Guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren,
im Vorfeld habe ich alle schon sehr nervös gemacht, weil ich darauf bestehen wollte, nicht so genau zu wissen, was ich heute Abend erzählen möchte, weil ich mich nicht hinter guten Formulierungen verschanzen und nicht vorgeben will, gebildeter oder intelligenter zu sein als ich bin, kein copy & paste von Zitaten anwenden möchte. Ich habe keine Lust auf postmodernen Beton und Zynismus, ich möchte so unsicher wirken wie ich bin, voller Zweifel und ohne Gewissheiten. Keine klare, durchgetaktete Erzählung abgeben, sondern eine mit Löchern und Fragezeichen.
Warum will ich das? Weil das meine Arbeitsmethode ist.
Weil aber alle so nervös geworden sind, habe ich es dann doch mit der Angst bekommen, und habe mir wenigstens ein paar Notizen gemacht. Aber eigentlich bin ich immer auf der Suche nach der Improvisation, dem Unsicheren und Fremden.
Ich versuche, mich an die Aufforderung aus dem Zen-Buddhismus zu halten, keine Konzepte zu haben, sondern immer wieder offen zu sein und nicht zuzumachen.
Das fällt mir nicht leicht, weil es eigentlich ein menschlicher Reflex ist, dichtzumachen, denn es droht Gefahr. Immer und überall. Verletzungsgefahr. Und über alles ein möglichst schnelles Urteil zu haben, diente ursprünglich ja auch ganz gut der Gefahrenabwehr. Groß, gelb, gestreift? Tiger. Ab und weg.
Die Aufgabe des Geschichtenerzählers, und als solcher begreife ich mich, ist jedoch, in den Dschungel zu gehen, sich dort umzuschauen, im Gebüsch zu liegen, neugierig zu bleiben. Vielleicht wird man nicht gefressen – und vielleicht fängt der Tiger an zu sprechen und von seinen Magenproblemen zu berichten.
Vielleicht auch nicht. Schreiben kann gefährlich sein.
Die Belohnung? Neugierig und offen sein führt im besten Fall zu Kommunikation – und zu einer Erzählung.
Das Konzept und die Vorbeurteilung, das Vorurteil, lassen mich zwar sicherer leben, aber sie schließen mich auch ein. Isolieren mich. Isolation statt Kommunikation und auch Inspiration.
Inspirare. Einatmen. Durch Neugier und Verzicht auf Konzepte bekomme ich Inspiration. Ich darf die Welt einatmen. Ich werde also auch Sie heute Abend einatmen. Inspiration ist das Gefühl, von sich selbst überrascht zu werden.
Wir hoffen beide darauf, der Erzähler wie der Zuhörer. Wir wollen uns lebendiger fühlen. Verbunden statt getrennt. Energie bekommen, statt sie zu verlieren. Etwas in unserem Inneren soll bewegt werden. Ich glaube, dass das unser beider Wunsch ist, aber wir Erzähler missachten das oft, und dann kommt man zum Beispiel aus dem Kino matter und erschlagener raus, als man reingegangen ist. Kennen Sie das Gefühl?
Movie, also Film, hab ich mal erfunden, kommt von to be moved. Bewegt werden. Unser Leben mit seiner unabwendbaren Routine und seinen Enttäuschungen friert uns ein, die Erzählung soll uns auftauen, unser Tiefkühlspinatgefühl auflösen.
Ich mache in meiner eigenen Arbeit keinen großen Unterschied zwischen Film und Literatur.
Der Erzähler und sein Publikum gehören unauflöslich zusammen, beide müssen wir uns ein wenig öffnen. Sie müssen mir ein bisschen vertrauen, und ich darf nicht zu große Angst vor Ihnen haben, dabei habe ich mich hier, in diesem Saal, schon einmal entsetzlich blamiert.
Das war auf der Buchmesse 2003, ich bekam den Deutschen Bücherpreis für meinen Roman ›Das blaue Kleid‹, ich durfte hier eine Lesung geben, war außer Rand und Band vor Glück. Hocherfreut habe ich Bücher signiert, bis mich jemand darauf hinwies, dass ich Leipzig mit b geschrieben hatte. Ich wurde bleich vor Schreck und Peinlichkeit. Woher kam dieser verrückte Lapsus?
Ich war noch in dem seltsamen Rausch, der entsteht, wenn man auf der Bühne gestanden und Applaus bekommen hat, das Adrenalin noch durch den Körper strömt. Meine Kindheit in Hannover tauchte vor mir auf, der erste Vorlesewettbewerb, den ich gewonnen hatte, ermuntert von meiner Lehrerin Frau Müller. Sie hatte erkannt, dass ich fürs Leben gern las und schrieb. Auf der Bühne zu stehen mit neun oder zehn Jahren und zu erleben, wie eine Geschichte aufgenommen wird, Reaktionen hervorruft, Kommunikation entstehen lässt ˗ das hatte mich umgehauen. Und dann in Leipzig genau dasselbe Hochgefühl, die direkte Linie von Frau Müller zur Buchmesse. In der Schule bekamen wir Leibniz-Kekse und knabberten kunstvoll die 52 Zähnchen ab. »Was isst die Menschheit unterwegs? Na, selbstverständlich Leibniz-Keks.« Leibniz hatte nach einer haltbaren Marschverpflegung für Soldaten gesucht, und die Firma Bahlsen hatte den Keks nach ihm benannt. Bei Bahlsen jobbten viele als Schüler und brachten tonnenweise Bruchkekse mit als Partyfutter. Im Hannoveraner Nieselregen radelten wir am Denkmal vom alten Leibniz vorbei, der einen auf viele Arten einschüchtern konnte, allein schon mit seinem Satz: »Beim Erwachen hatte ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, um sie niederzuschreiben.«
Ich hatte den Kopf in Leipzig also voller Leibniz … oder Leibniz-Kekse, und ich erzähle Ihnen das nicht als Entschuldigung, sondern um Ihnen zu zeigen, wie eine Erzählung entsteht, wie sie auftaucht aus dem Nebel der Erinnerung.
