Das Neue an der großen Neuausgabe sind die umfangreichen Materialien zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des »Untertan«, die mit den Faksimiles von Handschriften und weiterem Bildmaterial sinnlich greifbar wird. Ich habe mich bei der Recherche vor allem über Funde gefreut, die überraschend Möglichkeiten der Textgeschichte eröffnen, die sich nicht realisiert haben, wie Heinrich Manns Mitteilung vom 12. Dezember 1912, er verhandle mit dem »Berliner Tageblatt« und denke daran, seinen entstehenden Roman dort zu veröffentlichen. Wäre das realisiert worden, dann hätte vieles anders ausgesehen. Ich habe mich aber auch über Funde gefreut, die Wirklichkeitsbezüge dingfest machen, wie den Theaterzettel der Augsburger Lohengrin-Inszenierung, die Heinrich Mann besucht und daraus »einige hübsche Seiten« im Roman gemacht hat. Und ich habe mich einfach auch über treffende Stichworte schon in den frühesten Notizen zum »Untertan« gefreut, die Diederich Heßling als Figur pointiert charakterisieren, wie die Notiz »Wurstladen« ganz unten auf der zweiten Seite des Notizbuchs A von 1906, die auf dem Faksimile gut zu erkennen ist.
Die Wirkungsgeschichte des Romans, die vielen Stimmen zum »Untertan« im Lauf der Jahre und Jahrzehnte, dokumentiert, dass der Text aktuell ist, weil er eine Mentalität plastisch greifbar macht, die immer wieder bis heute zu beobachten ist. Das bestätigt die eigene Lektüre des Romans, der aktuell gelesen werden kann, auch wenn er vor über hundert Jahren geschrieben und also ein historischer Text ist. Dabei macht heute gerade das bei der Lektüre entstehende Spannungsverhältnis zwischen Geschichte und Gegenwart einen besonderen Reiz beim Lesen des »Untertan« aus.
Ich habe keine eine Lieblingsstelle, sondern beim Lesen eine Lieblingsstelle nach der anderen, weil die Komik, die den Untertanen und sein Milieu entlarvt, auf Schritt und Tritt, Szene für Szene, greifbar ist. Die Lektüreeindrücke von Klaus Mann, der »großen Spaß« bei Lesen des Untertan hatte, sind gut nachvollziehbar. Sie betreffen mehr oder weniger den gesamten Roman, nicht einzelne Stellen. Dabei gestaltet sich die Komik, die so viel Spaß macht, weil sie nicht im platten Sinn moralisierend daherkommt und die Kritik an der Untertanenmentalität dadurch erst ihre Schärfe entwickelt, durchaus unterschiedlich. Es gibt die drastischen Passagen, die in burlesker Komik zum Beispiel die Männlichkeitsrituale bei der »Neuteutonia« entlarven (die wichtigtuerischen Phrasen in ihrer Verbindung mit dem »Saufen«). Es gibt aber auch ironische Passagen wie zum Beispiel in der Gewitterszene gegen Ende des Romans, wo nicht nur durch die neutrale Erzählerstimme die Gewittermetapher als Revolutionsmetapher das Geschehen deutet (Diederich Heßlings phrasengesättigter Rededonner wird durch das Gewitter zum Schweigen gebracht), sondern die Satire durch Ironie auch über die erlebte Rede der Hauptfigur funktioniert (die Figurenperspektive im letzten Satzteil): »An dieser Stelle blitzte es; [...] in der Gegend, wo das Volk zu vermuten war, durchzuckte es grell die schwarze Wolke, und ein Donnerschlag folgte, der entschieden zu weit ging.«