Liebe Katharina,
liebe Sophie,
liebe Familie von Markus Werner, liebe Freunde und Bekannte,
wenn wir uns trafen, saßen wir immer an seinem Schreibtisch. Ein schöner kleiner Holztisch, in dessen Arbeitsfläche eine Schieferplatte eingelassen war. Da saßen wir uns gegenüber, im Erdgeschoss seines kleinen Hauses in der Bruderhöflistraße. So zu sitzen, an einem Tisch, der wirklich nur Platz lässt für zwei Personen und so schmal ist, dass zwischen den Personen, zwischen uns, nicht viel Platz blieb – das war anders als üblich. Diese enge Gesprächssituation, die kaum Raum ließ zur kleinen Flucht aus dem Gespräch, die das Gespräch immer gleich konzentriert werden ließ; diese Enge, die kaum Platz ließ – und eben deshalb Platz schuf für Ehrlichkeit und Intimität.
Ich nehme an, dass jeder, der mit Markus eine freundschaftliche Beziehung hatte, diese Art seiner respektvoll-grenzüberschreitenden Gesprächsführung kennt. Mehr noch: Ich glaube, dass jeder, der seine Bücher gelesen hat, dieses Prinzip kennt, dieses Prinzip der offenen Enge und umzingelnden Nähe, die man auch eine Poetik des diskreten Überfalls nennen kann. Es ist ein Balancieren zwischen größtmöglicher Freiheit und unauffälliger Belagerung. Es ist eine Poetik, die, bei Markus Werner, unterschiedslos fürs Schreiben wie fürs Leben galt: Jeder Abend war zu lang für uninteressante Gespräche. Und das Leben war zu kurz für Bücher, die sich nicht den direkten Weg ins Herz der Dinge suchen.
Markus schrieb Bücher wie ›Die kalte Schulter‹, ein Buch, das von einer Liebe erzählt, in der die Einsamkeit für Momente überwunden wird. Er schrieb Sätze wie diesen: »Begrüßenswert schien ihm alles, was die Selbstverständlichkeit einer Zuneigung vorübergehend aufhob.« Dieser Satz stammt von Moritz Wank, der Hauptfigur aus der ›Kalten Schulter‹, der gerade mal wieder vorübergehend seine Zuneigung zu Judith aufgehoben hatte. Diese vorübergehende Aufhebung einer selbstverständlichen Zuneigung ist nicht nur eine Lebenspraxis von Moritz Wank. Es ist auch die Gesprächspraxis von Markus Werner und es ist vor allem auch seine Schreibpraxis gewesen. Markus Werners Romane sind dialogisch gebaut, ob Vater mit Sohn oder Vater mit Tochter, ob, wie in ›Am Hang‹, zwischen dem erfahrenen und dem jüngeren Mann oder im quasi-dialogischen Selbstgespräch über die Welt: Der andere oder die Welt werden in Frage gestellt, indem Fragen gestellt werden. Die Antworten werden gehört.
Man war immer damit konfrontiert, dass die Selbstverständlichkeiten der Zuneigung (und jeder anderen Form von Behaglichkeit) vorübergehend aufgehoben wurde. Die schmiegsame Wahrheit war nicht seine. Dazu waren sein Schreibtisch und seine Bücher zu schmal. Das war die Grundordnung jedes Gesprächs mit Markus und die Ordnung seines Schreibens. »Der Hang zur Ordnung verrät das Unvermögen, Unsicherheit zu ertragen«, schrieb er einmal. Wenn die »vorübergehende Aufhebung einer selbstverständlichen Zuneigung« als Unordnung bezeichnet werden kann, wurden in dieser Unordnung die Selbstverständlichkeiten wieder wunderbar.
Der Pfarrer sagt in der ›Kalten Schulter‹ zu Moritz Wank: Das Leben geht weiter. Ja, sagt Moritz Wank, das ist schön und empörend. Und dann, hundert Seiten später, ganz am Ende des Buches, stirbt Judith, Moritz Wanks Freundin. Und der Arzt, der ihm die Nachricht überbringt, sagt, das Leben geht weiter. Das ist die Ordnung Markus Werners: die Empörung, die dieser Satz auslöst, muss nicht noch einmal erwähnt werden.
Markus und ich haben uns erst über das Manuskript von ۛ›Am Hang‹ kennengelernt. Bis zum Ende konnten wir uns nicht einigen, wie es genau war. Er meinte, er habe mir geschrieben und mich gefragt, ob ich seinen neuen Roman lesen wollte. Ich hätte ihm froh geantwortet. Meine Version ist die, dass mir ein Hinweis gegeben wurde, er habe sich von seinem Verlag getrennt und suche einen neuen. Ich habe ihm also zuerst geschrieben, und er mir, zufälligerweise, zur gleichen Zeit den erwähnten Brief mit der ersten Frage. Wie auch immer: Er wird recht gehabt haben, denn er hatte in diesen Dingen fast immer recht, und meistens sogar noch die schriftlichen Beweisstücke zur Hand.