Alles Schreiben ist Unterwasserarbeit. Erinnerung.
Aber warum überhaupt schreiben?
Warum erzählen wollen?
Ich habe ein paar Vermutungen. Es braucht vielleicht eine gewisse Erschütterung in der eigenen Weltordnung, die einen dazu bringt, erzählen zu wollen, um die Welt wieder zu sortieren. Sich wieder auszukennen. Nicht verloren zu gehen. Sich zu verwandeln.
Meine Welt wurde mit drei Jahren durch die Geburt der Schwestern erschüttert. Nicht einer, sondern gleich zweien. Auf ein Geschwisterchen war ich gefasst gewesen. Aber nicht auf zwei! Das war vor der Erfindung des Ultraschalls …
Plötzlich saßen da also zwei Babys im Schoß meiner Mutter, und es gab keinen Platz mehr für mich.
Wir alle schreiben ständig an der Erzählung unseres eigenen Lebens, unserer story. Ich fing mit drei Jahren an, mir die Story des verstoßenen Kindes zuzuschreiben, das einsam und verlassen in der Welt ist.
Mit den Fakten hat diese Story nur bedingt etwas zu tun, wohl aber mit dem eigenen Gefühl. Und ganz gleich, wie sehr meine Eltern sich Mühe gaben, mir dieses Gefühl zu nehmen, besondere Dinge mit mir unternahmen, damit ich mich nicht vernachlässigt fühlen sollte – sie kamen nicht mehr gegen meine Story an.
Ich bestand auf ihr, war verletzt und beleidigt, isoliert und einsam. Auf jedem Foto aus der Zeit schaue ich wie ein waidwundes Reh – aber irgendwann begriff ich, dass ich jemand anders sein konnte, wenn ich nicht die Welt um mich herum betrachtete, sondern mich in den eigenen Kopf zurückzog. Ich konnte mich verwandeln! Ich fing an, das Blaue vom Himmel herunter zu erfinden, so sehr, dass es meinen Eltern ein wenig unheimlich wurde.
Zum Bespiel bestand ich darauf, meine Mutter fortan zu siezen und mit Nachnamen anzureden, denn ich war nicht mehr ihre Tochter, sondern ein ganz anderes, viel besseres und schöneres Kind mit langem Haar. Dafür trug ich auch in der Öffentlichkeit eine rote Wollstrumpfhose auf dem Kopf, und hatte so zwei wunderschöne lange Zöpfe. Dieses andere Kind verriet nun meiner Mutter, was diese Doris schon wieder angestellt hatte.
Das andere Kind führte meine Mutter zum Bett von Doris und zeigte ihr empört, dass Doris mit Kugelschreiber auf das Bettlaken unter dem Kissen gemalt hatte, was meine Mutter bis dahin nicht gewusst hatte.
Deutlich erinnere ich mich an das Triumphgefühl in der Rolle des anderen Kindes. Meine Eltern gerieten nur deshalb nicht in die Panik, weil mein Vater als Kind auch schon seltsame Geschichten erzählt und geschworen hatte, dass sie sich wirklich so zugetragen hatten.
Ein Psychologe wurde »unauffällig« zum Mittagessen eingeladen, um das phantasierende Kind zu beobachten. Er beschied, dass es sich um eine Phase handele, die vergehen würde. Zum Glück verging sie nie ganz. Mein Vater ist bis heute ein großartiger Erzähler.
Das war kurz nachdem Josef Breuer, Arzt aus Wien, die Sprechtherapie erfunden hatte, weil er erkannt hatte, dass wir alle eine Bühne in uns tragen, auf der wir die Geschichte unseres Lebens aufführen, um uns unserer selbst zu vergewissern und nicht in der Welt verloren zu gehen. Nicht durchzudrehen vor Angst. Die Welt ist furchterregend, und es gibt den Tod.
Ich erinnere mich, wie ich mit ungefähr vier Jahren aus einem Mittagsschlaf erwachte und mit einem Mal begriff, dass alle Menschen sterben müssen. Ich bin nie wieder darüber hinweggekommen.
Alle Geschichten handeln vom Tod. Sie versuchen uns zu trösten. Pfeifen für uns im Dunkeln.
