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Ein Brief von Seid Serdarević

Seid Serdarević ist Cheflektor des Verlags Fraktura.

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

zuerst begann die Pandemie zu grassieren, dann kam das Erdbeben, das uns in Zagreb und Umgebung heftig erschüttert hat, und die Folgen dieses Erdbebens werden wir alle und mit uns auch unsere gesamte Kulturszene monate-, vielleicht sogar jahrelang spüren. Bilder von der Unterstadt und der Oberstadt sehen heute völlig anders aus als gestern, und die Straßen und die Plätze meiner Kindheit sind nicht mehr dieselben, so wie auch die Welt nach Corona nicht mehr dieselbe sein wird.

Die letzte große Pandemie, die mit der heutigen vergleichbar ist, spielte sich am Ende des Ersten Weltkrieges ab, der einst der Große Krieg genannt wurde, und zuvor hatten ähnliche Pandemien regelmäßig die Welt heimgesucht, schon seit altgriechischen Zeiten. Zeugnisse darüber finden wir sowohl in den Chroniken als auch in Werken der Literatur. Das bedeutendste Literaturwerk, das die Isolation beschreibt, die eine Epidemie verursachte, ist Boccaccios Dekameron, ein klassisches Werk, auf das zurückzukommen sich sehr lohnt – vergnüglich, humorvoll, weltlich. Eine Zeit der erzwungenen Isolierung, eine Zeit, in der alle kulturellen Ereignisse abgesagt und die Restaurants und Cafés geschlossen werden, ist vielleicht ein guter Anlass um innezuhalten und zu versuchen, jeder für sich selbst Prioritäten zu setzen, die uns irgendwann in dieser digitalen Ära verloren gegangen sind.

Es ist bemerkenswert, dass wir auf ein Mal die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zu schätzen beginnen – das öffentliche Gesundheitssystem, Solidarität, Siege, die nur eine Gemeinschaft erreichen konnte, aber ebenso können wir beobachten, dass die uralten Atavismen und Ängste immer noch in uns schlummern. Ängste, die der französische Historiker Jean Delumeau in seinem Meisterwerk Angst im Abendland – Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts beschrieben hat. Dieser geniale Denker ist leider zu Beginn dieses Jahres verstorben, so dass er nicht mehr erleben konnte, wie sich all das, worüber er geschrieben hat, auch in der heutigen Situation widerspiegelt – die Schließung der Grenzen, die Angst vor den Anderen, die Angst vor dem Fremden.

Uns stehen zweie Optionen zur Auswahl: Fehlgeleitet von Angst können wir den Verstand verlieren, denn die Angst ist der Mörder des Verstands, wie die Schwestern der Bene Gesserit in Dune, einem der besten SF-Werke, die je geschrieben wurden, zu sagen pflegten. Oder wir können rational über alles nachdenken und uns selbst verändern, und zwar nicht nur vorübergehend, sondern andauernd, und dann, nachdem die Heimsuchung durch die Seuche hinter uns liegt, beginnen, Schritt für Schritt die Welt und uns selbst neu zu gestalten. Damit wir imstande sind, den ersten Schritt zu tun, müssen wir begreifen, dass wir ein Teil der Natur sind, dass wir nicht nur von ihr, der Natur, nehmen können. Für diesen Schritt müssen wir uns den Büchern, dem Wissen, dem Lesen und der Kunst zuwenden. Die Wissenschaft verleiht uns Rationalität und die Kunst Empathie und Emotionalität, und erst die Einheit dieser drei Elemente macht uns zum Menschen.

Lasst uns einander in dieser Epoche der großen Herausforderungen Geschichten erzählen, lasst uns Geschichten lesen, die uns die besten Erzähler hinterlassen haben, denn die Geschichten sind das, was die Geschichte erschafft, und ohne sie wären wir nur unvernünftige Wesen, die sich lediglich um sich selbst Sorgen machen im Jetzt und Hier und die nicht imstande sind, über die Vergangenheit und die Zukunft zu reflektieren.

Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, bleiben Sie gesund, achten Sie auf sich selbst und Ihre Nächsten,

Seid Serdarević

 

Aus dem Kroatischen übersetzt von Alida Bremer.

 

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