1. Sequenz: 11. September & WM 2006
Max: Wissen Sie noch, welcher Wochentag der 11. September 2001 war? Ein Dienstag. An diesem Dienstag ging ich in die Schule. Das machte ich damals so. Und nach der Schule fuhr ich nach hause und schaltete in unserem briefmarkengroßen Farbfernseher auf meinen Lieblings-Musiksender MTV. Ich erinnere mich, dass irgendwann ein Freund anrief – damals hatten wir noch Festnetz – Sie wissen schon, dieses Telefon, für das man noch von der Couch aufstehen musste. Und der Freund sagte: Max, hast du mitbekommen, was gerade passiert ist? Und ich antwortete, nein, der Fernseher läuft aber ich weiß von nichts. Und dann legte ich auf und wechselte den Kanal.
Ich sah zuerst den einen Turm, der rauchte, als hätte man eine Wunderkerze nicht ganz an der Spitze angezündet. Ich sah den Aufschlag des Flugzeugs in den zweiten Turm, der bis dahin noch nicht gebrannt hatte. Ich sah live, wie beide Wunderkerzen ein paar Stunden später in sich zusammen sackten, als wären es keine Wunderkerzen, sondern Türme… Eine Sache, die mich danach noch eine Weile beschäftige, war, dass MTV das Musikprogramm nicht unterbrochen hatte. Dieser Sender, der wie kaum ein anderer für die Verbreitung amerikanischer Popkultur steht, hielt es nicht für nötig, das eigene Programm zu unterbrechen. Das beeindruckte mich, denn ich komme aus einem Land, in dem die Sendung für ein Eichhörnchen vor dem Bundeskanzleramt unterbrochen wird. MTV hingegen wird einfach weiterlaufen, bis die Hitze die Sendemasten schmilzt und die steigenden Wasserpegel die Studios flutet.
Ich erzähle Ihnen das, weil heute der 11. September ist. Und das ist doch ein guter Anlass, sich an den 11. September zu erinnern. Auch 2001 hatten die Kommentatoren schon schnell den Superlativ zur Hand, als sie den Tag als Trauma meiner Generation bezeichneten. Der Augenblick, an dem die Geschichte vom Konflikt zwischen Ost und West in die Konfrontation von Christentum und Islam schaltete. Nun war der 11. September erst einmal ein Tag, an dem ein paar irre Terroristen entschieden, viel Flugzeuge zu kapern und davon zwei in die Twintowers in New York und eines ins Pentagon zu fliegen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ohne diese Ereignisse hätte ich beispielsweise nicht gewusst, dass so eine Wendung überhaupt existiert: ein Flugzeug in ein Gebäude fliegen. Und werden generationell bedeutsame Ereignisse nicht auch durch die Schaffung neuer Begrifflichkeiten definiert?
Sharon: Tuesday September the eleventh 2001, oder wie es inzwischen heißt: nine eleven. An dem Tag war ich auf einer »Work, Employment and Society«-Tagung in Nottingham. Ich probte mich noch als Doktorandin zum Thema Gewerkschaften in der Telekommunikationsindustrie. Ich hätte viel lieber MTV im Fernsehen geschaut, glauben Sie mir.
Ich erinnere mich, dass die Tagung unterbrochen wurde. Uns wurde gesagt, dass sich in den USA eine große Katastrophe ereignet hat. Verzeiht mir, aber – es gibt Katastrophen auf der ganzen Welt – nicht wenige von der USA selbst verursacht. Warum ist gerade diese Katastrophe diejenige, die die Tagung zum Stillstand bringt? Das ist, was ich dachte. Ich habe es wahrscheinlich sogar gesagt. Vermutlich etwas zu laut. Aber viele Andere flüsterten es auch. Das World Trade Center? Die Türme, an denen Superman ständig vorbeiflog? Achso, das World Trade Center. Der Bürokomplex, der um die Ecke vom African Burial Ground errichtet worden war. Was war passiert? Ein Flugzeug stürzte durch einen der Türme? War es ein Unfall? ZWEI FLUGZEUGE? Durch BEIDE Türme?
