Liebe Anwesende
Ich vermute, diese Anrede mag Ihnen etwas seltsam erscheinen – ich komme gleich darauf zurück.
Zuvor aber möchte ich Sie begrüssen. Dies im Namen von Katharina Werner, Markus Werners Frau, seiner Tochter Sophie, seiner Geschwister Christine und Andreas mit Hanna. Ebenso darf ich Sie im Namen des Samuel Fischer Verlags Frankfurt begrüssen, vertreten durch seinen Programmleiter für deutschsprachige Literatur und persönlichen Lektor von Markus Werner, Herrn Oliver Vogel, der im Folgenden ebenfalls einige Worte an Sie richten wird. Die weiteren Redner und die musikalischen Einlagen entnehmen Sie dem kleinen Programmzettel; anschliessend an die Feier laden Sie Familie und Verlag zu einem Imbiss und geselligem Gespräch ein.
Katharina bat mich, die Begrüssung mit ein paar einleitenden Worten zu übernehmen. Meine Qualifikation dafür? Ich kenne Markus just seit 60 Jahren. Wir sind im gleichen Dorf aufgewachsen, haben beide zusammen Querflöte gespielt, dasselbe Fach studiert, Markus war in der Kanti mal kurz sogar mein Schüler, wir haben zusammen viel getrunken, geraucht, gescheit diskutiert und sind uns deshalb über die langen Jahre nahe geblieben.
Es ist eine sehr zusammengewürfelte Schar, die sich hier in der Kammgarn eingefunden hat, um sich die nächsten ein/eineinhalb Stunden auf Markus Werner zurückzubesinnen und ihn gemeinsam zu vergegenwärtigen: Familienangehörige, Verwandte, Nachbarn, Freunde, Berufskolleginnen und -kollegen, Leserinnen und Leser seiner Werke, als Vertreter der Regierung des Kantons Schaffhausen ist Herr Regierungspräsident Dr. Reto Dubach unter uns – Sie verstehen meine Mühe mit der Anrede: Ganz förmlich »Herr Regierungspräsident, Meine Damen und Herrn« zu sagen, hätte uns zu sehr getrennt, »anwesend« sind Sie aber alle gleichermassen und ohne jeden Zweifel.
Sie alle tragen ein Bild von Markus Werner hierher und haben eine innere Beziehung zu ihm – sonst wären Sie nicht gekommen. Zugleich dürften diese Bilder so zahlreich und unterschiedlich sein wie die Köpfe in diesem Raum, ja weit zahlreicher noch, weil in vielen Köpfen verschiedenste Bilder zugleich, vielleicht gar janusköpfige, gegenwärtig sein mögen.
Wo aber ist das Gemeinsame, das Sie und ich, und wir alle hier mit Markus teilen? Teilen heisst auch, sich in jener Berührungszone von Privat-Intimem einerseits und Öffentlichem andererseits zu bewegen, wie wir es gerade jetzt tun. Ich möchte diese Berührungszone – wir könnten auch von einer Membran, vielleicht gar Schwingungsmembran, sprechen – in seinem Werk suchen, denn daran müssen wir uns jetzt, da Markus selber gegangen ist, halten. Und zwar auf der ersten Seite des allerersten Buchs, ›Zündels Abgang‹ also, in einer Szene, die er schon fünf Jahre vor dessen Erscheinen, damals sozusagen noch für sich selber ganz privat 1979 festgehalten hatte. Helmut Vogel, Schauspieler und Freund von Markus, wird sie uns vergegenwärtigen – zum Abschluss der Gedenkfeier werden dann er und Graziella Rossi, ebenfalls Schauspielerin und früher mal sogar Schülerin von Markus Werner, uns weitere Texte vortragen:
»Schöne Kindheit im Warenhaus. Abhanden gekommen das einzig Vertraute, untergetaucht in neonhellen Schluchten. Der Kleine, in Tränen aufgelöst und ohne Fassung wimmernd: Mama, Mama. - Wie immer viel Helferwille, Ersatzhände, vom Kinde abgeschüttelt, es rennt umher und schreit. Wird irgendwo hinter bunten Kulissen erhört: Da kommt sie, die Mama, das Kind ihr entgegen mit erhitztem Gesichtlein, verweint, doch erlöst, und sie lässt sich nieder vor ihm, breitet die Arme aus und schlägt zu, links rechts, links rechts, und zischt und schmäht.