Ich kam in die Schule und lernte lesen und schreiben. Dass 26 Buchstaben Welten entstehen lassen können, erschien mir wie das größte Wunder. Wie konnte es sein, dass man nur das Wort Katze schreiben musste, um ganz deutlich eine Katze vor sich zu sehen? Und wenn man dann schrieb: Ich laufe hinter der Katze her durchs Feld, spürte man das Gras an den nackten Beinen. Unglaublich.
Bis heute kann ich mich genau an den Augenblick erinnern, wo sich meine gesamte Welt mit einem Schlag ausweitete wie beim Urknall: Ich saß im Auto meiner Eltern auf dem Rücksitz und schaute gelangweilt aus dem Fenster, als ich plötzlich das Wort lesen konnte, das oben auf dem Haus stand: Matratzen-König. Und da noch eins: Versicherungen. Und dort: Lebensmittel. Es kam mir vor, als sei ich bis zu dem Tag blind gewesen. Plötzlich erkannte ich die Welt. Sie stand mir offen. Und ich konnte sie nicht nur selbst mit Wörtern füllen, sondern durch das Lesen entdecken, dass es auch andere Menschen gab, denen es ging wie mir.
Mit einem Mal hatte ich jede Menge Gesellschaft von anderen allein im dunklen Wald. Sprechende Pferdeköpfe an der Wand, Fallada, Fallada, da du hangest, vergiftete Mädchen, böse Zwerge, Brüder, die sich in Vögel verwandelten, alte Frauen, die einen fressen wollten. Immer und immer wieder ging es um die Überwindung von Angst. Vom Held sein im eigenen Leben. Rüstungen nützen da nichts, nur der Todesmut, sich dem Drachen zu stellen und den eigenen Tod zu riskieren. Das Fürchten lernen. Sich überwinden und verwandeln.
Alle Geschichten sind Transformationsgeschichten.
Ich verwandelte mich von morgens bis abends, ich war Pechmarie und Goldmarie, Dornröschen, die kleine Meerjungfrau und Sterntaler – ich befand mich in einem Märchendelirium, und zwang meine inzwischen drei kleinen Schwestern in meine Märcheninszenierungen.
Als Regisseur hatte ich nur das Problem, dass sie so klein waren, dass sie ihren Text nicht konnten. Sie konnten noch nicht zwischen direkter und indirekter Rede unterscheiden, was mich schier in den Wahnsinn trieb. Die Zwillinge sollten das Königspaar spielen, das sich weinend so sehr ein Kind wünscht. Sie waren drei Jahre alt. Der Text war einfach. Ihr sagt: Ach, hätten wir doch ein Kind. Sie wiederholten: Ach, hätten wir doch ein Kind. Nein! Ihr sagt nur: Ach, hätten wir doch ein Kind. Sie: Ihr sagt nur: Ach, hätten wir doch ein Kind.
Nein!!! Es war zum Wahnsinnigwerden.
Auch die Emotion in ihrem Spiel ließ zu wünschen übrig, aber da half kurz vor Auftritt eine Ohrfeige.
In den zugegebenermaßen sehr kurzen Augenblicken, wo die Inszenierung funktionierte, stellte sich bei mir Gefühl ein, das überwältigend war: Die Erzählung überdeckte nicht nur die Realität, sondern machte sie größer. Erträglicher. Wunderbarer. Sie brachte mich selbst zum Staunen.
Als Erzählung war alles erträglich. Also brauchte man nur aus allem eine Erzählung zu machen, und man konnte in dieser Welt überleben.
Je älter ich wurde, umso weniger ertrug ich diese Welt. Vietnamkrieg, Folterberichte aus allen Diktaturen dieser Welt, Unterdrückung, Gewalt, aber auch der ganz alltägliche Schmerz, den meine Eltern als Ärzte aus ihrer Arbeit mit nach Hause brachten. Wie sollte man das aushalten?
Wie hält der Mensch sein Leben aus? Diese Frage ist das Zentrum meiner Arbeit.
Als Teenager versank ich in Büchern, lebte in der Welt von Tschechow und Dostojewskij, lernte ihretwegen sogar Russisch, was in Westdeutschland äußerst verdächtig wirkte.
Wir hatten keinen Fernseher, die ganze Familie las nach dem Abendessen, an Büchern herrschte nie Mangel, wir durften in jedem Alter alles lesen, was uns in die Finger fiel. Durrell, Fitzgerald, Steinbeck, Lawrence, Grass, Lenz, Böll, Flaubert, Balzac. Bücher von Männern, die über Frauen schrieben. Fiel mir das auf? Ich glaube nicht.
Wer darf erzählen?
»Madame Bovary, cʼest moi«, sagte Flaubert bekanntermaßen auf die Frage, wie es denn sein konnte, dass er sich so gut in eine Frau hatte einfühlen können. Durfte man das auch umdrehen?
Ich fing an in Notizhefte zu schreiben, aber niemals hätte ich mich laut zu sagen trauen, dass ich schreiben wollte. Das wirkte so … überkandidelt, maßlos – und auch seltsam nutzlos – für eine Frau.
Das romantische Bild der armen Poetin gibt es nicht. Ingeborg Bachmann, Luise Kaschnitz las ich mit Begeisterung, aber als Vorbilder taugten sie nicht, eher als Ausnahmen von der Regel, fast wie Warnungen.
Aber ich hatte diese Sehnsucht nach dem Erzählen und die Vorstellung, dass man, um sich etwas ausdenken zu können, etwas erleben musste.