Es gab kein Twitter, kein Instagram, kein Facebook, kein YouTube, also war es erst einige Zeit später, vielleicht erst am nächsten Tag, als ich die Bilder im Fernsehen sah. Zuerst brannte ein Turm. Ich beobachtete, wie die grauen Wolken in den Himmel wucherten, und wartete auf den Aufprall des zweiten Flugzeugs. Immer und immer wieder. Es war, als müsste ich die Aufnahmen nur oft genug anschauen, damit das zweite Flugzeug den Südturm verpassen würde. Oder vielleicht gar nicht erscheinen. Der Aufprall des zweiten Flugzeugs definierte für mich den Unterschied zwischen einem tragischen Unglück und einem sicheren Krieg.
Eine Sache, die viele Bekannte von mir tun, wenn ein Verbrechen passiert, ist zu denken: »bitte lass es nicht einen Schwarzen sein, bitte kein Mensch of Color«. Ich denke das auch. Denn obwohl die überwältigende Mehrheit von Schwarzen Menschen und Menschen of Color mit Angriffen nichts zu tun haben, und obwohl viele von uns selbst bei solchen Attentaten verletzt werden oder Angehörige verlieren, ist das für die dominante Erzählung egal. Ein leicht erkennbar Bösewicht muss her. Sobald ich die ersten Bilder von den Verdächtigen in der Berichterstattung sah, wusste ich, dass das Leben für muslimisch-aussehend-gehaltene Menschen fortan schlimmer werden würde.
Zu den Menschen, die im World Trade Center ums Leben kamen, zählten auch 31 Muslim*innen, unter ihnen zwei Menschen, die starben, während sie versuchten, andere zu retten: Mohammad Salman Hamdani, ein Polizeischüler, und Abdul Salam Mallahi, ein Hotelarbeiter. Jedoch anstatt geehrt zu werden, wurde Mohammad Salman Hamdani zu einem Verdächtigen. Seine trauernden Familienmitglieder wurden von der Polizei verhört. Dreizehn Jahre später erst wurde die Ecke 204th Street und 35th Avenue in New York City in »Salman Hamdani Way« umbenannt. Da hatten die USA mit ihren Verbündeten bereits zwei Kriege geführt.
Max: Das mit dem 11. September als Datum meiner Generation stimmt noch auf eine andere Weise. Denn mit der Jahrtausendwende änderten sich die Zustände tatsächlich auch in Deutschland. Menschen, die früher als Ausländer, Asylanten, Araber oder Türken beschimpft oder gelobt wurden, wurden zunehmend unter der Bezeichnung Muslim*innen zusammengefasst. Das war ein schleichender Prozess, der einem so natürlich vorkommt wie dem Frosch das langsam Richtung Siedepunkt erhitzte Wasser. Denn es ist doch überhaupt nicht selbstverständlich, dass Menschen, die ja alles Mögliche sind, vor allem über ihre Religion definiert werden. Und das sage ich als jemand, der dreizehn Jahre auf eine Jüdische Schule gegangen ist.
Ich würde dennoch behaupten, dass der 11. September 2001 weniger ein Trauma meiner Generation als einen Umbruchpunkt politischer Zuschreibungen markierte. Oder noch mal anders, ich denke das so: Jede und Jeder, der und die mit mir Ende der 1980er Jahre geboren wurde, darf sich sein eigenes persönliches Generationentrauma aus den an politischen Erschütterungen nicht ganz armen Jahrzehnten aussuchen. Meins ist die Weltmeisterschaft in Deutschland, auch bekannt als das Sommermärchen, die fünf Jahre nach dem 2001 in Deutschland stattfand. Ich war gerade dabei, Abitur zu machen und verdiente mir im Olympiastadion ein wenig Reisegeld, indem ich Bier in einem großen Fass auf dem Rücken trug und an durstige Fußballfans verkaufte.