Und Zündel? Zündel, ganz in der Nähe, schaut wie die andern zu, sieht jetzt, wie das Kind bleich wird und zu würgen beginnt. O blankes Parkett. Doch Mamas Hände haben sich schon zu einer Schale geformt, groß genug, den violetten Brei zu fassen. Da steht sie, blickt mutlos umher, die Handballen zusammengepreßt, und eine gequält schnuppernde Zeugenschaft dreht die Körper ab. Nun springt Zündel vor, bietet seine leere Plastiktragtasche an. In die hinein platscht stockend das Erbrochene.«
Eine solche Szene erfindet man nicht, das erlebt man nur, und daher erleben wir sie alle heute erneut, wie selbst erlebt, mit. Diese Szene ist der Eintritt von Markus in die Welt der Literatur, und sie hat sogar Eingang in ein grosses Kita-Handbuch Online gefunden. – Doch hören Sie weiter, was Zündel im anschliessenden Selbstgespräch sagt:
»Ein Verräter bin ich, ein Gaffer mit Faust im Sack. Windig. […] Ein Nothelfer dieser Mama: Getilgt seien die Spuren ihrer Tat, denn sie stinken zum Himmel. […] heilige Einfalt. Eben, dachte Zündel, kehrte sich auf den Bauch, schämte sich, schlief ein.«
»kehrte sich auf den Bauch, schämte sich, schlief ein …« – Mit dem Schamvollen und der Scham setzt Markus Werners Werk ein, wir werden sehen, dass es auch damit endet. Und zwar ist es ein dreifaches Sich-Schämen in dieser Szene: Nicht nur wegen seines eigenen Verhaltens schämt sich Zündel; er schämt sich für die ebenso gefühl- wie hilflose Mama mit ihrer erzieherischen Gewalt im öffentlichen Raum und für die sich angewidert abwendenden Zuschauer. »Fremdschämen« nennt man das letztere. Dies und das Sich-selbst-Schämen, das ist eine dominante Empfindungsrhythmik, worin Markus Werners Romane oszillieren. Und diese Scham ist eigentlich nichts anderes als die Empfindungs-Membran zwischen Öffentlichem und Privatem – so wie die Haut die physische Membran zwischen Innen und Aussen ist.
Einige Seiten weiter im Buch erzählt Pfarrer Busch, der »Chronist« und Freund Zündels: »Daß er [Zündel] schrieb, wußte ich, und daß er sich dafür schämte, war spürbar. Einmal traute ich mich, ihn zu fragen, was er denn schreibe. Konrad sagte: Nichts, nichts, nur ein bißchen privat, nur sozusagen therapeutisch.« Um unmittelbar darauf in eine Schimpftirade auszubrechen, die von Selbstironie nur so trieft: »Weißt du, all diese verstohlenen Schreiber mit ihren schubladisierten A4-Blättern, diese Lehrer vor allem (aber auch undsoweiter), diese Nebenherliteraten, die den Durchschnitt um genau jenen Millimeter überragen, der nötig ist, um die eigne Mittelmäßigkeit wahrzunehmen und an ihr leiden zu können... widerwärtig, jämmerlich!«
Ein Echo davon finden wir noch in einem der frühen Interviews, wo Markus sagt: »Stimmt, ich schämte mich ein bißchen fürs Schreiben, ich empfand es als unstatthafte Tätigkeit.« Die Scham kann aber auch eine ganz andere, politisch gerichtete, sein. In einem weiteren Interview auf sein Verhältnis zur Schweiz befragt, antwortet Markus vertrackt und verschmitzt: »Die Schweiz […] – als Nation, als Summe aller Schweizer, als Mentalität – ist mir zwar nicht gleichgültig, aber unbegreiflich. Vielleicht wohne ich in der Schweiz, weil ich mich im Ausland pausenlos schämen müsste, ein Schweizer zu sein.«