Wie ein Mann. Allein in der Fremde. Unbedingt wollte ich weg aus Hannover! Andere Sprachen sprechen! Jemand anders sein! Das wiederum vielleicht ein besonders weiblicher Traum, den die Zeit damals begünstigte. Plötzlich durften sich Frauen aussuchen, wie sie leben wollten. Das hatte die Erfindung der Pille geschafft, der allgemeine Wohlstand, der Frieden.
Jeder ist auch immer die Erzählung seiner Zeit. Ich durfte also als Frau darüber nachdenken, wer ich sein wollte. Welche Rolle ich mir selbst zuschreiben wollte. Die Rolle des Erzählers traute ich mich jedoch nicht einzunehmen.
Im Kino bekam ich erste Ideen, wie ich jemand anders werden konnte. Ich legte mir den Haarschnitt zu von Jean Seberg in ›Außer Atem‹, rauchte wie Jeanne Moreau in ›Jules et Jim‹, trug einen Lackmantel wie Marlène Jobert in dem Film ›Der aus dem Regen kam‹. Dem Film ist ein Zitat aus ›Alice im Wunderland‹ vorangestellt, das genau meinem damaligen Empfinden entsprach. »Entweder musste der Brunnen sehr tief sein, oder sie fiel sehr langsam; denn sie hatte Zeit genug, sich beim Fallen umzusehen und sich zu wundern, was nun wohl geschehen würde.« Ich sah der Erzählung meines eigenen Lebens zu, während ich es erfand – und habe nun doch zitiert ...
Zitieren als Bildungsnachweis. Das hatte ich geübt, jahrelang in der Schule Griechisch und Latein gelernt, und natürlich kann ich immer noch Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὃς μάλα πολλὰ πλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσε·vorbeten.
Wir kleinen Mädchen wurden jahrelang mit langweiligen Kriegsgeschichten von Männern gequält, von der ›Anabasis‹ bis ›De bello Gallico‹, während wir uns in den Pausen die Röcke hochschoben und »make love not war« an die Schule sprühten.
Die einzig interessante Figur war, wie ich fand, Odysseus, der zehn Jahre lang daran gehindert wird, nach Hause zu kommen, der aber, so mein Verdacht, gar nicht nach Hause wollte, weil ihn das Fremde so faszinierte.
Noch im ersten Satz wird davon erzählt, von all den vielen fremden Städten und Sitten. Noch mal auf Griechisch, um anzugeben: πολλῶν δ’ ἀνθρώπων ἴδεν ἄστεα καὶ νόον ἔγνω.
Das Angeben ist wichtig für die weitere Erzählung, Sie werden gleich sehen.
Ich wollte nach Amerika, weil es damals sehr weit weg war, und kurz bevor ich tatsächlich nach Kalifornien fuhr, weil meine liberalen Eltern zugestimmt hatten, dass ich dort Improvisationstheater studieren durfte, übte ich schon mal an einem jungen Mann, wie es sich bei meiner Rückkehr anfühlen würde: Ich erzählte ihm, ich sei nach zwei Jahren USA gerade wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Ich suchte nach deutschen Wörtern, hatte einen amerikanischen Akzent, beschwerte mich über das kleine enge Hannover. Ich steigerte mich so sehr in diese Rolle hinein, dass ich vor Heimweh nach den USA sogar weinte – und mich dann von ihm trösten ließ. Und abends setzte ich mich hin und schrieb es auf, 1. Person, Präsens: Wie sehr vermisse ich Amerika, mein Amerika.
Meschugge? Ein bisschen. Aber das Glück der Fiktion. Fingere. Sich etwas ausdenken.
Wer also fuhr dann nach Amerika? Der Erzählung meiner Zeit folgend eine schwer marxistisch angehauchte knapp Achtzehnjährige in einer Wildlederjacke, auf die ich sehr stolz war – und mit humanistischer Bildung im Gepäck.
Aber diese Erzählung funktionierte in Amerika nicht mehr. Ich beherrschte die Sprache nicht gut, meinen linken Politjargon, den ich doch aus dem Effeff beherrschte, konnte ich nicht übersetzen, meine humanistische Bildung zählte dort auch nichts – und meine Wildlederjacke wurde mir sofort geklaut.
Der Theaterwissenschaftsprofessor wollte nur wissen, ob Antigone eine good story sei oder nicht. Is it boring or not? Diese Frage hatte noch nie jemand gestellt. Durfte man das überhaupt? Es interessierte ihn auch nicht die Bohne, dass ich gefühlte zehn Jahre lang im Griechischunterricht das Original übersetzt hatte. Und als ich Antigone und Sophokles natürlich in griechischen Buchstaben schrieb, notierte er an den Rand meines Aufsatzes: show off. Angeber.
Ich war wie vom Donner gerührt – und begeistert. A good story! Es ging nicht mehr darum, Bildung anzusammeln und sie dann wiederzukäuen, um schlau zu wirken, sondern um das Handwerk des Erzählens. Und wenn es ein Handwerk war, war der Rückschluss doch, dass jeder erzählen lernen konnte. Und jeder erzählen durfte. Einfach so. Es gab anscheinend nur eine einzige Regel: nicht langweilen!
