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Gedenkfeier Markus Werner: Rede von Martin Kuster

Mit Markus verband mich eine mehr als 50 Jahre dauernde innige Freundschaft. Unverbrüchlich war sie zwar nicht, es gab Zeiten, in denen wir uns – meist wegen zugefügter Kränkungen – weniger sahen oder einander gleichgültig waren, zu entfernt. Aber das Anziehende erwies sich bis zum Ende immer als stärker.
Wir sassen in derselben Klasse des Gymnasiums, der Schaffhauser Kantonsschule. Es war ein ahnungsloses Dahinleben in der Provinz anfangs der 60iger Jahre. Irgendwie fanden wir unsere Unterschiedlichkeit interessant, als spannungsvoll erwies sich ein günstiges Nebeneinander von Fremdheit und Vertrauen, das sich wie von selbst erneuerte. Das Einmalige unserer Freundschaft aber verdankt sich dem Umstand, dass wir 16 bis 18-jährig  – gleichsam unfreiwillig – Seite an Seite aus unserer Ahnungslosigkeit herausfielen in die Abgründe des Denkens und aufschlugen auf den unverhandelbaren Vorgaben dieser Welt.
Ein Jahr vor der Matur verbrachten wir eine Woche in Zürich. Wir hatten ein paar Tage Schauspielunterricht gebucht, ein Mittagessen mit einem bekannten Schriftsteller abgemacht sowie Vorlesungen an der Universität herausgesucht. Die Woche geriet zum Fiasko. Den Schauspielunterricht mit der erfahrenen Lehrerin mussten wir abbrechen, weil wir während der Sprechübungen in ein dermassen unkontrollierbares Gelächter verfielen, dass wir uns auf dem Boden liegend daraus herauswinden mussten. Dasselbe passierte in der philosophischen Vorlesung: die Bank, in der wir mit Studenten sassen, zitterte unter unserer körperlichen Anstrengung, das explosionsartig ansteckende Schüttellachen niederzuhalten bis zur Schmerzhaftigkeit. Jahre später, anlässlich meiner Ziviltrauung, musste der Standesbeamte seine Rede wegen unserer nicht zu unterdrückenden Lachsalven vorzeitig beenden. Markus‘ beigebrachtes Zitat, dass alles Lachen ein sich Wehren sei, half uns damals nicht weiter.
Grundanständig und gut meinend, wie wir waren, sperrten wir uns im zerplatzenden Lachen gegen den sich in uns regenden Widerstand und Widerwillen gegenüber dem Vorgesetzten, wehrten wir uns gegen unsere Ablehnung des Gebotenen, die uns erfasst hatte – ein doppelter Widerstand also, gegen aussen wie gegen innen. Da wirkte kein aufrührerischer Geist, vielmehr sahen wir uns widerstrebend gezwungen, unsere Unfähigkeit einzugestehen, das Dargebotene als wirklich wahrzunehmen und etwas damit anzufangen. Das durfte doch nicht ernst gemeint sein. Auf verunglückte Weise versuchten wir, an einer Unschuld festzuhalten. Unsere Zurkenntnisnahme der Welt verlief über die Negation  und vielleicht blieben wir bei diesem, wenn man so will, kindlichen Unglauben. Markus richtete sich später besser damit ein, indem  in seiner Stube eine Karte stand mit dem Satz »Ich möchte lieber nicht«.
Wir konnten und wollten uns in der eher leidvollen Gymnasialzeit aber nicht geschlagen geben und brachten mit Reiner Bernath zusammen, unterstützt von unserem  Deutschlehrer, eine Schülerzeitung heraus, welche unsere Position des Unbehagens und der Kritik zum Ausdruck  bringen sollte. Der Leitartikel hiess ›Die Betrogenen‹. Unvergesslich ein Interview  mit Walter Matthias Diggelmann. Wir begannen zur Kenntnis zu nehmen, was andere in ähnlicher Situation gedacht oder geschrieben hatten. Wenn wir uns sahen, deklamierten wir Gedichte und warfen einander Rilkeverse zu. Wir stritten uns über Kierkegaards ethische (das war er) und ästhetische Lebensanschauung (das war ich) und sahen Ingmar Bergman-Filme. Wir drückten auf der Musicbox in der Webergasse dreimal Drafi Deutschers ›Marmor, Stein und Eisen bricht‹. Markus in der Rolle des Woyzeck. Camus gegen Sartre, mit Filter gegen ohne. Boxtraining, Tischtennisturniere. Rivalität um eine Klassenkollegin: ich werbend, bemüht, er schweigend, das Profil zur Nacht gekehrt. Anders als später in seinen Romanen gewann der Charme des Stillen. Uferlose Diskussionen auf dem Randen, am andern Tag ein Scherbenhaufen, unsere leicht überdrehte Gymnasialklasse als anspornender Rückhalt und Rahmen.  Markus mit Rollkragenpulli im beige-braunen Manchesterveston konnte den in sich gekehrten, scheuen, romantischen  Träumer ebenso geben wie den aufstrebenden, sprühenden Jüngling.
