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Robuste Herzen

Das Meer; groß, weit und stürmisch. Genauso ist es um Katjas Gefühlswelt bestellt, als sie ihren Ehering in die Fluten wirft. Wie oft beginnt unsere Zukunft? Bei wem ankern wir und was bedeutet Familie wirklich? Die eng verbundenen Lebensgeschichten der Geschwister Katja, Milena und Leon erzählt Volker Jarck auf tief berührende Weise – einige Zeilen können Sie in diesem Beitrag genießen.

Volker Jarck sitzt vor dem Meer. Er trägt einen dunklen Pullover und schaut freundlich in die Kamera
© Marion Koell

Leises Klirren von Metall auf Stein. Der Ehering war nicht sehr weit geflogen, er musste nah am schlickigen Ufer zwischen den Felsen am Fuß der Böschung liegen.
Soll er verrotten.
Sie war sonst nie hier draußen. Nicht allein, nicht um diese Zeit. Sie hatte nie unterm Vollmond den Weg der Wellen verfolgt, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Nie den Ring vom Finger genommen, um ihn irgendwo hinzuschmeißen. Als ihre Nase zu laufen begann, nahm Katja die Hände nicht aus den Jackentaschen. Viel zu kalt.
Ablaufend Wasser. Tag für Tag wich der breite Fluss von seinem südlichen Ufer zurück, als hätte er auf der anderen Seite einen Termin, den er nicht versäumen durfte. Die Ebbe, die Flut, der Strom und sein Bett: sehr alte Verbündete der Gezeiten. Mit Stern, Planet, Trabant stieg das Wasser und fiel wieder, nach seinem eigenen Kalender, und brauchte keine Erinnerung.
Taschentücher hatte Katja nicht dabei.
Wenn die ersten Menschen am Morgen zum Hafen kämen – Lieferanten, Spaziergänger, der Abiturient, der mit Steigerungsläufen für die Aufnahmeprüfung an der Sporthochschule trainierte – , dann würde Ebbe herrschen, und in den Prielen würde glitzern, was vom Wasser zurückgeblieben war. Dann würde Rolf Kuntze die sehnigen Füße ins Watt setzen, einen nach dem anderen, die Turnschuhe zusammengeschnürt um den Nacken gehängt, und durch den kühlen Schlick waten wie an jedem Freitag seit 1980. Die Zeit schlug hier nur sachte Wellen.
Nach 43 Lebensjahren blinzelte Katja nun auf den Fluss hinaus wie auf ein lange verdecktes Gemälde im Museum. Er trug die Farben der Nacht, er war die Ruhe selbst. Und sie ­atmete sehr tief durch die Nase, wünschte sich, dass der Wind etwas freundlicheres Wetter über den Deich in die Stadt tragen möge. Vor wenigen Stunden hatte der Frühling begonnen, meteorologisch. Und ihr Mann hatte Katja aus der Bahn geworfen, beispiellos.
Das Smartphone auf der Bank vibrierte mit Xylophon.
Es war nicht mehr auf lautlos gestellt seit dem ersten Schlaganfall ihrer Mutter, an einem diesigen Abend im Spätherbst, den Katja und Jan bei Freunden mit Brettspielen verbracht hatten. Irgendwann klingelte Katjas kleine Schwester Milena an der Tür und sagte mit ihrem halb abgeklärten, halb genervten Gesichtsausdruck: »Dachte mir, dass ihr hier seid. Kommst du, Katschi, wir müssen ins Krankenhaus. Mama.«
Das lag nun schon ein paar medizinisch unbesorgte Jahre zurück; wenn aber einer um diese ungewöhnliche Uhrzeit wie selbstverständlich etwas simste, dann war es meistens Leon, der Nachtmensch. Katjas Bruder, der viel länger ›Ende dreißig‹ zu bleiben schien, als es ihr selbst gelungen war, schickte in unregelmäßigen Abständen Berliner Schnappschüsse, aufgenommen an Imbissbuden oder aus dem fahrenden Rettungswagen, in dem er als Sanitäter auf dem Beifahrersitz saß. 
pause mit pommes, schrieb Leon beispielsweise unter ein Imbiss-Selfie. herrlich fettig. Oder aber fraktur im finsteren friedrichshain, wo ein zerbeultes Fahrrad im Laternenlicht der Warschauer Straße lag. vergleichsweise glimpflich. In dieser Nacht hängte er ein Foto von sich selbst an, grimassierend, mit einem Ding auf dem Kopf, an dem so etwas wie zwei Hasenohren baumelten. Im Hintergrund der Nachthimmel über der Glaskuppel des Hauptbahnhofs. Sonst nichts, kein Begleittext.
Katja klickte die Nachricht weg, tippte auf das Kamera­symbol und richtete die Linse auf den Fluss. Mehr als das ­unscharfe Positionslicht eines Containerschiffs würde man auf einem Foto nicht erkennen können. Sie drückte auf den Auslöser, ohne dass sie hätte erklären können, was genau sie hier für später festhalten wollte. Vom alten Turm, weit draußen vor der Hafeneinfahrt, huschte ein Leuchtfeuer zum anderen Ufer.
Ich kann doch nicht hier sitzen bleiben, überlegte Katja, bis in zwei Stunden die Sonne aufgeht und so tut, als wäre nichts gewesen. Ich kann doch nicht einfach hier sitzen und frieren und mir leidtun. Und ich kann meinen Ring nicht da unten im Wasser liegen lassen. Seinen Ring. Unseren.
Sie wusste nicht, wie viele Minuten vergangen waren, als ihr Bruder seinem Hasen-Selfie plötzlich doch noch einen Text hinterherschickte. Nur ein Wort, ohne Erklärung, dafür mit drei Ausrufungszeichen: überraschung!!! Typisch Leon.
Ein Gähnen fuhr ihr durch alle Glieder, sie merkte, wie sie zitterte, und stand auf. Tastete sich vor über die glitschigen Felsen, drei, vier Meter bis zum Watt. Neben einem Streifen Möwenscheiße: der Ehering im feuchten Sand. Katja bückte sich und griff danach, um ihn in die Hosentasche zu stecken, sie schwankte kurz, als sie sich wieder aufrichtete.
In der Ferne türmte sich jetzt erkennbar schlechtes Wetter auf. Und weil er für sie nie verstummt war, hörte Katja wie früher und wie immer die Stimme ihres Großvaters unter plötzlich verdunkeltem Himmel:
»Dat gifft Regen. Af no Huus.«
Ja, verdammt, ab nach Hause. Die Hoffnung auf ein paar Stunden Schlaf, das war es, was blieb von diesem unsagbar langen Abend. Etwas fauchte durch die Reste der Dunkelheit, und Katja nahm sich vor, zumindest ein kleines bisschen unverwüstlich zu bleiben.
Für den Heimweg und alles, was noch kommen mochte, nahm sie einen tiefen Atemzug.

