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Erfahrungsbericht aus der Schwellenzeit

Die Schriftstellerin María Cecilia Barbetta war Residenzgast des Aargauer Literaturhauses von Januar bis März 2020. Für das Literaturhaus entstand der Text »Schwellenzeit«.

Sicher ist sicher. Ähnlich wie einer, der sich in dem trügerischen Gefühl wiegt, auf das Kommende – ganz gleich, wie dieses Kommende auszusehen vermag – einigermaßen gut vorbereitet zu sein, indem er im Vorfeld seines Eintreffens große Vorräte an Lebensmittel anlegt, hatte ich mir die Fortsetzung der Monumentalstudie über Leben und Werk H.P. Lovecrafts bereits besorgt, einen Wälzer von Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch, der für alle eingefleischten Fans des sogenannten Einsiedlers von Providence ein schwerer Glücksfall zu sein verspricht, nicht nur, weil der zweite und letzte Monsterband ähnlich wie sein Vorgänger mit seinen stattlichen 669 Seiten die Zahlenfetischisten unter den Verfechtern des Okkulten kurz vor Schluss, nach der Überschreitung jener unsichtbaren Schwelle, worauf die Zahl des Tieres als eine Art Menetekel des Grauens hindeutet, mit der Gewissheit in den eigenen Alltag würde wieder entlassen haben, die Gefahr am Ende doch – zumindest vorerst und wie auch immer, theoretisch und bis auf weiteres ... – überstanden zu haben. Aufgrund des überall verhängten Lockdowns, aufgrund der angepassten Öffnungszeiten und langen Schlangen in manchen Läden hatte ich kein Risiko eingehen wollen und lieber heute als morgen zugeschlagen, obwohl ich die Lektüre des stolzen Auftaktbandes noch vor mir hatte. Jetzt war Ruhe in mir, jetzt konnte auch ich mich daheim eingraben. Ich war kaum über die Vorbemerkung der Eröffnungsschwarte hinausgelangt, als sich prompt auf Seite 40 das anbahnte, was die Literaturwissenschaft einhellig als Riss apostrophiert, um dadurch den Einbruch des Phantastischen in die reale Welt zu kennzeichnen, ja, es bar jeder Panikmache innerhalb eines logisch aufgebauten Gedankengebäudes zu verorten. Auch ich bin von Hause aus keine Befürworterin hysterischen Alarmschlagens; nur dass in diesem (meinem) Fall, den ich mir vorgenommen habe, nach bestem Wissen und Gewissen zu dokumentieren, das hinlänglich von der Sekundärliteratur untersuchte Eindringen des Phantastischen sich nicht wie sonst in der falschen realen Welt des Erdachten zutrug, sondern außerhalb. Auf dass wir uns in Anbetracht der aktuellen Weltkrise nicht missverstehen: Mit außerhalb meine ich natürlich drinnen, bei mir in der Wohnung, an einem sonnigen Nachmittag, an dem ich in meinem grünen Lesesessel Platz genommen hatte, nicht genüsslich, sondern apathisch eher, weshalb wahrlich nichts vermuten ließ, dass dieser Tag sich von den vorangegangenen maßgeblich unterscheiden würde, jedenfalls nicht, bis die Lektüre des erwähnten Buches meine unspektakulären vier Wände aus den Angeln hob. Die Passage, die für Abwechslung sorgte, indem sie nicht weniger als den Ausnahmezustand auslöste, ein Phänomen, bei dem die Experten, wie gesagt, lieber den Terminus Riss angewandt sehen würden, war ein Zitat aus dem regen Briefverkehr Lovecrafts. Der erwachsene Howard schildert an der Stelle rückblickend, wie dem damals Sechsjährigen die vielversprechende Bekanntschaft einer stolzen Dame, die ein Jahrhundert zuvor geboren war und sich demnächst anschickte, ihr rundes Jubiläum zu begehen, das ungeheure Gefühl eines kosmischen Sieges über die Zeit vermittelte. Diese kindliche Aufregung, der das Wissen um ein Geheimnis von elementarer Bedeutung vorausgeht, diese antizipierte schrecklich-schöne Erschütterung konnte auch ich verspüren. Eine Vorahnung bemächtigte sich meiner. Aus diesem ungeheuren Konvolut über das Unergründliche schien ein Funke übergesprungen zu sein. Mir war, als hätte mein rechter Zeigefinger, der fürs Blättern darin eingesetzt worden war, als Blitzableiter funktioniert. Mit einem Schlag war ich von einer mir fremden, zugleich mir irgendwie vertrauten Empfindung durchdrungen. Jenen in Ehren ergrauten Zeilen musste ein Energiestrom innegewohnt haben, eine verborgene Kraft, die mich im nächsten Augenblick dazu bewog, wie der Avatar eines blinden Sehers und ohne mich von meinem Lieblingsplatz im grünen Sessel entfernen zu müssen, den rechten Arm nach hinten zu strecken, mich an das Holzregal zu tasten, an die vielen Buchrücken, bis die Hand das kalte runde Metall spürte, das irgendwo inmitten des Bibliothekschaos sein staubiges Schattendasein fristete.
Ich blickte auf meinen Schoß. Kurzentschlossen klappte ich das Buch, die Büchse der Pandora, zu und dafür die versilberte, aus der Versenkung wieder hervorgeholte Taschenuhr meines Großvaters auf. Die Zeit, hatte ich soeben auf Seite 39 gelesen, sei Lovecrafts persönliche Feindin gewesen. Meine war sie doch auch, und dies, um bei der Wahrheit zu bleiben, nicht erst seit kurzem, sondern seit ewig und drei Tagen. Die Zeit und ich stehen auf Kriegsfuß, seitdem sich in jeder Zelle meines Körpers und in jeder Ecke meines Geistes die quälende Gewissheit ihres Vergehens (meines!, das meiner Liebsten!) eingenistet hat. Der Eingebung weiterhin gehorchend konsultierte ich mein Handydisplay, stellte die Zeit ein und zog die Uhr auf, bis die Feder hinreichend gespannt war. Nun starrte ich mit glänzenden Augen und pochendem Herzen auf dieses andere Blatt. Ich hielt unwillkürlich den Atem an. Der Sekundenzeiger war das erste, was sich regte. Es folgten der Minuten- und der Stundenzeiger. Eilfertig bewegten sich alle drei um das Ziffernblatt. Das verflixte Ding, das vor einer halben Ewigkeit seinen Geist aufgegeben hatte, funktionierte wieder. 

