Extras

Ein Brief von Thomas Stangl

Thomas Stangl ist ein österreichischer Schriftsteller.

Seuchenbrief aus dem Jahr 2020 an meinen Simmeringer Opa

Lieber Opa,

ich schreibe Dir aus der Distanz, Du bist seit fast fünfzig Jahren tot und ich kenne Dich fast nur aus Erzählungen. Vielleicht sprechen wir kaum noch dieselbe Sprache, und ich nehme an, Du hörst auch nicht mehr besonders gut, was alles an verstreuten und verwischten Informationen und Geräuschen aus der Welt der Lebenden an dein Ohr kommt.

Ich schreibe Dir aus einem Zeitalter der Distanz, wir sind seit Jahren gewohnt, fast alles über unbestimmte Entfernungen hinweg tun zu können, alles, was Du in Deinem Jahrhundert zu Fuß oder in direktem Gespräch erledigt hast, aber das erkläre ich nicht weiter, wir sind es jedenfalls gewohnt und genießen es, die Gesichter nur noch auf Bildschirmen oder gar nicht zu sehen. Und das ist nun auch gut so, sonst würde alles auseinanderfallen. 

Jetzt dürfen wir einander kaum noch berühren. Jeder kann ein Virus in sich tragen. Jeder weiß, dass er töten kann, ohne es zu wissen, mit einem Händedruck, einem Kuss. Wenn ich jemandem begegne, auf der Straße oder im Supermarkt (es gibt keine Greißler, Kräutler oder Milchfrauen mehr, man muss beim Einkaufen nicht mehr sprechen), dann weiche ich möglichst großräumig aus. Ich halte unwillkürlich den Atem an oder atme jedenfalls nur noch vorsichtig ein, den Kopf abgewandt. Heute habe ich mich bei dieser Art zu Atmen ertappt. Viele gehen nur noch mit Atemschutzmaske aus dem Haus. 

Eigentlich geht es uns gut, besser als es Dir je gegangen ist, aber wir ahnen, dass wir dabei sind, alles zu verlieren, naja, wir fürchten es, ohne es so recht zu glauben, und lesen in den Zeitungen von steigenden Totenzahlen an diesem und jenem Ort in der Welt, Orte wie Mailand, Madrid oder New York, die uns viel näher sind, als sie es Dir waren. 

Manchmal erscheint es uns wie eine Apokalypse, aber es ist seltsam gemütlich. Die Apokalypse hätte ich mir weniger gemütlich vorgestellt, du sicher auch, vieles, was Du erlebt und überlebt hast, sah eher nach Apokalypse aus. Aber wahrscheinlich ist es nur eine Probe, unsere gemütliche Apokalypse, ein Schauspiel für Privilegierte, eine Apokalypse, die zu uns passt. Deine Enkel und Urenkel sind nämlich Privilegierte geworden, du hast es in deinen letzten Jahren vielleicht noch geahnt, wir leben in großen Wohnungen, nicht auf Zimmer und Küche mit Gang am Klo so wie Du, können um die Welt reisen und immerzu einkaufen, was auch immer wir möchten.

Wahrscheinlich hast du dir so etwas wie eine Apokalypse gar nicht vorgestellt, Katastrophen waren dir vertraut, aber Du wusstest auch oder musstest lernen, dass es nach Katastrophen irgendwie weitergeht. Wir dagegen sind besessen von der Apokalypse; etwas Wirklicherem, Endgültigen, denn unser absurdes Glück scheint uns fast unwirklich, so wie es ist, kann es doch nicht weitergehen; wir haben die Apokalypse schon dauernd geprobt, still in Büchern, spektakulär mit Explosionen, Außerirdischen, dramatischen Rettungsszenen in ein paar guten und vielen schlechten Filmen, wir haben alles so oft geprobt, dass wir es in unsere Unwirklichkeit hineingezogen haben, wenn wir sterben, glauben wir es nicht; jede große, jede endgültige Katastrophe ist nur ein Thema, über das in den Medien berichtet und nachgedacht werden muss und das schon im Vorhinein seinen Platz in »den Geschichtsbüchern« finden muss.

Aber was heißt das für Dich, »die Medien«? Bis Du fünfzig Jahre alt warst, hast Du das »Kleine Blatt« gelesen, eine sozialistische Boulevardzeitung, dann kam erst das Radio dazu, zuerst mit Nazi-Propaganda, bald auch heimlich die sogenannten Feindsender.