Für ein Verständnis, wie ich zu dieser Einschätzung komme, ist es wichtig, sich die Zeit vor der Weltmeisterschaft zu vergegenwärtigen: vor dem Sommer 2006 gab es auf deutschen Produkten so gut wie keine Deutschlandfahnen, keine Taschentücher in Schwarz-Rot-Gold, keine Überraschungseier in Nationaltrikot, kein »Trink ‘ne Coke auf Deutschland!«. Warum nicht? – Weil die Firmen nicht ganz sicher sein konnten, ob wir abgeschreckt gewesen wären von so einer nationalistischen Scheiße. Und ich muss sagen, mit dem Auftauchen der Weltmeisterschaft wurde mir erst so richtig klar, dass das auch ganz gut so gewesen war.
Das sah die große Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit und der deutschen Fußballfans offensichtlich anders. Deutschland stand auf den Bierbänken, fuhr hupend durch die Straßen, bestieg die S-Bahnen mit wehenden Fahnen. Und den Kritikern rief man entgegen: nun verdirb uns mal nicht die Laune. Es ist doch nichts dabei. Endlich dürfen wir wieder so sein wie alle anderen. Etwas Aggressives lag in dieser Beteuerung der Liebe zur deutschen Heimat, die mich erschreckte. Und dieses Erschrecken machte mir deutlich, dass ich nicht zu dieser Gemeinschaft gehörte, die Deutschlandfahnen schwenkten, als würden sie einem viel zu lang unterdrückten Gefühl endlich wieder nachgeben dürfen. Und dieses Gefühl ist seitdem nicht mehr verschwunden. Die WM 2006 war mein 11. September 2001.
Sharon: Bis zur WM 2006 hatte sich das mit der Dissertation erledigt. Ich arbeitete als Organisationsberaterin und lebte, damals mit drei Söhnen, in Brighton. Wir zogen im Mai 2006 nach Berlin, zunächst für ein Jahr. Aus »ganz sicher nicht mehr als zwölf Monate!« sind inzwischen längst über zwölf Jahre geworden. Meine Kinder glauben mir kein Wort mehr.
Wir liefen Sommer 2006 die Bergmannstraße entlang. Es war, als würde ganz Deutschland feiern, dass wir Berlin als neue Heimat gewählt hatten. Berlin strahlte. Die Welt war ja zu Gast bei Freunden. Vielleicht waren sie damals alle so freundlich zu uns, weil sie dachten, wir würden auch bald wieder gehen? Anyway, ich erinnere mich, dass meine Jungs noch Deutschlandfans waren (in England hatten sie immer für Deutschland gejubelt, in Deutschland wurden sie stolze Anhänger der ghanaischen Fußballmannschaft. Das nenne ich die wahre interkulturelle Kompetenz).
Ich musste über das Bild ihrer begeisterten Gesichter lächeln. Auch als nach der Niederlage gegen Italien Tränen über ihre schwarz-rot-goldenen Wangen flossen, waren sie in ihrer Trauer mit 80 Millionen anderen Deutschen vereint. Ich hatte mir immer gewünscht, dass meine Söhne das Gefühl haben, dass sie zu dem Land gehören, in dem sie lebten. Und im Sommer 2006 glaubte ich, dass sie es endlich taten.
Inzwischen hat sich der NSU selbst aufgedeckt. Inzwischen ist Oury Jalloh seit 14 Jahren tot und seine Familie erfährt immer noch keine Gerechtigkeit. Auch nicht die von Christy Schwundeck. Auch nicht die von Mareame N’Deye Sarr. Inzwischen weiß ich es besser. Deutsche Polizeigewalt ist mein 11ter September.
Inzwischen bemühe ich mich um die deutsche Staatsangehörigkeit, im vollen Bewusstsein, dass es ein Mittel zum Zweck ist. Ich lebe in Deutschland, ich präge Deutschland, ich werde von Deutschland geprägt: ich bin schon längst Deutsche.