Schweres also leicht machen. Und nicht andersherum, wie wir Deutschen es so gut können. Humor als Mittel, wie Hefebakterien aus der Luft, die den schweren Teig der Realität aufgehen lassen und ihm Luftbläschen einhauchen. Alles wird leichter. Humor ist nie abstrakt, sondern orientiert sich knallhart an den Details der Realität. Das gefiel mir.
Ich versuchte also amerikanischen Humor und Unterhaltung zu lernen wie eine Fremdsprache, und wenn ich zu langsam war, wurde ich gerügt: Doris, you think too much. Das gewöhnte ich mir also ab. Let me entertain you. Wie Odysseus in der Fremde.
Als Schauspielerin war ich schlecht, weil zu schüchtern. Aber in der Fremde zu sein, gefiel mir. Alles erschien überscharf. Jedes Detail. Der eigene Blick plötzlich so genau. Alles erschien bemerkens- und erzählenswert.
Ich verliebte mich in einen jungen Mann aus New York, schmiss mein Studium, folgte ihm, war pleite und saß dann mit einem Mal allein in der großen Stadt in einem winzigen Zimmerchen zusammen mit sehr vielen Küchenschaben. Im Flur wurde jemand abgestochen, es wurde geschossen, Crack konsumiert und gedealt. Die Hannoveranerin, die ausgezogen war, das Fürchten zu lernen, bekam Angst. Die Erzählung von mir selbst riss ab, und die Angst nahm Überhand– bis ich auf die Idee kam, einen Stift in die Hand zu nehmen und einfach mitzuschreiben. Zu notieren. Zeugin meines eigenen Lebens zu werden, statt die Erfinderin.
»Entweder musste der Brunnen sehr tief sein, oder sie fiel sehr langsam; denn sie hatte Zeit genug, sich beim Fallen umzusehen und sich zu wundern, was nun wohl geschehen würde.« Ich wunderte mich und notierte, während ich fiel, und hatte wieder dieses Gefühl, dass die Welt sich ausdehnt. Wenn ich von mir selbst absah, und mich als Zeugin begriff, konnte ich die Welt und mich selbst darin ertragen. Notieren als Überleben.
Ein Satz von Nabokov flog mir in dieser Zeit zu, den ich fast religiös zu befolgen versuchte: »Caress the detail, the divine detail.« Liebkose das göttliche Detail. Streichle es wie ein Tier, und es wird anfangen zu schnurren und dir etwas verraten über die Welt. Sei also so genau wie möglich, und das Besondere und Wunderbare wird sich zeigen.
Ich schrieb sehr viele von diesen schwarzweiß marmorierten amerikanischen Schulheften voll. Notierte selbst den Glitzerstaub im amerikanischen Asphalt, der in der untergehenden Sonne dazu führt, dass die Straßen funkeln wie in einem einzigen Versprechen.
Ich jobbte als Filmvorführerin im Goethe-Institut und führte deutsche Vorkriegsfilme vor. Es kamen die Emigranten, die Vertriebenen, Geflohenen ˗ die Flüchtlinge, um ein Stück Heimat zu sehen. Sich von zu Hause erzählen zu lassen, und in der Erinnerung dann selbst zu erzählen. Von ihrer Straße in Berlin, dem Lieblingsbäcker, ihrer Schule, einem Schwimmbad, Ausflügen in die Heide oder an die Ostsee. Kleine Geschichten, die große Geschichte erzählten.
Der Blick aus der Fremde zurück in die Heimat.
Alles Erzählen ist Erinnerung.
Irgendwann musste ich aufgeben. Das Geld reichte nicht zum Überleben und Studieren in New York. Keine Ahnung hatte ich mehr, was ich eigentlich wollte. Nur diese Hefte, die ich vollschrieb. Aber Schreiben als Beruf? Das erschien mir absurd. Meine Mutter hatte die Idee, ich solle mich an der Filmhochschule München bewerben. Ein Hoch auf alle Mütter.
Dort begriff ich schnell, dass Film das ideale Versteck bot. Man schreibt zwar Geschichten, das Drehbuch, aber es löst sich auf, verwandelt sich, wird zum Film, und am Ende weiß niemand mehr, wer eigentlich das Drehbuch geschrieben hat. Oder können Sie einen einzigen Drehbuchautor nennen? Das ist zwar sehr bedauerlich, aber damals erschien es mir ideal.
Ich konnte erzählen, und keiner merkte es. Es wusste allerdings auch niemand, wie man ein Drehbuch schreibt. Das musste man sich selbst beibringen. Ich hatte in Amerika die Form der Kurzgeschichte lieben gelernt. Carver, Beattie, Baxter, Ford, Munro, Adams, Dubus waren meine Helden, und ich schrieb deshalb alle Filmgeschichten erst einmal als Kurzgeschichte.
Und notierte weiter. Notierte, wie junge Frauen wie ich nach einem passenden Lebensentwurf suchten und keinen fanden, und wie sich die Männer verhielten. Die gaben sich weiterhin als Revolutionäre, trugen aber heimlich Seidenhemden, die wir ihnen bügelten. Sie träumten von Kreditkarten, aber demonstrierten weiterhin gegen den Kapitalismus. Ich schrieb mit und wandte die amerikanische Devise nicht zu langweilen auf die story an. So entstanden die Drehbücher zu meinen ersten Kinofilmen und auch zu ›Männer‹.