»Es reißt ab«, sagte meine Mutter, und in ihrer Stimme klang Verzweiflung mit. »Was sagst du?«

»Leg auf, Mama, ich rufe dich gleich zurück«, erwiderte ich. 

»Ich kann dich nicht verstehen. Es reißt ab«, klagte sie erneut, bevor ich die Verbindung unterbrach. Seit Ende März skype ich sie tagtäglich an. Die Zeitverschiebung zwischen Berlin und Buenos Aires beträgt aktuell fünf Stunden.

»Das kann nicht sein«, widersprach sie mir, als sie von der Uhr erfuhr. »Unmöglich.«

»Ist aber so. Sie ist sofort gestartet, Mama.«

»Das glaube ich nicht.«

»Glaub mir einfach.«

»Es muss ein Irrtum sein«, insistierte sie. »Als ich sie dir damals geschenkt habe, war sie kaputt. Weißt du noch?« Die Quarantäne macht ihr und meinem Vater sehr zu schaffen. Sie sind voneinander geschieden und leben beide allein.

»Ich weiß nur: Wunder gibt’s.« Mein Opa, der einstige Besitzer der Uhr, war libanesischer Abstammung und Anfang des vergangenen Jahrhunderts in Argentinien zur Welt gekommen. Meine Mutter mit ihren 75 und ich mit meinen 47 sind uns, was das betrifft, vollkommen einig: Mein Opa war der phantastischste Mensch, dem wir in unseren beider Leben werden begegnet sein. 