Gleichzeitig meint die Beamtin, die mir die Formulare gibt, dass ich einen Sprachtest machen muss; eine andere Beamtin schreibt mir, ich benötige eine Null-Bescheinigung vom ghanaischen Staat, um zu beweisen, dass ich keine Ghanaerin bin; ein anderer wechselt zur englischen Sprache, weil mir der Satz: »Ich bemühe mich um die deutsche Staatsangehörigkeit« emotional immer noch nicht frei über die Lippen fließt. Inzwischen weiß ich – frei nach Audre Lorde
- my schwarz-rot-gold-bemalte Wange will not protect me
Max:
- my schwarz-rot-gold-bemalte Wange will not protect me
2. Sequenz: Literaturbetrieb & Positionierung
Max: Als ich beim Bachmannpreis war, das war ... ?
Sharon: 2016.
Max: 2016, ja. Ich war verunsichert in Klagenfurt, ich gebe es gerne zu. Ich war lange nicht mehr in einem so homogen-aussehenden Raum gewesen. Ich hatte keine Ahnung, wie mein Text über ein weißes deutsches Rentner-Ehepaar und seine Frühstücksroutine bei der Jury ankommen würde. Meine Vermutung war, es würde keinen Mittelweg geben – sie würden ihn entweder lieben oder hassen. Ich nehme an, dass ich gewonnen habe, weil sie dachten, ich hätte einen Text über sie geschrieben. Oder eine Huldigung an Loriot. Nun, es ist nicht meine Aufgabe, sie aufzuklären. Das Genre dieser Erzählung heißt im Englischen nicht umsonst Fiction, glauben Sie mir bloß nicht, wenn ich ich sage. Denn es könnte sein, ich meine Sie.
Sharon: Mein Buch Desintegriert Euch! erschien ...
Max: 2018.
Sharon: Genau. 2018 war mein ursprünglicher Plan, eine Flaschenpost zu schreiben. Kennen Sie das auch? Über kuriose Umwege liest du ein Buch, was vor Jahrzehnten geschrieben wurde und dieses Buch spricht dich an. So als würde es neben dir sitzen, dir am Ohrläppchen zupfen und direkt in die Ohrmuschel summen, knistern, schreien, granteln, flüstern. So ein Buch wollte ich schreiben, um mich erkenntlich zu zeigen für Michal Bodemanns Gedächtnistheater, Hannah Arendts trockene Klarsicht und Eike Geisels Essays. Und vielleicht ein wenig auch, um meinen Teil beizutragen zu diesem Gespräch, Teil zu sein dieser Konversation über Generationen hinweg.
Und dann kam alles ganz anders. Dann wurde die Flaschenpost direkt wieder aus dem Wasser gezogen. Und nun weiß ich nicht mehr genau, wer hier mit wem gesprochen hat.
3. Sequenz: Thesen zur deutschen Literatur
Max: Für eine Konferenz wurde ich einmal gefragt, einige Thesen zur deutschen Literatur aufzustellen. Die Leitfrage war: Was ist deutsche Literatur? Der Versuch einer Antwort führte zu einer Reihe von steilen Thesen. Und die gehen so {1}:
Sharon: EINS. Unser Verhältnis zum Adjektiv »deutsch« kann nicht ohne das Verhältnis der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu diesem Adjektiv verstanden werden. Im Zentrum dieses Verhältnisses steht das fortgeschriebene Kollektiv der Deutschen, welches sich nun aber nicht mehr durch Welteroberungspläne, sondern die Behauptung einer erfolgreichen Überwindung des Nazismus konstituiert. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft hat ihre Antwort auf die Frage, was deutsch ist, also schon lange gefunden. Sie hatte sie vielleicht nie verloren.
Max: ZWEI. Bei der Frage nach dem Wesen der deutschen Literatur handelt es sich demnach nicht um eine Frage, sondern lediglich um eine seit 1945 ewig als Frage formuliert Bestätigung, dass man kein Nazi mehr sei. Dass es sich bei der Frage nach dem Deutschen nicht um eine Frage handelt, lässt sich leicht daran erkennen, dass das Ergebnis niemals lautet, dass das deutsche Begehren nach diesem Adjektiv auch auf eine Kontinuität hindeuten könnte. Die Frage, was nun eigentlich »deutsch« sein soll, ist gar keine Frage, sondern eine Aufforderung zur Bestätigung der post-völkischen Positionierung des Gegenübers.