Gleichzeitig drehte ich Dokumentarfilme und lernte durch die endlosen Wiederholungen im Schneideraum, wie Menschen wirklich reden. Dass jeder immer nur von sich redet, und es Dialoge wie in den meisten Filmen in Wirklichkeit nicht gibt.
Der Dokumentarfilm wurde meine wirkliche Schreibschule. Zusehen und zuhören machen für mich achtzig Prozent des Schreibens aus.
Aber ich schrieb immer noch nicht sichtbar, sondern weiterhin unsichtbar in den Drehbüchern. Ich drehte die ersten Spielfilme. Plötzlich war ich Regisseurin. Mit dem Film ›Männer‹ erfolgreiche Regisseurin. Schrecklich erfolgreich. Es gab mit einem Mal eine öffentliche Erzählung von mir, die nur sehr wenig mit mir zu tun hatte. Ich wurde noch schüchterner.
Daniel Keel, der Besitzer vom Diogenes Verlag, hörte von meinen Kurzgeschichten und wollte sie drucken. Er akzeptierte meine Schüchternheit nicht, sondern ermunterte mich, in Zukunft sichtbar zu schreiben. Nicht mehr nur, um daraus Filme zu machen. Sondern als Schriftstellerin. Er gab mir die Lizenz zum Schreiben – und ich hörte auf, mich zu verstecken. Schrieb wie der Teufel Kurzgeschichten, in vielen tauchte der Tod auf. Als könnte ich ihn dadurch von mir weisen wie eine magische Beschwörung.
Der Erfolg brachte mich nach Hollywood, ich dachte, ich müsse doch glücklich sein, wieder in Amerika zu sein, war es aber nicht. Ich sollte dort funktionieren, als Regisseurin ähnliche Filme drehen und schreiben wie ›Männer‹, aber ich konnte nicht auf Englisch schreiben, weil ich die Sprache zwar beherrschte, aber nicht mit ihr spielen konnte, und zum anderen befiel mich klaftertiefe Einsamkeit in Hollywood, wie es natürlich schon vielen zuvor passiert ist.
In meinen Studentenzeiten war ich schon einmal in Los Angeles gewesen und hatte dort so wenig Geld gehabt, dass ich in ein Altersheim in Santa Monica gezogen war, das damals noch ein ziemlich heruntergekommener und armer Ort war. Aber das Altersheim lag direkt am Pazifik, es hieß »The Georgian«, heute ist es ein schickes Hotel. Jeden Morgen saßen die Alten auf der Terrasse und schauten aufs Meer. Und manche sprachen so: »The wesser is wonderful today.« Es waren deutsche Flüchtlinge, vor Hitler geflohen. Viele hatten in der Filmbranche gearbeitet, manche waren Drehbuchautoren gewesen und hatten nie wieder in ihrem Beruf arbeiten können.
Wie schwer es ist, sich wirklich in einer Sprache heimisch zu fühlen und in ihr auch schreiben zu können, begriff ich nun, als ich selbst in Hollywood war.
Ich hatte ja zum Glück die Wahl zurückzukehren, was ich dann bald tat. Ich heiratete und bekam ein Kind.
Und bekam noch mehr Angst vor dem Tod, so wie das allen geht, die Kinder bekommen. Täglich schrieb ich dagegen an, jetzt ein bisschen schneller, denn mein kleines Kind brachte mir Disziplin bei. Ich saß von nun an am Schreibtisch wie im Taxi mit laufendem Taxameter. Jede Minute kostete Babysittergeld. Und immer die Frage: Ist es das wirklich wert? Fragen sich das männliche Schriftsteller auch?
Ich schrieb eine sehr morbide Geschichte, ›Keiner liebt mich‹, in der eine junge Frau im Sarg schläft, um sich mit dem Tod anzufreunden.
Aber mein magisches Denken funktionierte nicht.
Mein damaliger Mann wurde sterbenskrank und starb. Ich war kaum vierzig Jahre alt und so traurig, dass ich kaum noch atmen konnte.
Das Schreiben half nicht mehr. Aber immer noch das reine Notieren. Ich fuhr nach Mexiko zum Día de los Muertos, dem Tag der Toten, setzte mich dort auf die Friedhöfe und schrieb mit. Ich schrieb mit und saß sonst ganz still. In der Stille konnte ich mich wieder mit der Welt anfreunden, und ihre Schönheit wieder zu mir kommen lassen.
Nicht ich erzählte jetzt die Welt, sondern die Welt mich. Sie nahm mich auf in die Erzählung von uns allen. Die Erzählung, dass Leben leiden bedeutet, und es wirklich, wirklich auf die Hefebakterien ankommt, auf die Luft im Teig.
Das stärkte mich so, dass ich wieder erzählen konnte, dass Fiktion wieder möglich war. Ich schrieb den Roman ›Das blaue Kleid‹, der zum Teil am Tag der Toten in Mexiko spielt, ich schrieb Novellen, Kurzgeschichten, Romane, Kinderbücher. Wurde Professorin für Drehbuchschreiben an der Hochschule für Film und Fernsehen und brachte anderen das Schreiben bei.