Vielleicht können Sie sich vorstellen, wie es war, seinen Text zu lektorieren. Nicht nur, dass er es für selbstverständlich und für nicht diskutierbar hielt, dass Männer, nachdem sie getrunken haben, pinkeln müssen, und dass das auch gelte, wenn das Buch, in dem Männer viel trinken und also entsprechend oft den Straßenrand aufsuchen, schmal ist. Auch fand er es selbstverständlich, dass sie das nicht »pinkeln«, sondern »Wasser abschlagen« nennen. Nein, »Wasser abschlagen« sei kein Helvetismus, entschied er, auch wenn ich das nicht behauptet hatte.
Die Helvetismen waren natürlich das andere große Thema dieses Lektorats. Einen foliantengroßen Wahrig hob Markus stöhnend auf seinen kleinen Tisch. Und recht hatte er – wie Sie wahrscheinlich ahnen – meistens. Wir kannten uns ja noch nicht, als ich damals das erste Mal und gleich zum Lektorat kam. Er holte mich vom Bahnhof ab, wo ich ihn nach seinen Autorenfotos erkennen musste. Wir gaben uns die Hand, er schaute mich an und sagte: Sie sehen ja aus wie ein Konfirmand. Später stellte er bei fast jedem Treffen aufs Neue und nicht ohne Neid fest, dass ich ja schon wieder dicker geworden sei.
Am Abend, nach bestandenem Lektorat, gingen wir im Hotel Park Villa essen. Dort tranken wir zu viel Wein und saßen plötzlich ›Am Hang‹, hatten also plötzlich den Blick über den Luganersee, und er stellte fest, dass wir da saßen wie seine beiden Helden: Loos (er) und Clarin (ich). Ob mich diese Parallele bei der Lektüre gestört habe, ob mich das jetzt, hier sitzend, störe? Ob es mich störe, dass er, der Alte, so ein bisschen altmodisch sei, auch sprachlich aus der Zeit gefallen, er, der jeder Form von Milde, jeder Form von Nachsicht misstraue, der jede unserer Formen, auf den Zeitgeist zu reagieren, für allzu zahm halte. Ob mir das unangenehm sei? Wo ich doch so selbstverständlich im Leben stünde, die Dinge offenbar nicht schwerer nähme als unbedingt nötig, ich, der ich doch sicher halbwegs anschmiegsam mit der Zeit ginge. Ob mir das unangenehm sei, dass er das jetzt so offen sage. Und überhaupt: Wie das mit mir und den Frauen so sei. Auch so leicht?, so beschwingt und unernst?, fragte er, und bot mir dann das Du an. Wer von uns beiden an dem Abend ›Am Hang‹ zitierte, weiß ich nicht mehr. »Sei deinem Freund ein hartes Feldbett«, steht da. Er wird es wohl gewesen sein, der zu so später Stunde den Satz noch im Kopf hatte.
Wenn man die Bücher von Markus Werner liest, verwechselt man ihn ja gerne mit seinen Figuren. Figuren, die fälschlicherweise für weich gehalten werden, der Zündel, Moritz Wank oder Franz Thalmann, der Tropf mit dem Frosch. Mild? Nein. Markus’ Figuren sind unerbittlich, gegen die Welt und vor allem: gegen sich selbst. Bleibt man aber beim Missverstehen der Figuren, bleibt man dabei, Empfindlichkeit mit Nachsicht zu verwechseln und den freundlichen Blick auf menschliche Schwächen für eine Schwäche zu halten, täuscht man sich auch im Erzähler und Menschen Markus Werner. In seiner Selbstvorstellung vor der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung schreibt er: »Dem Weltgeschehen schenk ich Interesse und Wut, aber ich glaube, es pfeift drauf.« Vielleicht überhört man die beiden wichtigsten Wörter dieses Satzes, weil man lachen muss über das Pfeifen des Weltgeschehens. Die wichtigen Wörter, mit denen er sich so genau charakterisiert hat, wie nur ein großer Schriftsteller es tun kann, sind »Interesse und Wut«. Gleich unser erster Abend war davon geprägt, nicht frei von kleinen Unverschämtheiten, die er zu verstecken wusste in verschämter Höflichkeit. Sein Interesse galt meiner Reaktion. War das der ehemalige Lehrer, der so prüfte? Nein, ich glaube, dass er sich auch als Lehrer schon von seinem Interesse wachhalten und leiten ließ. Und dieses Interesse war großherzig, war liebevoll und war, bei allem Witz, sehr ernst. Er war sicher auch ein guter Lehrer. Mir jedenfalls war er einer.