Sharon: DREI. Unser Verhältnis zum Adjektiv »deutsch« kann nicht ohne das Verhältnis der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu diesem Adjektiv verstanden werden. In diesem Verhältnis werden wir als Minderheit sichtbar. Denn Minderheit ist, wer auf Fragen antwortet, die er oder sie sich nicht selbst gestellt hat.
Max: VIER. Die Vielfalt von Zugehörigkeiten einer pluralen Gesellschaft bedroht die Klarheit der deutschen Selbstdefinition, die eine Notwendigkeit ist nach 1945. Im öffentlichen Diskurs geht es daher nicht um Minderheiten, selbst wenn es scheinbar um Minderheiten geht. Vielmehr haben Minderheiten die Funktion, das Selbstbild der deutschen Dominanzkultur zu bestätigen. Unabhängig von ihrer Intention erfüllt Adjektivkunst wie »jüdische« oder »migrantische« Literatur dabei eine affirmative Funktion.
Sharon: FÜNF. Es ist nicht meine Aufgabe, das Selbstbild der Dominanzkultur zu bestätigen. Es ist nicht meine Aufgabe, zu heilen, zu informieren oder aufzuklären. Es ist nicht meine Aufgabe, Tränen zu trocknen. Meine Geschichte steht nicht zur freien Verfügung. Sie ist Teil der Fiktion.
Max: SECHS. Wenn die Minderheitenposition immer auch eine Affirmation der Dominanzposition bedeutet, dann kann es nicht mehr um die wahrheitsgemäße oder authentische Antwort auf die Frage gehen, was für mich »deutsch« ist und was nicht, ob ich mich hier zuhause fühle oder nicht, ob ich Rassismus- oder Antisemitismuserfahrungen mache oder nicht.
Sharon: SIEBEN. Das Verhältnis zum Adjektiv »deutsch« sollte nicht authentisch, sondern strategisch bestimmt werden: jüdische Deutsche oder deutsche Juden, Integrationsbambi oder Gangster, Get deutsch or die tryin‘, Celan mit der Axt, Kanak Attak, Keine Juden mehr für Deutsche.
Max: Wir sind keine Avantgarde, darum machen wir das nicht alleine.
Sharon: Das heißt, wir umzingeln euch jeder einzeln.
Max: Schrieben wir ein Manifest, lautete seine Präambel:
Sharon: Kompromisse sind der Tod der Kunst.
ZUSAMMEN: Es gibt keine deutsche Literatur. Ohne uns.
4. Sequenz: »Ich war mal bei einer Veranstaltung…«
Sharon: Ich war mal bei einer Veranstaltung und wurde gefragt warum die Frage »Woher kommst Du?« so problematisch sei, man würde sich doch nur für mich interessieren. Da hätte ich gerne zurück gefragt: »Haben Sie eine gute Lebensversicherung?« oder »Hatten Ihre Eltern einen Ariernachweis?« oder »Welche BH-Größe haben Sie?«. Auf ihre Empörung würde ich antworten: aber ich interessiere mich doch auch nur für sie. Aber das wäre gelogen.
Max: Ich war mal bei einer Veranstaltung, da stand eine auf und sagte, also ich weiß, das ist jetzt ein bisschen problematisch, aber ich muss schon sagen, die Juden habens auch mit sich machen lassen. Zu einem Genozid gehören nämlich immer zwei: die, die töten, und die, die sich töten lassen.
Sharon: Ich war mal bei einer Veranstaltung und mein jüngster Sohn, der war damals drei Monate alt oder so, fing an zu weinen. Er war in den Armen von einem guten Freund und hatte Hunger bekommen. Ich nahm meinen Sohn und las weiter für das Publikum, während ich ihn stillte. Es war manchmal etwas kompliziert, die Seiten meiner Novelle zu blättern, aber ansonsten hatten wir beide unsere Ruhe.