Und dennoch bleibt immer noch die Frage: Darf ich das? Ist es wichtig genug? Poetikvorlesung. Ist das nicht ʼne Nummer zu groß? Immer noch diese Zweifel. Weibliche Zweifel, sicherlich, aber auch die Angst vor Festschreibung.
Ich will mich selbst nicht festschreiben. Ich bestehe auf dem Nichtwissen. Dem Nicht-Konzept. Dem Fremd-sein. In der Fremde sein, auch wenn es scheinbar die Heimat ist. Ich will der Welt nicht meine Sichtweise aufdrängen, ich will mich ihr öffnen dürfen, sie beschreiben dürfen, in ihr flanieren, eine Flaneuse sein. Auch das gibt es nicht als weibliche Tätigkeit. Der herrlichste Zustand: absichtslos und neugierig durch die Welt zu streifen.
Die Flaneuse ist fremd und fühlt sich gleichzeitig überall zu Hause. Sie bewegt sich und ist gleichzeitig ganz still. Dieser Widerspruch ist für mich das reinste Glück. Ich weiß, dass, wenn ich ganz neugierig und offen und gleichzeitig still bin, die Welt mir etwas schenkt.
Immer und immer wieder.
Und deshalb habe ich es zu meinem Arbeitsprinzip gemacht. Immer wieder fremd sein. Nichts sicher wissen. Und anhalten. Still sein.
Dann geschieht Inspiration, Kommunikation und Verbindung. Und dann habe ich auch was zu erzählen. Dafür muss ich unterwegs sein. Flanieren. Immer wieder in die Fremde, nach Mexiko, Spanien, China, aber auch ins Allgäu, nach Frankfurt und Berlin Marzahn. Der Berliner Osten war für mich oft exotischer als der Ferne Osten, als zum Beispiel Japan.
Warum Japan? Warum fahre ich immer wieder nach Japan, wieso habe ich vier Filme dort gedreht?
Die Antwort ist genau diese: Dort fühle ich mich fremder als anderswo und zugleich heimisch. Keine Erzählung über mich stimmt dort mehr. In der Fremde komme ich zu mir.
Alles ist neu ˗ und ich bin es auch. Mein Blick ist schärfer, ich nehme alles genauer wahr. 1985 war ich zum ersten Mal dort mit meinem ersten Spielfilm ›Mitten ins Herz‹. Ich trampte durchs Land, staunte und wurde bestaunt. Ich wurde in die Häuser wildfremder Leute eingeladen, in die ich nur mühsam hinein passte, für alles war ich zu groß. Ich genoss es, nicht mehr sprechen zu müssen – weil ich kein Japanisch konnte – und nur noch zu schauen. Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nichts.
Das Gegenteil von Wissen ist nicht unbedingt Ignoranz. Es kann Wunder, Geheimnis und Möglichkeit bedeuten. Ich stellte fest, dass die Dinge, die ich nicht wusste, mich aufheiterten und mehr erleuchteten als die Dinge, die ich wusste. Und dass sie mich anderen näher brachten. Meine Beziehung zu Japan war deshalb vielleicht immer besonders innig.
Und dann passierte die Katastrophe von Fukushima.
Ich war im November 2011 dort, ein halbes Jahr nach der Katastrophe. Ich wollte das Ausmaß der Zerstörung selbst sehen, nicht nur in den Nachrichten. Dort stand ein alter Mann in den Trümmern seines Hauses. Er sagte, ein halbes Jahr nach dem Unglück: Alles ist weg. Mein ganzes Leben ist weg. Und ich verstehe es einfach nicht. – Diesen Mann konnte ich nicht vergessen.
Wie hält der Mensch sein Leben aus?
Ich fuhr immer wieder hin und schrieb mit. Notierte, wie die Menschen in den Notunterkünften Blumen in Balkonkästen pflanzten und sie inmitten einer verstrahlten Umgebung hingebungsvoll pflegten. Wie sie die Fetzen ihrer alten geretteten Kimonos umarbeiteten in kleine Schmusetiere. Wie sie depressiv wurden und die Männer den ganzen Tag im Pachinko beim Glücksspiel verbrachten. Wie ein alter Mönch jeden Tag kam und versuchte, sie aufzuheitern. Wie die Menschen in den Supermärkten jedes Radieschen hundertmal drehten und wendeten, um herauszufinden, wo genau es wohl herkam. Wie sie irgendwann erschöpft aufhörten, täglich selbst mit dem Geigerzähler die Werte zu messen. Wie die Kinder wegzogen, und die Alten übrig blieben und immer noch in den Notunterkünften lebten.
Ich erfand eine junge, große, blonde Deutsche, die in das Katastrophengebiet reist und einer alten Japanerin beim Wiederaufbau ihres zerstörten Hauses hilft. Die junge Deutsche passt kaum ins kleine japanische Haus, und die alte Japanerin ist alles andere als freundlich, zögerlich lassen sich beide auf die neue Situation ein, überraschend entsteht Nähe ˗ und das Schwere wird ein bisschen leichter.