Einmal, auf dem Weg zu Markus wurde ich im Hotel von einem Taxi abgeholt. Als ich sagte, dass ich in die Bruderhöflistraße 17 wollte, sagt der Taxifahrer: »Zu Markus Werner.« »Kennen Sie ihn?«, frage ich. »Ja«, sagt er. Mehr nicht. Wir fahren, er schweigt. Wir kommen an und beim Zahlen sagt er, er sei Achmat. Ob ich Markus Werner grüßen könnte. Der Achmat, sagt Markus. Ja, den kenne er. Und ganz spät am Abend fragt er, ob ich zurück auch wieder mit Achmat fahren wollte. Er erzählt, Achmat sei Kurde und habe ihn häufig gefahren. Irgendwann habe er für ihn einen Brief an die Schweizerische Einwanderungsbehörde geschrieben. Markus meint, dieser Brief sei wohl kein Kunstwerk gewesen. Aber er habe geholfen, denn Achmat sei jetzt Schweizer.
Wir saßen an dem Abend wieder an seinem schmalen Schreibtisch und hörten ein Stück aus ›Froschnacht‹, ein Hörspiel in Innerschweizer Dialekt, die Monologe des Vaters. Sie handeln vom Tod. Wir redeten über Markus’ Krankheit, seinen nahenden Tod. Er habe sich jetzt so oft damit befasst, so oft sei er das durchgegangen, das habe seinen Schrecken verloren. Er schreibe nicht mehr, nein, kein bisschen. Er habe keine Kraft mehr. Sein Ehrgeiz sei schon tot. Ob denn nicht ein Satz am Tag, ohne das Ziel eines zusammenhängenden Textes, denkbar sei, fragte ich, ein Schreiben ohne Ehrgeiz oder Ziel. Ja, vielleicht, na ja, er zögerte, blätterte in Papieren. Manchmal, sagte er, so ein Satz, ja, hin und wieder, aber diese ständigen Selbstzweifel, diese Selbstvorwürfe dabei, nein, das schaffe er nicht mehr. Aber, sagte er dann, mit der Feder und mit Tinte auf Papier, langsam, und dann streichen und einfügen, halt das tun, was so schön war, das würde ihm doch noch mal gefallen.
Achmat fuhr mich wieder ins Hotel. Der Markus, sagte er, so ein guter Mensch. So viel Herz.
Zum Geburtstag hat Markus von uns, vom Verlag, immer Blumen bekommen. Und jedes Jahr war es das gleiche Spiel: Der Blumenbote kam morgens, als Markus noch schlief. Jedes Jahr die zweifelhafte Freude also, dass zwar der Verlag an ihn denkt, dass er dafür aber früh morgens schon aus dem Bett geworfen wurde.
»Ich hatte dich doch extra gebeten«, sagte er dieses Jahr. Ja, das hatte er. Und dieses Mal kamen die Blumen, nachdem er nicht aufgemacht hatte, zu den Nachbarn, die, wie er betonte, noch eine Vase suchen mussten. Sie riefen dann Katharina an, die die Blumen abholen, später die Vase zurückbringen musste. Viel Umstand also, für den er sich dann noch bedanken musste. Immerhin, das garantiere er, immerhin sei das ja sicher sein letzter Geburtstag gewesen. Er solle noch ein bisschen warten, es aufschieben, bat ich. Das, sagte Markus, das ist nicht sehr barmherzig.
Moritz Wank geht in ›Die kalte Schulter‹ über einen Friedhof und liest die einsilbigen Inschriften auf den Grabsteinen. »Daheim« oder »Erlöst« oder »Zu früh«. »Keines dieser Worte hätte Wank sich auf seinem Grabstein gewünscht, aber es fiel ihm auch keines ein, das er sich gewünscht hätte.«
Markus sagte mir bei unserem letzten Treffen, dass er einen Wunsch habe für die Todesanzeige. (Wie ernst er das meinte, ist schwer zu sagen.) Dort solle ein Zitat aus Sergio Leones ›Spiel mir das Lied vom Tod‹ stehen: Jill, erzählte er, gespielt von Claudia Cardinale, sieht in der Schlusssequenz des Films Cheyenne an, den Mann, der ihr geholfen hat, und der jetzt tödlich verletzt neben ihr steht, und sie sagt ungläubig: »Cheyenne? Und müde?« Cheyenne antwortet: »Wir werden alle mal müde.«
»Es (ist) die Aufgabe eines Lieblingssatzes, uns wach zu halten«, heißt es einmal bei Markus Werner. Moritz Wank, der mir, vielleicht wegen seiner Initialen, immer vorkam wie ein Freund, kündigt nach Judiths Tod telefonisch seine Arbeitsstelle. Er telefoniert mit seinem Chef und sagt dann diesen Satz. Er heißt:
»Es ist eine große Störung eingetreten.«
Dann legt er den Hörer auf.
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