Ausschnitte aus »Robuste Herzen«, S. 15–28.

Volker Jarck über seinen neuen Roman 'Robuste Herzen'
 
In meinem neuen Buch geht es um die Heimat als den Ort, an dem das Herz ein Zuhause hat; darum, wie man am liebsten alt werden und für welche Träume man die vertrauten Pfade verlassen möchte – »Robuste Herzen« ist ein Roman über die Gezeiten des Lebens.
 
Tallstedt, der Schauplatz, ist fiktiv, hat aber verdammt viel Ähnlichkeit mit meiner Heimatstadt. Zumindest hat es sich so angefühlt, als ich die Geschichte in Köln begonnen und nach einem meiner diversen Umzüge schließlich in Otterndorf beendet habe. Nun wohne und schreibe ich also (wieder) da, wo meine Familie lebt, wo ich vor fast 50 Jahren geboren wurde, in der oft nasskalten Idylle, deren Menschen, Natur und Dialekt für mich so etwas wie Heimat sind. 
 
Mir geht es wie den nicht mehr ganz jungen Figuren in »Robuste Herzen«: Solange Ebbe und Flut sich ablösen, solange die Luft nach Salz und Wehmut riecht, möchte ich niemals allzu lange verzichten auf die Spaziergänge am Deich, auf den Blick übers Watt Richtung Nordsee. Den Kopf in den Wind halten ist gut fürs Herz.

Wie oft beginnt unsere Zukunft?

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»Volker Jarcks große Kunst besteht darin, das Große und Schwere des Lebens ganz leicht erzählen zu können und das Leichte ganz großartig«, schreibt die Frankfurter Neue Presse über den 1974 geborenen Autor. Volker Jarck hat im Buchhandel gejobbt, in Bochum Literatur studiert und Theater gespielt, in Frankfurt am Main und ...

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