Und wieder regte sich bei Markus ein Argwohn, diesmal gegenüber dem, was wir anderen enthusiastisch als neu zu entdecken glaubten. Im Modischen, dem scheinbar Neuen begann er das Alte zu riechen, schon Dagewesenes. Er konnte nicht darüber hinwegsehen und nahm es fast persönlich, dass das, was wir dachten, sagten, schon unendliche Male vor uns gedacht und gesagt worden war und ihm also abgewetzt und schal vorkam. »Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit«, nach diesem Satz Hugo von Hofmannsthals schrieb Markus seinen eindringlichsten Text jener Zeit und dies blieb ein Lebensmotiv. Was gibt es zu sagen, wenn alles Wertvolle, Umwerfende bereits gesagt ist?  Und wie halte ich es aus, dass, wenn ich meine, Eigenes zu sagen, ich nur zitiere? Im Vorwärtsdrang, Neuland zu erobern, hatte sich bei Markus früh ein  leichter Überdruss eingenistet. So erschienen alle Anstrengungen und Bemühungen als irgendwie vergeblich – eine zweite Lesart des »Ich möchte lieber nicht« in Markus‘ Stube. Die Kehrseite davon: Vergeblichkeit nährt die Freude an Freiheit, schreibt Handke. Dass Markus es genoss, sich von allem unabhängig und vogelfrei zu fühlen, zeigte sich in seiner Heiterkeit, seinem perlenden Witz, seiner Selbstironie, seiner Verführungskunst und später in seiner ihm lieb gewordenen Gewohnheit, die Nacht zum Tag zu nehmen. Aber etwas hinderte ihn immer.
In derselben Kantonsschule, in der er sich so schwer tat, hat Markus später als Lehrer 15 Jahre lang Deutsch und Philosophie unterrichtet. Sein gewählter Lebensmittelpunkt befand sich nie mehr als ein paar Kilometer vom Ort seiner Kindheit entfernt. Von traditionellen Werten wie Treue, Gefasstheit, Anstand, Bescheidenheit hielt er sehr viel, er kultivierte seinen ausgeprägten Sinn für Höflichkeit. Als Kenner der Schriften Sigmund Freuds war ihm sehr wohl bewusst, dass solche Tugenden – beruhen sie nicht auf Einfallslosigkeit – kaum naturgegeben und wahrscheinlich von einem strengen Gewissen eingetrichtert worden sind. Martin Ebel bemerkte in seiner Laudatio, dass ein Schriftsteller wie Markus in der Präzision seiner Sprache – kein überflüssiges oder belangloses Wort – sich demselben Terror der Effizienz aussetzt, unter dem seine Figuren leiden. Sein brutales Überich, welches ihn gleichzeitig antrieb, niederhielt und fesselte, nannte Markus seinen lebenslangen Begleiter. Nie habe er sich gut genug, in Ruhe, einfach so sein lassen können. Nie sei er eingeschlafen in Frieden mit sich, weil immer eine Rechnung offen geblieben sei zu seinen Ungunsten. Darum, sagte Markus, könne er es sich auch kaum leisten zu sterben. Robert Walsers Ton einer unerbittlichen Strenge, eingelassen in freundlichste Höflichkeit, war  für Markus seit Studium unerreichtes Vorbild.