Ich komme gerade wieder einmal aus Japan zurück. Unser Film ›Grüße aus Fukushima‹ hatte dort Premiere. Das war schön, aber auch ein bisschen langweilig, denn da war ich die Regisseurin, die ihren Film vorstellt. Das kenne ich. Irgendwann ging mir alles auf die Nerven, ich mir selbst am meisten. Immer dieselben Geschichten. Ich wurde traurig. Fühlte mich einsam, obwohl ich doch überall Applaus bekam, mir die Leute erzählten, dass sie den Film mochten. Aber ich hasste mit einem Mal mich selbst in dieser Rolle, und Tokio, den ganzen Trubel, den Verkehr, die vielen Leute.
Ich tat instinktiv, was ich schon immer getan habe, wenn ich traurig bin. Ich ging flanieren. Ich fuhr mit dem Vorortzug an einen mir unbekannten Ort, hatte nur die Adresse von einem kleinen, traditionellen Hotel, wo schon der berühmte Filmregisseur Yasujirō Ozu gewohnt hat, um dort seine Drehbücher zu schreiben. Mein Film ›Kirschblüten‹ ist sehr von ihm inspiriert.
Ich kam also dort an, auf dem Land spricht niemand Englisch, niemand kannte das Hotel, also fuhr ich erst einmal mit dem Bus ans Meer. Sah den Surfern zu, dem Licht, den Wolken. Irgendwann saß ein alter Mann neben mir. Er murmelte vor sich hin und nahm plötzlich meine Hand. Ließ sie nicht mehr los. Er stand auf und ging mit mir an der Hand am Strand auf und ab. Mein bisschen Japanisch verstand er nicht. Er lächelte mich an und hatte ein sehr weiches, schönes Gesicht. Ich begriff, dass er nicht wusste, wo er war und mich für jemand anders hielt. Aber für wen? Eine große blonde Frau? Mit wem in seinem Leben mochte er mich verwechseln? Er weinte mit einem Mal, dann lächelte er wieder.
Wie hält der Mensch sein Leben aus?
Er ließ meine Hand nicht los, lange, lange nicht, und irgendwann lief eine aufgeregte Frau Mitte fünfzig auf uns zu. Seine Tochter. Ich gab ihr seine Hand, und er ging mit ihr weg, so wie er zuvor mit mir weggegangen war. Ich fuhr mit dem Bus zurück in den Ort. Versuchte ein Taxi zu bekommen. Das erste nahm mich nicht mit. Angst vor Fremden. Das kenne ich schon. Der zweite Taxifahrer aber kannte das Hotel. Er fuhr lang durch den verwinkelten Ort und setzte mich dann genau dort ab, wo ich zuvor mit dem alten Mann gesessen hatte. Gleich dahinter lag das kleine Hotel.
Die Hotelbesitzerin hatte schon auf mich gewartet. Sie gab mir das Zimmer von Ozu. Ein wunderschönes Zimmer. Das herrlichste Zimmer mit Reismatten am Boden, einem Futon, Reispapierschiebewänden, wie im Bilderbuch. Vor dem Fenster blühten tiefrosa Blumen. Sie sind morgens weiß, erklärte mir die Hotelbesitzerin, und abends werden sie pink. So wie Ozu. Der trank den ganzen Tag Sake. Morgens war er noch weiß im Gesicht und abends tiefrosa von all dem Alkohol. Sie kicherte und ging. Ich war allein. Wie ich später feststellte, ganz allein. Niemand war mehr da. Das kann man in japanischen Häusern zweifelsfrei daran feststellen, dass keine Schuhe mehr vor der Tür stehen. Ich ging durch das ganze Haus. Es gab einen Salon, dort spielte ein als altes Radio kaschierter CD-Player die Musik aus Ozus berühmtestem Film ›Tokyo Stories‹. Der Film handelt von Familie, von Tod und Liebe. Er spielt am Meer, nicht weit weg.
Daneben hing ein Foto von Ozu. Er sah dem Mann vom Strand ein wenig ähnlich. Ich saß lange dort, und Ozus Lieblingsschauspieler tauchten auf, sie hatten ihn oft in dieses Hotel begleitet. Ich sah, wie er Sake trank und ab und zu etwas aufschrieb. Ich hörte sie lachen und seine Sätze ausprobieren, sie diskutierten die Wendungen in der Geschichte, änderten sie, verwarfen sie, kamen dann doch zurück zur ersten Version, wie das halt so ist, wenn man ein Drehbuch schreibt. Irgendwann legte ich mich auf den Futon wie ein Kind, das zu den Gesprächen der Erwachsenen friedlich einschläft.
Als ich aufwachte, schien die Sonne ins Zimmer und die Blüten vor dem Fenster hatten sich verwandelt. Sie waren schneeweiß. Und ich war glücklich.
Vielen Dank.
Doris Dörrie
Doris Dörrie, geb. 1955 studierte Theater und Schauspiel in Kalifornien und in New York. Sie ist Regisseurin, Schriftstellerin und Filmproduzentin. Zu ihren bekanntesten und meist prämiertesten Filmen zählt ›Männer‹ und ›Kirschblüten-Hanami‹. Neben der Filmarbeit veröffentlicht sie Kurzgeschichten, Romane und Kinderbücher. Zuletzt erschien ›Diebe und Vampire‹ (2015) bei Diogenes.