Max: Ich war mal bei einer Veranstaltung, da ist einer auf seinem Stuhl eingeschlafen und hat so laut geschnarcht, dass das Publikum lachen musste. Nach der Lesung kam der Mann zu mir und beschwerte sich, dass er nicht alles verstanden hätte. Als ich ihn fragte, ob das auch daran liegen könnte, dass er geschlafen hatte, sagte er nur empört: ich habe nicht geschlafen. Außerdem habe ich heute Geburtstag und das hier war kein schönes Geschenk.
Sharon: Ich war mal bei einer Veranstaltung, da gab es einen Stromausfall. Ich trug meinen Text weiter vor, da ich ihn sowieso auswendig kannte. Nach und nach nahm jede Person einen Zigarettenanzünder heraus und wedelte sie herum, als wären wir auf einem Konzert. Zum Schluss fielen wir uns in die Arme und sangen »Kum-Ba-Yah«.
5. Sequenz: Thesen zur deutschen Literatur II {2}
Max:
Ich schreibe gerne
Ich beziehe Position
Ich trete nach oben (wenn überhaupt)
Ich bin risikobereit
Ich mache Fehler
Sharon:
Ich lerne dazu
Ich bleibe verletzlich
Ich nehme mir die Zeit, die ich brauche
Ich bin Teil einer Community
Ich glaube Dir
6. Sequenz: Kunst
inglourious poets
Aus: Max Czollek, »Grenzwerte« (Verlagshaus Berlin, 2019)
wer ist dieser typ, der nicht geheilt werden will
der blumenläden tauft auf traurige täter
der sträuße weißer lilien, unplugged in amsterdam
der so hungrig ist, der beißt ohne grund
dessen erste regel heißt: nie wieder, die zweite: immer
der sagt, wenn ihr dieses spiel spielen wollt
dann spielen wir dieses spiel
der handydisplays sieht wie lichtsäulen beim parteitag
der ein grabmal errichtet für gefallenen flocken
der euch alle schon mal im letzten leben besiegt hat
der sagt weiter geht’s, ich habe endlos munition
(für j.f.)
wider besseres wissen
ich bin fast am punkt ohne wiederkehr
wenn du gehst, wird:
es stark weh tun. punkt.
im gegensatz zu: wenn du gehst ich:
könnte ein wenig abgelenkt sein … ellipse.
logische überlegungen, jüngste qualitative forschungen und wiederholte erfahrungen zeigen, dass es komplett cishet wäre, wenn ich dir trauen würde
du bist ein mann. deiner art.
du bist ein mann der mich mit bloßen händen töten könnte
während des liebesakts könntest du mein flehen ignorieren und gleichzeitig mein herz nicht brechen hören und du würdest deine hände um meine kehle legen und drücken bis deine finger schmerzen und es kinky nennen
du bist ein mann.
der mir sagt, dass er mich liebt und dem es egal ist ob ich es höre oder fühle und du wirst mich immer erst dann zurückrufen, wenn es fast zu spät ist, weil du es kannst. mitgefühl wird nie deine stärkste eigenschaft sein.
klammer auf.
(eigentlichbinichsoverängstigtichglaubmeinbegrenztesherzkönntemeine
brustdurchbrechenundvordeinefüßefallen) klammer zu.
ich reibe meine schwitzenden hände, denn ich bin ein wenig nervös
aber du nimmst es nicht wahr, weil ich es hinter meinen lustigen, intelligenten witzen und meinem verführerischen körper verstecke
klammer auf. (isteseinbesondersschlimmerfallvonjunglefever? fragezeichen. hashtag! #erwischtesschwarzemännerinweißenländernauch? fragezeichen.) klammer zu.
zwischen den zeilen kannst du nicht, hast nicht gemerkt wie ernst ich es meinte – du hast nach meinem geruch gelüstet. gier ist mehr als ein wort für dich.
du bist.