Auf der Simmeringer Hauptstraße grüßtest Du alle Leute, mit Mahlzeit oder Hawedere (Habe die Ehre). Wir kennen die Leute auf der Straße nicht. Wir lächeln uns an oder schauen verschämt an uns vorbei, weil wir es komisch finden, wie wir einander großräumig ausweichen. Wir haben nicht ganz den passenden Gesichtsausdruck für die Situation gefunden.

Ich weiß, was uns als Katastrophe oder Bedrohung erscheint, war bis vor ein paar Jahrzehnten für die meisten Menschen der Normalzustand: die Möglichkeit von Seuchen; die Gewissheit, keine Hilfe zu finden, wenn man zu arm, zu alt, zu krank war. Für viele auf der Welt ist jetzt noch nicht anders (warum sage ich »noch«, als würde ich an den großen Fortschritt glauben?).

Ich erzähle Dir nicht Deine Biographie, alles das ist noch da, kaum vergraben, ich erzähle sie mir selbst und allen, die mitlesen. Du hast fast Dein ganzes Leben lang in Simmering gewohnt, am »Arsch von Wien«, wie Du Deinen zwischen Schlachthof und Friedhöfen eingezwängten Bezirk genannt haben sollst. Du bist in den Krieg geschickt worden, den ersten Weltkrieg, bist dort verwundet und fast getötet worden, in der Gefangenschaft fast verhungert (die russischen Bauern haben Dich gerettet), bist zu Fuß aus Sibirien nach Moskau gegangen, Dein kleiner Bruder, der Dich abgeholt hat, aus einer polnischen Stadt (die ich fast hundert Jahre später einmal als Tourist besucht habe), der Dir liebste Deiner Brüder, ist dort gestorben, an der Spanischen Grippe, dieser Seuche, von der wir heute wieder alle reden, Du bist allein nach Hause gekommen. 

Das war normal, so ging es fast allen. 

Du bist ein paar Jahre später selbst beinah an einer Lungenentzündung gestorben, der Arzt aus dem Nachbarhaus, der Dich dreimal täglich besuchen kam und Dir das Leben rettete, war wenig später für die Vernichtung vorgesehen und musste aus Wien flüchten (ich habe im Internet seinen Namen gefunden und gesehen, dass er überlebt hat und nach New York gekommen ist). 

Du warst vierzig Jahre lang als Heizer im Schlachthof Schwer- und Schichtarbeiter, bist 1942 (ohne es Deiner Familie zu sagen) der Kommunistischen Partei beigetreten und 1945 wieder ausgetreten. Ohne Deine Ruhe, Gelassenheit und Leichtigkeit (erzählt Deine Tochter oft) wäre die Katastrophe, als die sich trotz der ersehnten Befreiung das Kriegsende für Euch anfühlte, nicht so glimpflich an Euch und an Euren Nachbarn vorbeigegangen. Die Straßen damals voller Bombenkrater und die menschenleeren Straßen heute. Die Nächte in den Kellern und die Abende heute mit Bier aus dem Kühlschrank und vollen Bücherregalen (aber ich arbeite nicht in einem Krankenhaus, arbeite oder wohne nicht in einem Altenheim; einem der Altenheime, die, in gewöhnlichen Zeiten, freundlich und persönlich geworden sind und nicht mehr die stinkenden Massenlager für Sterbende wie früher; die sich aber jetzt für Pfleger und Bewohner in Räumen der Angst verwandelt haben).

Als deine Frau, meine Großmutter vor kaum mehr als fünfzig Jahren, 1967, todkrank war, wollte kein Wiener Krankenhaus sie aufnehmen, eine krebskranke Fünfundsiebzigjährige. In dieser Zeit ist an den Eingängen der Krankenhäuser leichthin über Leben und Tod entschieden worden, und man konnte von keinem etwas älteren Arzt genau wissen, ob er nicht fünfundzwanzig Jahre früher ein Mörder war. Niemand kümmerte sich darum, Menschen zu retten, die nicht nur krank, sondern auch alt und arm waren. Die Systeme, deren Zusammenbruch wir fürchten, gab es nicht; niemals zuvor gab es sie, und in großen Teilen der Welt gibt es sie auch heute noch nicht oder kaum; nur die Abfolge von Katastrophen und einer fragilen Normalität. Wie wird sich die Pandemie in diesen Teilen der Welt auswirken, wir wissen es noch nicht und wollen es uns nicht vorstellen.