In seiner Jugendzeit überkam ihn die immer wiederkehrende Phantasie, ohne Ansage zu verschwinden, am Bahnschalter ein Ticket zu lösen Hamburg einfach. Sie quälte ihn, weil er wusste, dass dies die einzig ernst zu nehmende Entscheidung jener Zeit gewesen wäre. In gleicher Schärfe war ihm klar, dass ihm Hamburg und das Meer keine Freiheit gebracht hätten, weil, wie er letzthin trocken resümierte, der andere Stolperstein seines Lebens die Ambivalenz gewesen sei, die Unmöglichkeit, sich mit sich auf die eine gültige Entscheidung zu einigen.
Wenn jemand sich in Menschendingen so gut auskennt und so souverän damit umzugehen weiss wie Markus, wenn jemand Menschendinge so klar durchschaut – auch bei sich selber – ohne plump zu psychologisieren, fällt es schwer, ihn festzulegen: er war so und so. Natürlich könnte man Markus einen äusserst wertvollen, feinsinnigen Menschen nennen – und hätte damit Recht. Oder aber eine streitlustige Diva, vor der man gut daran tat, sich in Acht zu nehmen – auch nicht völlig von der Hand zu weisen. Beides scheint mir, an Markus gemessen, irgendwie nichtssagend, Festschreibungen werden ihm nicht gerecht, weil er immer auch anders war. Ich versuche, mir kurz in Erinnerung zu rufen, warum es mich glücklich machte, mit ihm zusammen zu sein. Ich konnte mit ihm etwas teilen wie mit sonst niemandem.
Die Abende begannen meist ein wenig formell  – »Grüsse von der Frau Gemahlin«, »Hast du dieses Buch schon gelesen?«– die Gespräche wirkten leicht inszeniert, nahmen dann mit der Zeit Fahrt auf, verästelten und verdichteten sich zugleich, liefen sicherer und von selbst wie auf Schienen und endeten in einem Zustand gespannter Schwebe, in welchem fast jeder Satz traf und zugleich federleicht daherkam. Das Besondere dabei war, dass sich bei Markus wie bei mir eine Starre gelöst hatte und das je Eigene sich umso schärfer artikulieren konnte, obwohl es gar nicht mehr wichtig war, wer welchen Platz einnahm. Alles oszillierte, nichts verschwamm. Und wie bei guter Literatur zählte nicht primär das Thema sondern einzig dieser feste Gang und  Rhythmus der Gespräche, von uns vielfach und immer wieder zelebriert, etwas zwischen Wettstreit und Tanz. Diese unverwechselbare und einzigartige Kultur des Teilens von Zeit bedeutet für mich Markus Werner.
Mehr als die letzten zehn Jahre seines Lebens waren mitgeprägt von zunehmender Beeinträchtigung durch die Krankheit, einem Lungenemphysem. Seine Brillanz und seine freundlichen Frechheiten traten immer mehr nur noch sporadisch hervor, auch seine Freude am Leben. Zuerst sah er sich der Kraft zu schreiben beraubt, mit der Zeit verengte sich sein Bewegungs- und Gedankenhorizont und schliesslich war es ihm kaum mehr möglich, gleichzeitig zu sprechen und Atem zu holen. Vor den Besuchen bereitete er mich jeweils telefonisch auf seinen aktuellen Zustand vor, damit mich sein Anblick nicht brüskiere. Wenn ich dann im Verlaufe des Abends erleichtert einwarf, sein Zustand erscheine mir jetzt doch nicht so schlimm wie von ihm geschildert, zeigte er sich bitterlich enttäuscht, dass mir entgangen war, was es ihn an äusserster Anstrengung gekostet habe, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Nein, ich hatte es nicht bemerkt, jetzt war die Scham auf meiner Seite. Vielleicht konnte man in dieser letzten Zeit leicht das Unbändige an Markus übersehen, seine Angriffslust, die Freude an der ironischen Übertreibung, seine melancholischen Exzesse, seine Liebe zu Katharina.
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. / Sie sprechen alles so deutlich aus. / Und dieses heisst Hund und jenes heisst Haus, / und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Hier hätte Markus eingesetzt.

 

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Markus Werner wurde 1944 in der Schweiz, in Eschlikon im Kanton Thurgau, geboren und starb 2016 in Schaffhausen. Er studierte in Zürich Germanistik, arbeitete bis 1990 als Lehrer und dann als freier Schriftsteller. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane ›Zündels Abgang‹, ›Froschnacht‹, ...

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