ein mann – welche art auch immer – der sagt anführungszeichen »vertrau' mir baby« anführungszeichen hätte es beweisen müssen über tage, wochen, monate und jahre hinweg immer und immer wieder
aber, meine liebe,
ein-wort-antworten sind nicht sms sind nicht e-mails sind nicht briefe sind nicht liebevolle geschichten die mir im kerzenlicht vorgelesen werden während ich einschlafe
wichsen ist kein blowjob ist kein quickie ist nicht ein fick ist nicht liebemachen ist nicht das erste mal, dass wir hände halten als du mir in die augen schaust und mir sagst dass du mir eine wichtige frage stellen willst
du bist ein
mann. deiner art. ich wünschte ich wäre du wie einfach es wäre hart zu werden und dann wieder weich zusammenzusacken und die ganze zeit müsste ich nicht drüber nachdenken ob ein moment des – haaa – unverantwortlichen kommens zu neun monaten des bedachten planens führen würde
du
musst nicht wirklich über verhütung nachdenken
du
musst dich nicht sorgen um genderdings, sexismus oder belästigungen
du
kannst tragen was du möchtest und sagen was du willst selbst wenn es suggestiv ist selbst wenn es eine anmache ist selbst wenn es necken ist du würdest es nicht verdienen falls du überfallen wirst nicht mal sexuell es
ist nie deine schuld
du bist die art mann die durch diese welt mit fest geschlossenen augen gehen kann und dem trotzdem menschen auf den rücken klopfen um ihm zu gratulieren ich wäre liebend gerne du ich wäre liebend gerne du ich würde es liebend gerne nur einmal probieren … ellipse.
aber
eine frau. meiner art. bin ich.
mit dem mut zu überwinden
und dem verlangen an deiner seite zu liegen
und der geduld dich in mir wachsen zu fühlen
mich zu befriedigen mit deiner berührung, deinem kuss, deinem sex, deiner intimität –
und während mein vertrauen in dich entfacht (flüchtig und brüchig)
meine angst vor dir stirbt (ein gebrochenes stück nach dem anderen)
und ich gerade zurückgelassen werde mit
– wider besseres wissen und erfahrungen und urteilen und forschungen und mit allen kognitiven funktionen dagegen anschreiend –
bedingungsloser liebe
(Sharon Dodua Otoo - Übersetzung: Joey Bahlsen und Birger Hoyer)
A Love Letter to a Potato
September 11th
You are not that round, you know.
You think you are all that,
but actually, if I didn’t add salt and a little butter, you would taste bland.
Boring. One dimensional and…
Only when you are deep-fried or roasted do you begin to get interesting.
And that’s why I love you.
People think we need Harmony. Peace. Joy. You show me they are wrong.
You say: Heat? BRING IT ON!
You say: What’s the point of being polite?
Ask those awkward questions!
Make up some shady theories!
Claim foreign soils as your own!
Go conquer the world!
And the best bit about it is…
You will always be the innocent one.
I could learn a lot from you, P.
Liebesbrief an eine Kartoffel
11. September
Du bist gar nicht so rund, weißt du.
Du denkst, du bist sonst wie toll,
aber ohne Salz und etwas Butter schmecktest du fad.
Langweilig. Eindimensional und...
Nur wenn du frittiert oder gebraten bist, wirst du langsam interessant.
Und darum liebe ich dich.
Menschen denken, wir brauchen Frieden. Freude. Eierkuchen. Du beweist das Gegenteil.
Du sagst: Hitze des Gefechts? BRING IT ON!
Du sagst: Was bringt euch die Höflichkeit?
Fragt die unangenehmen Fragen!
Erfindet zwielichtige Theorien!
Beansprucht fremde Erden!
Geht die Welt erobern!
Und das beste daran ist...
Du wirst immer unschuldig sein.
Ich könnte viel von dir lernen, K.
(Sharon Dodua Otoo – Übersetzung: Max Czollek)
{1} Die Thesen wurden von Max Czollek und Necati Öziri im Rahmen der Textland-Konferenz 2018 in Frankfurt am Main präsentiert. Die hier vorliegende Version wurde für den Vortrag aktualisiert und überarbeitet.
{2} Die Thesen wurden von Sharon Dodua Otoo im Rahmen der Textland-Konferenz 2018 in Frankfurt am Main präsentiert.