»Entsinn dich doch: Wir hatten die Uhr oft in Reparatur gegeben. Wegen des emotionalen Werts. Wir wollten, dass sie geht, auf Teufel komm raus.« 

»Schon klar.«

»Keine Chance. Erinnerst du dich nicht, wie viele Uhrmacher wir abgeklappert haben?«

»Alle bei uns. Samt und sonders.« 

»Ein Geschäft nach dem anderen. Die Uhr deines Großvaters ließ sich unter keinen Umständen in Gang setzen.« Als mein Opa ohne Anzeichen einer Krankheit 1996 verstorben war, exakt eine Woche, bevor ich Buenos Aires verließ, um nach Deutschland zu ziehen, hatte ich zu meiner Mutter etwas gesagt, das uns hätte trösten sollen und es natürlich nicht tat. Ich hatte behauptet, mein Opa, ihr Vater, würde fortan an zwei Orten gleichzeitig sein können. 

»Ich kann es dir nicht erklären, Mama. Ich weiß bloß, die Uhr lag all die Jahre hier rum, ohne dass ich ein einziges Mal auf den Gedanken gekommen wäre, sie zu testen, wahrscheinlich, weil ich keinen Zweifel hegte, wie sinnlos es gewesen wäre, bis heute, bis vorhin eben.« 

»Du bist dir sicher?«

»Sehr sicher.«

»Sie geht also.«

»Ja, Mama, sie geht. Sie funktioniert, und ich sage dir, was ich denke.«

»Na?«

»Ich denke, es ist ein Zeichen. Eins, das besagt: Das Leben geht weiter.« Ich sagte nichts von der existentiellen Angst, nichts von der Traurigkeit und Melancholie, die mich mit dem Einbruch der Dämmerung heimsuchten. Ich sagte stattdessen: »Ich habe mir zunächst die alten, liebgewonnenen Kratzer am Gehäuse angeschaut, dann die Krone herausgezogen. Es ist eine Handaufzugsuhr, Mama. Damit sie geht, muss man sie manuell aufziehen. Ich habe aus Vorsicht es bei ein paar Drehungen belassen.« 

»Nix mit Automatik; der Regelfall damals. Eine Uhr hatte eine Aufzugskrone ... «

»Ich lese sie wie eine Flaschenpost.«

»Die Uhr, eine Flaschenpost?«

»Eine Botschaft für uns aus einer anderen Zeit, Mama, aus einer vergangenen Ära, damit wir uns zurückbesinnen. Diese Uhr von Opa will uns an unsere Verantwortung uns selbst gegenüber erinnern. Als wäre nicht früher und nicht später, sondern jetzt, wo wir den Eindruck haben, auf uns zurückgeworfen zu sein, an der Zeit, unser Leben wieder in die Hand zu nehmen. Tag für Tag. Woche für Woche. Damit es weitergeht.«

»Hm ...«

»Glaubst du nicht?«

»Irgendwie doch.«

»Ganz schön merkwürdig, nicht? Die Uhr, die ähnlich wie Opa das Zeitliche gesegnet hatte, fängt just in dem Moment zu laufen an, wo alles um uns herum – die komplette Welt –stillsteht ... Warte mal ...«, sagte ich. Ich konnte plötzlich nicht ausschließen, dass meine Mutter nicht doch am anderen Ende der Leitung leise weinte. 

»Was machst du?«, fragte sie mit hauchdünner Stimme.

»Wenn ich die Uhr von Opa dicht ans Handy halte, kannst du sie vielleicht hören ... Hörst du, wie wundervoll gleichmäßig sie geht?«

»Wer hätte das für möglich erachtet?«

»Fachidioten, echt! ... Und weißt du noch was, Mama?«

»Was, mein Kind?«

»Ich schaue kurz nach und stelle fest: Bei mir ist bereits zwei Uhr nachmittags, aber dein Tag dort hat gerade erst begonnen.« 

María Cecilia Barbetta wurde 1972 in Buenos Aires geboren, wuchs in dem Einwandererviertel Ballester, in dem ihr Roman »Nachtleuchten« spielt, auf und besuchte dort die deutsche Schule. 1996 zog sie nach Berlin und blieb. Ihr erster Roman, »Änderungsschneiderei Los Milagros« (2008), wurde unter anderem mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. María Cecilia ...

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