– – Ich muss innehalten, sonst wird ein Vortrag daraus. Kommen wir also zum Schluss, zum letzten Roman ›Am Hang‹, mit seinen geradezu kriminalistischen Beziehungsverrätselungen und detektivischen Enträtselungsbemühungen. Dass dahinter wiederum Scham als Triebfeder – und Schreibfeder – steckt (verzeihen Sie den Kalauer), tischt uns Markus nicht geradezu auf dem Tablett auf, signalisiert es aber deutlich genug. So wenn der junge Jurist Clarin über das seltsame Verhalten des alten Loos spekuliert – »Möglich schien aber auch, daß er aus Scham, gemischt mit Unmut, vor mir geflohen war. Es kommt ja vor, dass sich ein Mensch, der sich jemandem anvertraut […] hat, nachträglich schämt […].« Oder wenn die Freundin Eva über die weibliche Hauptfigur, Valerie, sagt: »[…] sie sehe Valeries Verhaltenheit und ihr so zögerndes Reden zuerst einmal als Zeugnis ihres Scham- und Taktgefühls.« »Zögerndes Reden« und »Schamgefühl« – hier werden auf den letzten paar Seiten des Romans die beiden Grundhaltungen Zögern und Scham eng geführt. Den Satz »Allein das Zögern ist human« ebenfalls aus ›Am Hang‹ hat der Literaturkritiker Martin Ebel als Titel des Sammelbandes ›Zum Werk von Markus Werner‹ gewählt. Diesem Leitmotiv müssten wir den andern Satz »und die Scham allein ist menschlich« beifügen. Doch Markus wäre nicht Markus, wenn er sich über die pathetische Schwere solcher Sätze nicht mokierte, denn zur Scham gehört ja auch, dass sie jegliches Pathos scheut und es, allergisch darauf reagierend, sogleich bricht. Als ihn ein Interviewer auf den Satz »Allein das Zögern ist human« anspricht und sagt: »Dieses Credo scheint auch zu ihnen zu passen«, ist seine Antwort: »Stimmt, der Satz könnte von mir sein.« »Und?« fragte der Interviewer, fast etwas ungeduldig über diese witzig ausweichende Antwort. Markus trocken: »Es ist mir grad eingefallen, daß er für Ambulanzen und für die Feuerwehr nicht gilt.«
Markus weiss, wovon er spricht: Er war eine Weile bei der uniformierten Ortsfeuerwehr in Opfertshofen und im Militär bei der Sanität. Selber macht er also diese Grundhaltung von Zögern und Scham nicht zum expliziten Thema, das wäre ein innerer Widerspruch. In Liedform gebracht hat es ein Anderer, Markus sehr Wesensverwandter, Mani Matter in seinem meistgehörten Lied mit dem Refrain »will mir hemmige hei«. Und noch ein anderer, dem Markus in seiner aphoristischen Schärfe und Prägnanz ebenfalls nahe steht, Friedrich Nietzsche, hat es in Fröhliche Wissenschaft auf zwei Dialogsätze verdichtet: »Wen nennst du schlecht? – Den, der immer beschämen will. / Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen.«
Genau dies Letztere – Jemandem Scham ersparen – hat Markus mit seinen Werken, in ihnen und durch sie von der ersten Zeile im Zündel bis zu den letzten Seiten von Am Hang getan. Er hat uns die Scham erspart, indem sie als Schwingungsmembran seiner Sprachkunst zwar immer präsent war, als Empfindung, Gefühl, aber auch als ethische Haltung, ja als moralischer Grundsatz in unseren für sein Empfinden so hemmungsfrei schamlosen Zeiten, aber in ihr schreibend hat er sie uns Lesern mit seinem Humor, Witz, Scharfsinn und seiner sokratischen Selbstironie zugleich erspart. Und damit auch den Hiatus zwischen dem Privat-Intimen und dem Öffentlichen überbrückt. – Für dieses Menschlichste im Sinne Nietzsches sei Markus Werner gedankt!
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