Wir vermissen – auf ein paar Wochen oder länger – unser normales Leben, die Restaurants, die Kinos, die Theater, die Läden, in denen alle Waren aus der ganzen Welt zu kaufen sind (der französische Käse, der peruanische Spargel, der südafrikanische Rotwein sind im Supermarkt aber eh noch erhältlich): Wir könnten uns all das immer noch leisten, die Seuche ist nicht sichtbar, es liegen keine Toten auf den Straßen, da ist nur unser Wissen. Die abstrakte Gefahr. Ein perfektes System des Wissens und ein perfektes System des Konsums und der Unterhaltung stehen sich im Wege. Ach, diese Perfektion, an die wir gewöhnt sind und die Dir noch paradiesisch erschienen wäre, die Geschmeidigkeit, mit der die Apparate der Gesellschaft, der Wirtschaft, die Maschinerien des Glücks und der Glücksversprechen, der Unterhaltung, des Konsums funktionieren und uns alle leben lassen, als gäbe es keinen Tod, als könnten wir uns für immer an Bildern, an Markennamen festhalten, und all das wäre stärker und reicher als unsere eigenen kleinen Körper, noch die Krankheiten wären alle durchschaubar und heilbar; es gäbe all das nicht, was wir nicht sehen, weil wir es nicht sehen wollen...

Aber ich rede leicht daher. 

Ich arbeite nicht in einem Krankenhaus und muss täglich die Ansteckung fürchten, ich muss auch nicht durch eine Glasscheibe einem Angehörigen zuschauen, dem ich nicht die Hand halten darf, während er erstickt, den ich nicht streicheln darf, der diesen endlosen Moment äußerster Einsamkeit erlebt. Aber Du kennst das Sterben, und Deine Töchter waren nicht bei Dir, als Du starbst; Du kennst das, Du hast uns diese Erfahrung voraus. 

Du hast Erfahrung mit dem Weiterleben nach Katastrophen und der gelassenen Erwartung des Unglücks. Du hast nie geglaubt, dass es einfach vorbei ist, warst auf einen neuen Krieg, neue Katastrophen gefasst; so wie diese hättest Du sie Dir aber nicht vorgestellt: Dass uns das Unglück nicht einfach trifft, dass es unsichtbar bleibt; dass es keine Schuldigen gibt; sondern dass wir es verstehen – aber auf einer abstrakten vermittelten Ebene; dass wir es verstehen, ohne es zu erleben. Und die Distanz lernen und einüben.

Und weil wir keine Schuldigen sehen und nichts greifen können, nichts erleben, werden wir, wenn wir herauskommen (und im Grunde zweifeln wir nicht daran, dass wir herauskommen und auch das nur eine Probe war) womöglich nicht mehr herausfinden aus dem Ausweichen; werden Angst vor allen anderen haben; überall die Ansteckung wittern, uns nur noch mit Masken ins Freie wagen; endgültig Psychopathen sein. Irgendwie finde ich die Vorstellung auch lustig.

Aber ich rede leicht daher: mit meiner Lust am Schreiben, an den Worten, mit meinen schönen Wörtern, ich bin einer, der schöne Wörter hat, ich rede daher und weiß, dass Du das gar nicht hören willst und dass es auf eine Kunst der schönen Wörter und des Verstehens (auf dieser Ebene, auf der ich eben verstehen kann) nicht ankommt.

Ich denke jetzt an Deine Ruhe, Gelassenheit und Leichtigkeit. Du hast Dir keine großen Gedanken gemacht, hättest nie freiwillig einen Aufsatz oder einen Brief geschrieben, Du hattest keine Ideologie und keine Glauben. aber Du wusstest – das lese ich aus dem, was man mir von Dir erzählt hat, heraus – , dass man auf dem Moment balancieren muss, mit einer Ruhe, die auf nichts gegründet ist, dass man so auf dem Moment, dem Augenblick der undurchschaubaren Katastrophe balancieren kann. 

Vielleicht können wir das auch.

Mahlzeit, Opa, mach‘s ganz gut, ich grüße Dich aus der Welt der Lebenden, also aus sehr, sehr großer Entfernung,
Dein Enkel Tommi

 

PROJEKT WEITERMACHEN