Phlox« (2011; gemeinsam mit Ann Cotten, Daniel Falb, Hendrik Jackson und Steffen Popp), »Honigprotokolle« (2012) und »Risiko und Idiotie« (2015). Für ihre literarischen Arbeiten wurde Monika Rinck u. a. mit dem Ernst-Meister-Preis 2008, dem Georg-K.-Glaser-Preis 2010, dem Kunstpreis Berlin, Literatur 2012, dem Peter-Huchel-Preis 2013, dem Kleist-Preis 2015 und dem Ernst-Jandl-Preis 2017 ausgezeichnet.

01. April 2020
Lieber Freund, 

 

Tag Elf. Auch hier ein kühler klarer Tag, ich wachte sehr früh auf, Hunde heulen, wunde Eulen legen Eier in den Turm, sang Kreisler über zwei schlaflose alte Damen, und irgendwie kam ich mir seelisch aufgeraut vor, angestrengt – wie eine wunde Eule stand ich schließlich wieder auf, astronomische Dämmerung, halb fünf, guten Morgen, was ist das. 

Thinking has to be called into existence to cope with thoughts, hat der Psychoanalytiker W.R. Bion einmal irgendwo geschrieben – es braucht das Denken, um mit den Gedanken fertig zu werden, und es ist, als fehlte mir in diesen Tagen das Denken für eben die Art von Gedanken, die mich in diesen Tagen bestürmen. Ich kann mich nicht konzentrieren. Die Gedanken sind da; auf erschöpfende, leere und unpersönliche Weise. Wird es besser, ändert sich der Raum, in dem sie sich bewegen, jedoch nicht die Gedanken. Wie auch? Die bleiben auf der realistischen Seite, was prinzipiell zu befürworten ist. Ich unterrichte zwei Mal pro Woche von hier aus in den USA und lese die Gedichte, die ich auf den Lehrplan gesetzt habe. Andere Gedichte lese ich nicht, was ich zwar theoretisch bedauere, aber nicht änder. Es ist jetzt halt so. 

Dann verschickt Thomas Höllmann, Sinologe und Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, seit wenigen Tagen seine Übersetzungen antiker chinesischer Gedichte per Email, um sich, wie er schrieb »von wichtigeren Dingen abzulenken«. Ich könnte im Moment gar nicht hierarchisieren, was wichtigere und was weniger wichtige Dinge sind (von finanziellen Zwängen einmal abgesehen), bin aber sehr dankbar, dass ich diese Übersetzungen lesen kann. Deswegen will ich sie hier teilen. Meine Wahrnehmung kommt zu sich, ich sehe die lange Strecke, die zwischen mir und diesen Gedichten liegt. Schon allein dies gibt eine eigentümliche Beruhigung, das Bewusstsein der vielen Schritte der Vermittlung, die zwischen meiner Lektüre des Gedichts und seiner Abfassung liegen. Sagt man wirklich »Abfassung«? Es erscheint mir gerade ein wenig grob.

Was ich sagen will: Ich kann die Dauer denken, womöglich nahezu verstehen. [Natürlich nicht.] Doch schon allein die Vorstellung dieser langen Zeit ist mir ein Trost, das Jahr 80! Blitzblende. Sehr gut ist: Thomas Höllmann flankiert seine Übersetzungen durch knappe Erläuterungen: konzis, gelehrt, dosiert. 

Im Schnee

Nach der Schlacht wimmern Scharen neuer Totengeister,
und ich raune, alt und allein, meine Klage vor mich hin.
Tiefe Wolken ziehen ungeordnet durch die Dämmerung,
vom Wind getrieben stieben Flocken auf in wildem Tanz.
Wozu taugt eine Kelle bei leerem Krug,
wen wärmt am Herd die geflunkerte Glut?
Keine Kunde gibt es mehr aus etlichen Provinzen!
Traurig sitze ich da und schreibe Zeichen in die Luft.

Du Fu (756)

Hinweis: Im Verlauf des Jahres 756 waren weite Teile des Landes unter die Kontrolle von Aufständischen gelangt. Darauf spielen auch die ungeordneten Wolken an. Die zweite Hälfte des Gedichts soll die Absurdität einer Situation schildern, in der es für die Bevölkerung kaum belastbare Informationen gibt und die Imagination den Blick auf die Realität verstellt. Für das Füllen der Becher mit Bier oder Wein wurden häufig Schöpfkellen verwendet.

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Lied von der fünffachen Abscheu
Den Hügel bin ich hinaufgestiegen,
bäh,
mit Blick hinab auf die Residenz,
bäh, 
mit ihren hoch aufragenden Palästen,
bäh!
Das Volk aber darbt, 
bäh,
dauerhaft für alle Zeit,
bäh!

Liang Hong (um 80)

Hinweis: Die Aussicht auf Luoyang hatte man von der nördlich der Hauptstadt gelegenen Beimang-Hügelkette. 

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Das »Lied von der fünffachen Abscheu«  ist eines meiner liebsten aus der Sammlung der verschickten Gedichte. Wann immer ich in Erwägung ziehe, das Haus zu verlassen, denke ich an das Lied von der fünffachen Abscheu. Das ist natürlich hermeneutisch nicht richtig. Seis drum. Als ich heute mit dem Rad aus der Hofeinfahrt kam, stand da ein schlanker Mann, rauchte, hustete und spuckte in meine Richtung, ungezielt zwar, trotzdem unangenehm. Die Leute im Supermarkt halten wenig, bis keinen Abstand. Oder ich bin zu nervös, inzwischen. Ich weiß, dass ich nicht das darbende Volk bin, ich weiß, dass ich nicht im Jahr 80 lebe, ich weiß, dass ich privilegiert bin, ich weiß, dass man von der nördlich der Hauptstadt gelegenen Beimang-Hügelkette die Aussicht auf Luoyang hatte – und ich weiß auch, dank der Übersetzungen, dass ein Gedicht, das im Jahr 80 von Liang Hong geschrieben worden und 1940 Jahre später von jemandem in München übersetzt worden ist, mir im Jahr 2020 hilft, weiterzulesen. Das ist gut. Ein Fenster, das sich öffnet, am Tag Elf. 

Ich schicke herzliche Grüße
winke aus der Ferne,
sage fünfmal Bäh
und bin jetzt hier,
von Herzen – Deine M 

 

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